Von Klaus Winter
Die „Westfälische Allgemeine Volks-Zeitung“ war vor 1933 die sozialdemokratische Tageszeitung für Dortmund und besaß überregionale Bedeutung. Die Zeitung trug diesen Titel nicht von Anfang an. Zunächst erschien sie unter dem Namen „Westfälische Freie Presse“. Zwei Jahre nach ihrer Gründung hieß sie „Rheinisch-Westfälische Arbeiter-Zeitung“ und von 1902-1917 „Arbeiter-Zeitung“.
Eine Zeitung als „Organ für alle Bedrückten und Bedrängten“
Erst dann erhielt sie den Titel, den sie bis zu ihrem Verbot 1933 tragen sollte: „Westfälische Allgemeine Volks-Zeitung“ (WAVZ).
In der letzten Ausgabe der „Arbeiter-Zeitung“, die am 28. September 1917 erschien, wurde der Namenswechsel damit erklärt, dass äußerlich zum Ausdruck kommen sollte, dass die Zeitung „ein Organ sein soll für die weitesten Volkskreise, für alle Bedrückten und Bedrängten, die bekanntlich nicht nur unter den Arbeitern zu finden sind.“
Die Redaktion legte jedoch Wert auf die Feststellung, dass die Zeitung weiterhin „das freie und unbestechliche Organ der Arbeiterschaft“ bleiben würde, welches „in bewährter Weise den Kampf weiter kämpfen, der zur Befreiung und zum Sozialismus führen wird.“
Die „Westfälische Freie Presse“ wurde 1890 ins Leben gerufen. Das war das Jahr, in dem die Gültigkeit des „Gesetzes gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie“ („Sozialistengesetz“) nicht mehr verlängert wurde. Für die Sozialdemokraten endete damit eine jahrelange staatliche Unterdrückung.
Mühseliger Neustart mit einer Druckerei in einer Scheune
Der Neustart vollzog sich aber nicht problemfrei. Ein Zeitzeuge, der an der Gründung der neuen Zeitung großen Anteil hatte, erinnerte sich später an das mühselige Sammeln von Geldern, um den finanziellen Grundstock für die neue Zeitung zu legen. Man verkaufte Anteilsscheine im Wert von einer Mark, um die notwendigen Mittel zu beschaffen!
Als Druckerei konnte eine Scheune in der Lindenstraße am Rande des nordwestlichen Altstadtbereichs gemietet werden. Hier musste aber zunächst ein Fußboden verlegt und ein Fundament für die Druckerpresse gemauert werden, um den Betrieb aufnehmen zu können.
Aber alle Schwierigkeiten wurden aus dem Weg geräumt und die ersten 150 Exemplare der „Westfälische Freie Presse“ konnten fristgerecht zu einer Versammlung in das Restaurant „Reichshallen“ am Westenhellweg geliefert werden.
„Arbeiter-Zeitung. Sozialdemokratisches Organ für das östliche industrielle Ruhrgebiet“
In der Folgezeit konnten sich die „Westfälische freie Presse. Organ für die Interessen des arbeitenden Volkes“ und ihre Nachfolger etablieren.
Die „Arbeiter-Zeitung. Sozialdemokratisches Organ für das östliche industrielle Ruhrgebiet. Publikationsorgan der freien Gewerkschaften“ warb mit dem Umstand, dass die SPD in den sechs westfälischen Reichstagswahlkreisen im Verbreitungsgebiet der Zeitung (Dortmund-Hörde, Hamm-Soest, Arnsberg, Lüdinghausen, Münster, Tecklenburg) bei der Wahl am 12. Januar 1912 stolze 67.693 Stimmen erhalten hatte.
Zu den Erfolgen kamen die Rückschläge. Beispielsweise wurde schon wenige Wochen nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges die Vorzensur gegen die „Arbeiter-Zeitung“ verhängt. Die politische Haltung der Zeitung rief den Widerstand der Militärführung hervor. Deshalb wurde die Zeitung mehrfach verboten.
Nach einer von Fritz Henßler geschriebenen kritischen Beurteilung der Torpedierung des zwar zivilen, aber bewaffneten britischen Schiffs Lusitania durch die deutsche Marine wurde die „Arbeiter-Zeitung“ durch das Militär zu einer Klarstellung aufgefordert.
Zeitung als „Amtliches Organ sämtlicher Arbeiter- und Soldatenräte“
Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges bezeichnete sich die Zeitung im Untertitel zunächst als „Amtliches Organ sämtlicher Arbeiter- und Soldatenräte in den Reichstagswahlkreisen Münster-Coesfeld, Ahaus-Tecklenburg“, später dann als „Sozialdemokratisches Organ für die Kreise Dortmund-Hörde, Hamm-Soest, Arnsberg-Olpe, Lüdinghausen-Warendorf“ und ab 1921 „für die Stadt- und Landkreise Dortmund und Hörde“. 1922 war sie Publikationsorgan der freien Gewerkschaften, ab 1925 des Arbeitersportkartells und ab 1926 des Reichsbanners.
In den 1920er Jahren arbeiteten zwei Persönlichkeiten für die Westfälische Allgemeine Volks-Zeitung, von denen die eine Namensgeber für eine Dortmunder Straße, die andere für ein öffentliches Gebäude in der Stadt wurde. Grundlage für diese Formen der Ehrung war das politische Engagement der Redakteure.
Ernst Mehlich stieg zum Chefredakteur der Arbeiter-Zeitung auf
Ernst Mehlich hatte den Beruf des Buchdruckers erlernt, begann 1910 seine Tätigkeit für die „Arbeiter-Zeitung“ und stieg zum Chefredakteur auf. Er war einer der prominentesten Charaktere der Arbeiterbewegung im östlichen Ruhrgebiet. 1919 führte Mehlich den Dortmunder Arbeiter- und Soldatenrat als Vorsitzender.
1920 war er Protokollführer bei der Aushandlung des „Bielefelder Abkommens“, durch das der Reichsregierung nach der Niederschlagung des Kapp-Putsches als Gegenleistung für einen Waffenstillstand Zugeständnisse abgerungen wurden. 1926 verunglückte Ernst Mehlich im Alter von 44 Jahren tödlich.
Der spätere Oberbürgermeister Fritz Henßler wurde als „politischer Redakteur“ mehrfach verhaftet
Mehlichs Nachfolger als Chefredakteur wurde sein langjähriger Freund Fritz Henßler, der 1910 als Schriftsetzer nach Dortmund gekommen war und 1912 die Stelle des „politischen Redakteurs“ bei der „Arbeiter-Zeitung“ übernahm. Diese Aufgabe brachte ihm bereits im ersten Jahr seiner Tätigkeit mehrere Gefängnisstrafen ein.
Ernst Mehlich und Fritz Henßer wohnten jahrelang im selben Haus in der Nordstraße. Henßler wurde 1929 in den Westfälischen Provinziallandtag gewählt und 1930 in den Reichstag, dem er dann bis zu dessen Auflösung angehören sollte. Nach dem Zweiten Weltkrieg, von 1946 bis zu seinem Tode 1953 war Fritz Henßler Oberbürgermeister von Dortmund.
Ernst Mehlich und Fritz Henßler hatten einen kurzen Arbeitsweg zu ihrer Redaktion, denn die Zeitung war von der Lindenstraße in das Haus Kielstraße 5 umgezogen. Aus der Lage des neuen Zeitungssitzes leitete sich der Spitzname der SPD-Zeitung ab: „Kieltante“
Am neuen Firmensitz konnte Ende der 1920er Jahre von idealen Verhältnissen für die Erstellung einer Tageszeitung keine Rede sein. Es herrschte ein geradezu grotesker Platzmangel: Abgesehen davon, dass keine Möglichkeit bestand, den Betrieb räumlich zu vergrößern, mussten Maschinen, die den Betrieb leistungsfähig erhalten sollten, dort untergebracht werden, wo gerade Platz war.
Ausbau der Zeitung durch Ankauf in der Nordstadt möglich
Maschinen gleicher Gattung waren in verschiedenen Stockwerken untergebracht. Andere Maschinen waren so eng nebeneinander aufgestellt, dass ein einwandfreies Arbeiten nicht möglich war. Die Situation besserte sich erst nach dem Erwerb des Grundstücks Nordstr. 22 und weitgreifenden Umbauarbeiten.
Die Auflage der „Westfälischen Allgemeinen Volks-Zeitung“ stieg von 23.500 (1926) über 28.000 (1928) und 35.000 (1930) auf 38.000 (1931). Gemessen an dem großen Einzugsbereich der Zeitung erscheinen diese Zahlen gering. 1932 war die Auflage auf 34.000 Stück gesunken. Möglicherweise war dies eine Folge der zunehmenden politischen Radikalisierung.
Das Ende der WAVZ nahte. Als in Berlin das Reichstagsgebäude brannte, nutzten die Nationalsozialisten das Ereignis, um alle sozialdemokratischen Zeitungen und Zeitschriften für zunächst zwei Wochen zu verbieten. Aus dem vorläufigen Verbot wurde ein endgültiges. Auch in Dortmund erschien eine sozialdemokratisch ausgerichtete Tageszeitung erst wieder nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges.
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