Von Sascha Fijneman
In Zeiten des demographischen Wandels ist Altenpflege ein zentrales gesellschaftspolitisches Thema. Während die Branche – nicht nur in Dortmund – dringend qualifizierten Fachnachwuchs benötigt, sind immer mehr ältere Menschen auf gute Pflegeangebote angewiesen. Die Arbeit mit alternden Menschen umfasst weit mehr Aufgaben als das Waschen, Füttern und Versorgen. Neben einem gehörigen Anteil an Eigenengagement der Angestellten und Azubis ist hier vor allem die Politik gefragt, die Pflegeberufsausbildungen attraktiver zu gestalten.
In der Altenpflege ist neben Fachwissen vor allem Alltagskompetenz gefragt
Aus diesem Grund gab es, passend zum Tag der Pflege, einen von der Freien Wohlfahrtspflege NRW und dem AWO-Bezirk Dortmund in Kooperation mit verschiedenen Partnern organisierten Dialog zwischen VertreterInnen der Politik und rund 150 Auszubildenden in Pflegeberufen aus Dortmund und Umgebung.
„Pflegeberufe haben einen enorm menschlichen Aspekt. Es geht nicht nur um das Motto „satt und sauber“, sondern die Angestellten müssen auch über ein gehöriges Maß an Alltagskompetenzen verfügen“, erläutert Christian Heine-Göttelmann von der Diakonie Ruhr-Westfalen-Lippe die Intention der VeranstalterInnen.
Die öffentliche Wahrnehmung trage gehörig zum schlechten Image der Pflegeberufe bei. Überstunden, Wochenenddienste, starke geistige und körperliche Belastung seien Begriffe, die in der deutschen Öffentlichkeit unmittelbar mit den Pflegeberufen verknüpft seien. Schon innerhalb Europas schwanke die Wertigkeit und gesellschaftliche Anerkennung stark.
Eine gute Pflegeausbildung benötigt mehr öffentliche Mittel zur Refinanzierung
Während in Deutschland noch immer das Gespenst der getakteten Minutenpflege umhergeistere und Altenpflege auf Windelwechseln und Füttern reduziert würde, sei man beispielsweise in Norwegen schon einige Schritte weiter und habe eine gesellschaftliche Akzeptanz und Wertschätzung erreicht.
Außerdem müsse man ein Auge darauf haben, wie sich der technologische Fortschritt in den Pflegeberufen manifestiere, denn es gelte diesbezüglich ethische Fragen zu klären. Es bestünde die Gefahr, dass der menschliche Aspekt der Pflegeberufe durch eine Art Pflegeroboter ersetzt würde.
„Das Thema muss gesellschaftlich wahrgenommen werden. Wir müssen uns das System insgesamt anschauen und verbessern“, betont Heine-Göttelmann, zugleich Vorsitzender der LAG Freie Wohlfahrtspflege NRW. Eine gute Pflegeausbildung benötige schlicht und einfach mehr öffentliche finanzielle Mittel.
Die generalistische Ausbildung der Alten- und Krankenpflege hat Vor- und Nachteile
Das sehen auch die VertreterInnen der verschiedenen Parteien so. Peter Preuß vertrat die CDU, Nadja Lüders die SPD. Für die FDP war Susanne Schneider vor Ort und Mehrdad Mostofizadeh für Die Grünen. Alle vier sitzen im Landtag NRW.
Für Peter Preuß gibt es „eine Menge zu tun“. Im Rahmen der generalistischen Ausbildung in Alten- und Krankenpflege, müsse man über eine Neufinanzierung der Altenpflegeschulen nachdenken, die bisher vom Land NRW gefördert werden.
Hierfür sei die Gründung einer landes- oder bundesweiten Pflegekammer als leitendem Organ denkbar. Generalistische Ausbildung bedeutet die Zusammenführung der drei bisherigen Pflegefachberufe Altenpflege, Gesundheits- und Krankenpflege und Gesundheits- und Kinderkrankenpflege.
Für Nadja Lüders steht neben der finanziellen Problematik vor allem die Anerkennung des Jobs im Vordergrund. Die Altenpflege würde in der Öffentlichkeit nicht als „heilend“ anerkannt, wie etwa die Krankenpflege. Deshalb sieht sie die von der Großen Koalition eingeführte generalistische Ausbildung als Problemfaktor, denn es sei zu befürchten, dass wesentlich mehr junge Menschen eine Laufbahn in der Krankenpflege als in der Altenpflege einschlagen würden.
Alternative Pflegemöglichkeiten dürfen nicht abgeschafft werden
Für Susanne Schneider liegt der Fokus auf der Unterstützung der Pflegenden. Sie tritt für eine Stärkung der einjährigen Ausbildung zur/m AltenpflegerhelferIn ein, um die nach drei Jahren ausgelernten Fachkräfte zu entlasten.
Mehrdad Mostofizadeh macht trotz aller Probleme darauf aufmerksam, dass die Zahl der Auszubildenden in den Pflegeberufen in den letzten Jahren kontinuierlich zugenommen hat. Er selbst ist stolz auf seine Laufbahn in dieser Branche und empfindet die öffentliche Wertschätzung nicht so dramatisch schlecht wie seine Kollegen.
Aber auch ihm ist es wichtig, dass die Finanzierung der Ausbildung neu geregelt werden muss. Alternative Pflegemöglichkeiten dürften nicht abgeschafft werden. Immerhin würden 70 Prozent der Pflegebedürftigen zuhause gepflegt.
Zwei Drittel der Befragten sind unzufrieden mit ihrer Ausbildung
Nachdem die politischen VertreterInnen ihre einleitenden allgemeinen Positionen bezogen hatten, startete der eigentliche Dialog. Moderator Tom Hegermann von Radio 91.2 stellte die simple Frage: Wie gefällt Dir Deine Ausbildung? Via Handy-App konnten die 150 Auszubildenden nun ihre Stimme abgeben.
Das erschreckende – aber nicht überraschende – Ergebnis wurde in Echtzeit via Projektion präsentiert. Zwei Drittel der Befragten waren der Meinung, dass ihre Ausbildung schlechter ist, als sie sich vorgestellt hatten.
„Ich sehe das Problem hier weniger bei den zu niedrigen Ausbildungsvergütungen“, so Peter Preuß. „An erster Stelle steht für mich die Verbesserung der Arbeitsbedingungen zur Entlastung des Einzelnen. Außerdem werden die Vergütungen von den Tarifpartnern festgelegt. Die Politik hat hier nur die Möglichkeit, denjenigen, die nach Tarif gut bezahlen, optimale Refinanzierungsmöglichkeiten zu bieten.“
Ausbildungsvergütungen in der Altenpflege müssen attraktiver werden
Ihm schwebt die Lösung vor, dass Bund, Länder und Kassen generalistisch refinanzieren. Denn durch die Erhöhung der Pflegeversicherungsbeiträge sei eine automatische Anpassung der Ausbildungsvergütung nicht gewährleistet.
Nadja Lüders hält hingegen eine Erhöhung der Pflegeversicherungsbeiträge unter dem Motto „Gute Pflege gleich gute Löhne“ zur Finanzierung der Vergütungen für denkbar. Es gäbe hier nur die zwei Möglichkeiten – entweder die Beiträge zu erhöhen oder eine Pflegesteuer einzuführen.
Mehrdad Mostofizadeh stimmt ihr zu und befürwortet die Steuerfinanzierung durch den Bund. Susanne Schneider vertritt hinsichtlich der generalistischen Ausbildung den Standpunkt, gleiche Ausbildung sollte auch mit gleicher Entlohnung vergütet werden.
Auszubildende werden oft wie vollwertige MitarbeiterInnen eingesetzt
Die zweite Frage, die Moderator Tom Hegermann dem Publikum stellte lautete: Würden Sie noch einmal eine Pflegeausbildung beginnen? Rund 50 Prozent der Befragten beantwortete diese Frage mit ja. Allerdings war auch ein Drittel davon überzeugt, die falsche Wahl getroffen zu haben.
Neben der körperlichen und geistigen Belastung machen den Betroffenen verschiedene Probleme zu schaffen. So beschwerten sich viele, dass man ihre Ausbildung eigentlich gar nicht als solche bezeichnen könne. Sie müssten im Arbeitsalltag Aufgaben übernehmen, die eigentlich ausgebildetem Fachpersonal vorbehalten sein sollten. Sie fühlen sich ausgenutzt und verheizt.
Die Praxisanleiter hätten in der Regel sehr wenig Zeit. Außerdem vermissen sie hier eine bundesweite Einheitlichkeit. So gelten in Bayern beispielsweise andere Regeln im Personalmanagement als in Nordrhein-Westfalen.
Das Thema Demenz erfordert ständige Fort- und Weiterbildung
Ein weiteres Problem besteht in der Tatsache, dass viele Pflegeunternehmen auf Leiharbeiter zurückgreifen. Diese können durch zeitliche Befristungen keine Beziehungen zu den PatientInnen aufbauen.
Gerade im Bereich der Demenz ist dies aber zwingend erforderlich, um den SeniorInnen gerecht zu werden. Außerdem ist hier eine ständige Fort- und Weiterbildung erforderlich, um die neuesten Erkenntnisse der Forschung in die Arbeit aufzunehmen.
Mehrdad Mostofizadeh vertritt die Ansicht, dass durch die Haushaltsüberschüsse von Bund und Ländern genug Geld für mehr und gut ausgebildetes Fachpersonal da ist. Susanne Schneider möchte die einjährige Ausbildung zur/m AltenpflegerhelferIn fördern, denn diese reiche vollkommen aus, um viele Pflegetätigkeiten ausüben zu können. So würden die Fachkräfte weiter entlastet.
Für Nadja Lüders leidet die Wertigkeit des Jobs unter der einjährigen Ausbildung. Die öffentliche Wahrnehmung würde hierdurch weiter ins Negative gerückt. Sie warnt vor den Problemen, die eine Akademisierung der Pflege mit sich bringen kann, denn Führungspositionen seien begrenzt.
Gute Pflegearbeit braucht eine gute Work-Life-Balance
Die letzte Frage, die Hegermann dem Publikum stellte war: Was braucht die Pflege? Das interessante Ergebnis war, dass Geld nicht an erster Stelle auftauchte. Hier stand das Thema Zeit eindeutig im Vordergrund, gefolgt von Geld und Herz.
Und mit Zeit sind nicht nur Überstunden und Freizeit gemeint. Es geht vor allem auch darum, Zeit für die PatientInnen zu haben. Die getaktete Minutenpflege ist sowohl für PatientIn als auch PflegerIn eine enorme körperliche und geistige Belastung. Die Politik ist sich einig, dass die genannten Probleme bestehen und angepackt werden müssen.
Sie verweist auf die zeitgemäße Notwendigkeit der innovativen Unternehmensführung mit flexiblen Arbeitszeitmodellen und einem Ausgleich zwischen Familie und Beruf, Arbeit und Freizeit. Hierdurch kann die Zufriedenheit im Personalstamm enorm gesteigert werden. Und das ist bitter nötig denn: Wenn sich die Rahmenbedingungen im Berufsfeld der Altenpflege nicht in absehbarer Zukunft ändern, würden 73 Prozent der Befragten den Beruf wechseln.
Investitionen der Privatwirtschaft sind zwingend notwendig um die Nachfrage abzudecken
Der Vorstellung eines entkommerzialisierten Gesundheits- und Pflegewesens stehen die Politikerinnen skeptisch gegenüber. Die Investitionen der Privatwirtschaft seien laut Peter Preuß notwendig, um überhaupt ein ausreichendes Pflegeangebot aufstellen zu können. Und da wir nun einmal in einer kapitalistischen Marktwirtschaft leben, werden diese Unternehmen auch in Zukunft gewinnorientiert arbeiten.
Auch Susanne Schneider tritt für die Privatinvestoren ein, indem sie darauf verweist, dass in den gewinnorientierten Betrieben, die Mitarbeiterzufriedenheit am höchsten sei. Da finanzielle Regulierungen bereits bestünden, setzt Mehrdad Mostofizadeh diesbezüglich auf bessere Kontrollen, um Pflege bezahlbar zu halten und gerechte Vergütungen zu zahlen.
Man müsse definieren, was Standardleistungen und Zusatzleistungen seien und festlegen, was die Gemeinschaft solidarisch zu tragen hat. Außerdem verweist er auf eine gewisse Einzelverantwortung bezüglich der privaten Vorsorge.
Die Betroffenen blicken verunsichert in eine ungewisse Zukunft
Die Stimmung am Ende der Veranstaltung war doch eher gedrückt. Gerade hinsichtlich der generalistischen Ausbildung, die sich in der Praxis erst noch bewähren muss, machen sich die Betroffenen große Sorgen.
Für die Politik besteht also akuter Handlungsbedarf, um ihnen ihre Zukunftsängste zu nehmen und ihre Arbeits- bzw. Ausbildungsbedingungen zu verbessern. Das gesamtgesellschaftliche Thema sollte politisch in die Öffentlichkeit getragen und die Pflegeberufe seriös beworben werden.
Auch muss weiter über gerechte und angebrachte Entlohnung diskutiert werden, um den Berufszweig attraktiver zu machen. Hier kann die Politik helfen. Innovative Unternehmensführung zur besseren Zufriedenheit der MitarbeiterInnen liegt in der Verantwortung der jeweiligen Unternehmen.
Den Betroffenen ist zu wünschen, dass Politik und Zivilgesellschaft ihre Probleme wahrnehmen und sie anpacken und sie endlich die gesellschaftliche Anerkennung bekommen, die sie aufgrund ihrer Tätigkeit verdienen.