„Kinder in der Nordstadt sind genauso schlau wie anderswo“ – Aber: Bedarf an Sprachtherapien steigt auch hier weiter an

Sprachtherapeutin Elisabeth Richter in ihrer Praxis in der Missundestraße.
Sprachtherapeutin Elisabeth Richter in ihrer Praxis in der Missundestraße. Fotos: Ole Steen

Von Heike Becker-Sander 

Eltern, die mit ihren Kindern zu wenig oder fast gar nicht sprechen, Vorschulkinder, die nur vor dem Fernseher oder dem Kinder-Tablet hocken und sich stundenlang von quäkenden Trickfilm-Figuren unterhalten lassen – das sind nur zwei Szenarien, die bei Jungen und Mädchen den Weg zu einer Sprachstörung bereiten können. Auch schlechtes Hören, oft hervorgerufen durch angeborene Defekte oder den Folgen von Mittelohrentzündungen, kann dazu führen, dass Kinder nicht richtig Sprechen lernen oder einzelne Laute falsch gebrauchen.

Eltern sollen mehr mit Kindern reden und ihnen vorlesen

Elisabeth Richter (54), seit 30 Jahren in der Sprachtherapie tätig und seit elf Jahren mit eigener Praxis an der Missundestraße in der Nordstadt, sieht zunehmenden Bedarf für fachliche Hilfestellung schon weit vor der Einschulung. Denn: „Gerade bei den Kleinen kann man noch ganz viel machen“, ist ihre Erfahrung.

Doch oft wird der Weg zur Therapie unnötig spät beschritten. Erst in der Kita oder manchmal auch bei der Einschulung werden die Anzeichen für eine Sprachstörung so unüberhörbar, dass den Eltern der Weg zum Kinderarzt empfohlen wird.

„Und nicht alle Eltern reagieren dann sofort“, weiß Elisabeth Richter, die eine Ausbildung als Diplompädagogin und Sprachtherapeutin hat. Es kann dann noch einmal längere Zeit dauern, bis die erforderlichen Schritte eingeleitet und das Kind einem Arzt vorgestellt wird.

Die Wahl der Sprache ist für das Sprechen und Vorlesen zweitrangig

Sprachtherapeutin Elisabeth Richter in ihrer Praxis in der Missundestraße.
Sprachtherapeutin Elisabeth Richter

Unter den kleinen KlientInnen, die in die Praxis in der Nähe des Nordmarktes zur Sprachtherapie kommen, sind rund 80 Prozent aus Migrantenfamilien. „Allerdings geht es dann nicht vordergründig darum, wie gut das Kind Deutsch spricht“, erklärt Elisabeth Richter. „Kinder, die schlecht sprechen, können es meist auch in der Muttersprache nicht besser.“

Deshalb sollten Eltern, die die deutsche Sprache nicht oder noch nicht gut gebrauchen können, mit den Kindern lieber in der Muttersprache reden oder ihnen auch vorlesen. „Hauptsache, das Kind bekommt schon früh ein Gefühl und ein Gehör für Sprache.“

Eine Faustregel für die Eltern der kleinen Sprachanfänger hat die Therapeutin auch: „Zweijährige Kinder sollten mindestens fünfzig verschiedene Wörter kennen und Zwei-Wort-Sätze bilden können – egal, in welcher Sprache.“

Verordnungen werden oft nicht verlängert – Therapeutin fordert mehr Unterstützung der Ärzte

Häufig kommen die betroffenen Kids erst mit vier oder fünf Jahren zur Sprachtherapie. „Auch dann gibt es noch viele Möglichkeiten zu helfen.“ Aber: „Es  dauert dann meist etwas länger.“

Und genau an diesem Punkt wünscht sich Elisabeth Richter mehr Unterstützung – vor allem  von Seiten der behandelnden Ärzte. „Oft zeigen sich gerade die ersten Erfolge, Kind und Eltern freuen sich über die Fortschritte – und dann wird die Verordnung für die Sprachtherapie nicht mehr verlängert.“ Frustration nicht nur für die Therapeutin.

Früher, so berichtet die 54-Jährige, war es durch die Deckelung der Budgets für die Ärzte oft schwierig, mehr Therapie zu verordnen. „Das ist seit Anfang 2017 wesentlich besser durch eine neue Heilmittelverordnung geregelt. Aber verändert hat sich in der Praxis trotzdem nichts.“

Für Dr. Sigurd Milde, langjähriger Kinderarzt in Scharnhorst und Moderator des Medizinischen Qualitätszirkels für Dortmund, stellt sich das Problem anders dar. „Für die Verordnung von Sprachtherapie gilt der Heilmittelkatalog. Und der schreibt vor, wann eine Therapie beginnt und wann sie endet.“

„Kinder sollen eine Sprachtherapie bekommen, wenn es notwendig ist“

Sprachtherapie: Eine vermutete krankhafte Störung gerade bei Migrantenkindern ist oft einfach nur ein Mangel an Deutschkenntnissen.
Sprachtherapie: Eine vermutete krankhafte Störung gerade bei Migrantenkindern ist oft einfach nur ein Mangel an Deutschkenntnissen.

Für ihn gilt jedoch auch: „Kinder sollen eine Sprachtherapie bekommen, wenn es notwendig ist.“ Aber eine Sprachstörung müsse auch medizinisch begründet sein. So sei eine vermutete krankhafte Störung gerade bei Migrantenkindern oft einfach nur ein Mangel an Deutschkenntnissen.

„Ein Kind, das erst seit sechs Monaten hier ist, spricht natürlich unsere Sprache noch nicht.“ Ein Defizit, das über die entsprechende Sprachförderung aufgearbeitet würde. Anders sei es, wenn Jungen und Mädchen auch in ihrer Muttersprache bestimmte Fehler in der Aussprache oder andere Auffälligkeiten zeigten. Dann sei eine Therapie auf jeden Fall angezeigt.

Sigurd Milde plädiert aber auch dafür, die Erziehungsberechtigten nicht aus der Verantwortung zu entlassen. „Wenn die Kinder nicht gut sprechen, sind auch die Eltern gefordert.“

Kindergärten entdecken Probleme oft als erste – Zusammenarbeit mit Eltern ist wichtig

Eine Problematik, der auch Elisabeth Richter bei ihrer Arbeit häufig begegnet. „Oft gibt es eine regelrechte Sprachlosigkeit in den Familien. Da ist es für Kinder nahezu unmöglich, richtig Sprechen zu lernen.“

Ein Phänomen, mit dem sich auch die Fachkräfte in den Kindertageseinrichtungen auseinandersetzen müssen. Aus den Kitas und Kindergärten kommen oft die ersten Hinweise, wenn sich mögliche Sprachstörungen zeigen.

So gibt es zum Beispiel bei mehr als der Hälfte der städtischen FABIDO-Kindertageseinrichtungen speziell geschulte Kräfte, die sich um die Sprachbildung und –förderung der Kleinen kümmern. „Hier wird  zunächst ausgelotet, was ein Kind kann und was nicht. Danach ist eine gezielte und individuelle Förderung möglich“, erklärt Heike Klocke-Knäpper, Fachreferentin für Tageseinrichtungen für Kinder bei FABIDO.

Überzeugungsarbeit bei den Eltern: Sie müssen die Vorteile einer Therapie erkennen

Erst, wenn diese Förderung nicht greift, wird zusammen mit  den Eltern beraten, ob ein Arzt konsultiert werden sollte, um entsprechende Sprachtherapien einzuleiten. Die Elternarbeit, so Heike Klocke-Knäpper, sei auch hier sehr wichtig. „Manche Eltern brauchen länger, um die Vorteile einer Sprachtherapie zu erkennen. Da muss man immer wieder Überzeugungsarbeit leisten.“

Diese Überzeugungsarbeit ist auch für die Nordstadt-Sprachtherapeutin ganz wichtig: Bei Eltern und bei Ärzten. Elisabeth Richter: „Ich will einfach darauf aufmerksam machen, dass man mit Sprachtherapie soziale Ungleichheiten ausgleichen kann.“

Sie verweist auf eine Erfolgsquote, die aktuell bei 80 Prozent liegt. „Denn hier gibt’s genauso viele schlaue Kinder wie in anderen Dortmunder Stadtteilen.“

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