Die Probleme der Zuwanderung und der neue Antiziganismus überfordern auch die deutschen Sinti- und Roma-Vereine

Podiumsdiskussion: Diskriminierung von Sinti und Roma
Eine Podiumsdiskussion über die Diskriminierung von Sinti und Roma gab es in der AGNRW. Fotos: Alex Völkel
Roma in der Mallinckrodtstraße Dortmund
Das Café Plovdiv, Sinnbild der Zuwanderung in der Nordstadt.

„Wir sind von dem Thema genauso erschlagen worden wie die Mehrheitsgesellschaft“, räumt Merfin Demir ein. „Das Thema“ – gemeint ist damit der Zuzug von Menschen aus Südosteuropa und die Diskriminierung von Roma.

Deutsche Verbände müssen sich um Zuwanderer kümmern

Demir ist Geschäftsführer einer interkulturellen Jugendorganisation für Roma und Nichtroma in NRW. Eigentlich kümmert sich der noch junge Verein um die Identitätsfindung und Stärkung von deutschen Sinti und Roma. „Doch jetzt müssen wir Ansprechpartner sein für Fragen, wo wir explizit nicht kompetent sind“, berichtet er in der Auslandsgesellschaft NRW.

Damit steht Demir nicht allein: Auch Ilona Lagrene, Vorstandsmitglied des Landesverbandes Deutscher Sinti und Roma in Rheinland-Pfalz, und Oswald Marschall, Vorsitzender des Vereins Deutscher Sinti in Minden, teilen dasselbe Problem und dieselbe Herausforderung. Sie fühlen sich genötigt, für die aus bitterer Armut geflüchteten Roma aus Bulgarien und Rumänien Partei zu ergreifen. Weil sie es wollen. Aber vor allem auch, weil die Mehrheitsgesellschaft sie Rede und Antwort stehen lässt. Weil sie doch auch „zu denen“ gehören – „irgendwie“.

Roma aus Südosteuropa dienen oft als Sündenbock

Podiumsdiskussion: Diskriminierung von Sinti und Roma
Ilona Lagrene kritisiert die alten und neuen Vorurteile gegenüber Sinti und Roma.

So jetzt auch in Dortmund: Der Planerladen, Bodo E.V. und die Auslandsgesellschaft Nordrhein-Westfalen haben sie zum Thema Alltagsdiskriminierung von Sinti und Roma eingeladen. Die von Bastian Pütter moderierte Veranstaltung in der Nordstadt gibt es, weil es viele Probleme mit und durch die Zuwanderung gibt. In Dortmund ist das Thema omnipräsent – der so genannte „Schwarzarbeiterstrich“ auf der Mallinckrodtstraße ist das augenfälligste Beispiel. Doch nicht selten müssen die Roma als Sündenbock herhalten. Denn die Probleme gibt es nicht, weil sie Roma sind, sondern weil es so große Armut gibt.

Doch genau diese neuen Vorurteile und Schuldzuschreibungen machen den alt-eingesessenen deutschen Sinti und Roma zusätzlich zu schaffen: „Die Überlebenden des Holocaust hatten Angst. Sie wollten auch nach Kriegsende nicht, dass die Menschen auf sie aufmerksam werden“, berichtet Ilona Lagrene aus dem eigenen Familienleben. Dass auch „die Zigeuner“ Opfer der Nazis wurden, fiel jahrzehntelang unter den Tisch. Dabei fielen rund 500.000 Sinti und Roma der Mordmaschinerie der Nazis zum Opfer. Nur ganz wenige Angehörige von Lagrene haben Auschwitz und andere KZ überlebt. „Doch durch die Zwangssterilisation wirkt der Genozid bis heute nach.“ Die Opfer von einst hätten sich bis in die 80er Jahre gedulden müssen, bis sie eine Wiedergutmachung erhielten: „Das hat fast keiner mehr erlebt“, berichtet Marschall.

Vielen deutschen Sinti und Roma fehlt das Selbstbewusstsein

Podiumsdiskussion: Diskriminierung von Sinti und Roma
Oswald Marschall erinnerte an den jahrzehntelangen Kampf der Opfer um eine Entschädigung,

Nur 8.000 von 33.000 deutschen Sinti und Roma überlebten die Verfolgung. „Das kollektive Gedächtnis eines Volkes stand kurz vor der Auslöschung“ erklärt Demir. Umso wichtiger sei es, dass sich die jungen Sinti und Roma mit ihrer eigenen Identität befassten. „Sie haben ein negatives Selbstbild“, erklärt Demir. Daher arbeite sein Verein an einem positiven Selbstbewusstsein der jungen Menschen.

Durch die Armutszuwanderung wird dies nicht gerade einfacher: Alte Vorurteile werden neu gepflegt. Antiziganismus belaste das Alltagsleben. Dabei seien die deutschen Sinti und Roma doch eigentlich nur eine anerkannte Minderheit wie auch die Friesen oder Sorben, findet Ilona Lagrene.

Jetzt sehen sie sich mit neuen Herausforderungen konfrontiert. Denn die Roma aus Südosteuropa verlassen in höchster Not ihre Heimatländer: Diskriminierung ist an der Tagesordnung. Sie lebten häufig in Ghettos. Ihre Kinder würden vielerorts automatisch als Sonderschüler eingestuft und in Schulen zweiter Klasse eingeschult. „Das ist eine institutionelle Diskriminierung. Damit produziert man die Arbeitslosen der Zukunft“, empört sich Merfin Demir.

EU soll soziale Fragen lösen und Diskriminierung beenden

Podiumsdiskussion: Diskriminierung von Sinti und Roma
Merfin Demir engagiert sich für ein positives Miteinander von Roma und Nichtroma.

Alle Gesprächspartner sehen daher die EU in der Pflicht. Doch es passiere nichts oder zu wenig. Selbst die EU-Fördermittel würden von den Herkunftsländern der Roma nicht abgerufen. Weil das Verfahren zu bürokratisch sei oder die eigenen Mittel zur Co-Finanzierung fehlten. Von Misswirtschaft und Korruption ganz abgesehen. Die Menschen sehen daher keine andere Möglichkeit, als ihre eigene Heimat zu verlassen. Sie stranden dann in Dortmund, Duisburg oder anderen deutschen Orten. „Sie glauben, dass sie dann in das gelobte Land kommen“, berichtet Lagrene. „Doch sie kommen auch hier kaum aus dem Teufelskreis heraus.“ Denn auch in Deutschland sehen sie sich mit alten Problemen und neuen Anfeindungen konfrontiert.

Podiumsdiskussion hatte keine Lösungen parat

Doch was kann man gegen diese Alltagsdiskriminierung machen? Da müssen leider alle drei Gäste passen. Die Veranstaltung in der Auslandsgesellschaft weist auf viele Probleme hin. Doch Lösungen – gerade für den alltäglichen Umgang mit Vorurteilen und Antizganismus – haben sie nicht zu bieten. Sehr schade. Nicht wenige der zahlreichen Zuhörerinnen und Zuhörer hatten sich genau das erwartet.

 

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