Von Clemens Schröer
„Nazis fallen nicht vom Himmel – Ein Streifzug durch 50 Jahre Dorstfelder Geschichte“ lautete der Titel eines Vortrags von Andreas Müller von der Geschichtswerkstatt Dortmund, den er auf Einladung des Bündnisses Dortmund gegen Rechts in der Auslandsgesellschaft NRW vor zahlreichem Publikum hielt.
Seit der Industrialisierung war Dorstfeld ein rotes Arbeiterdorf
In den ersten vierzig Minuten seines einstündigen Vortrages ging es aber noch gar nicht um die Neonazis, sondern um die Voraussetzungen aus der Vorgeschichte, die schließlich das politisch-soziale Vakuum geschaffen hatte, in dem sich dann die Nazis erst breitmachen konnten.
Seit der Industrialisierung war Dorstfeld ein von der Arbeiterbewegung geprägter roter Stadtteil, KPD und SPD erzielten hier Anfang der 1930er- Jahre noch solide Mehrheiten, die NSDAP war weit abgeschlagen.
Im Zweiten Weltkrieg wurde der Stadtteil, ganz anders als das Zentrum Dortmunds, kaum zerstört.
Linksalternatives Szeneviertel in den 70ern – in den 80ern brachial geräumt
Die tiefe Krise setzte erst mit dem Zechensterben seit Ende der Fünfziger Jahre ein, die Stadtplanung wollte in Unterdorstfeld ein neues riesiges Gewerbegebiet errichten und gab die Wohngebiete um Hellweg und Wörthstraße als Sanierungsgebiete faktisch zum sukzessiven Abriss frei.
Die bisherigen Mieter zogen aus. Da es keine Neuvermietungen mehr, sondern nur noch befristete Nutzungsverträge gab, zogen vermehrt Gastarbeiter und Studenten in die vernachlässigten, aber billigen Wohnungen ein.
Es waren die 68er Jahre, die Uni war gerade gegründet worden und lag nur einen Katzensprung entfernt. Experimentierfreudige Linke mischten alsbald den Stadtteil auf.
Sie verwandelten ihn in den Siebzigern in ein alternatives Kiez mit allerlei Basisinitiativen, schließlich Hausbesetzungen, die jedoch die Stadt im Verein mit der DOGEWO in den frühen 80ern recht brachial beendete.
Vogelpoth, Steinauweg, Emscherstraße: Vakuum von diversen Rechten gefüllt
Ein Vakuum, so Müller, war geschaffen, in dem sich die Nazis nach und nach einnisteten. Mitte der 80er gab es eine erste Zelle im Hannibal-Viertel, als die Gruppe um Fritz Geimer braune Jugendarbeit betrieb und die Nachbarschaft bis in die Schulen hinein terrorisierte, wovon auch Nils Oskamps Graphic Novel „Drei Steine“ eindrucksvoll Auskunft gibt.
Eine weitere Gruppe sammelte sich um die neonazistische FAP Michael Kühnens, in deren Umfeld bereits Siegfried Borchardt mit seiner Borussenfront sein Unwesen trieb. Zu Zeiten des Mauerfalls ließen die örtlichen Neonazi-Aktivitäten jedoch für zwei bis drei Jahre nach, weil die Kader im Osten neue Anhänger zu rekrutieren suchten.
Seit Mitte der Neunziger bildete sich in Oberdorstfeld an der B 1 um den Steinauweg herum eine Skinhead-„Front“, die in einem aggressiven Raumkampf linke und migrantische Mieter wegmobbte und sich dabei stetig ausbreitete.
In den Nullerjahren kamen schließlich die „autonomen Nationalisten“ Unterdorstfelds um Dennis Giemsch und später Michael Brück hinzu, ideologisch ambitionierter und propagandistisch beschlagener, doch gleichfalls sehr „aktionsorientiert“ – und das heißt im Kern nach wie vor: extrem gewaltbereit.
Zwischen linksalternativer Nostalgie und beklemmenden Bedrohungsszenarien
In der folgenden Diskussion wurden Müllers teils sehr ausführliche, teils sehr geraffte Beschreibungen um etliche Zeitzeugenberichte aus dem Publikum ergänzt.
Oftmals anekdotisch amüsant, wenn es um die bunte linksalternative Szene der 70er ging, doch beklemmend, wenn Opfer neonazistischer Einschüchterungen das Wort ergriffen und auch auf fehlende Hilfe seitens der Politik und Polizei, aber auch der Bürgergesellschaft hinwiesen.
Kritik: Zu lange wurden von Neonazis bedrohte Menschen im Stich gelassen
Ein Anwohner aus Oberdorstfeld berichtete, dass er sich mit anderen Betroffenen an die DOGEWO, den Vermieter der dortigen Skins, gewendet habe, und auf Aufforderung der städtischen Wohnungsgesellschaft hin eine detaillierte Dokumentation der Übergriffe erstellt habe.
Die Zusicherung, die Anonymität der Betroffenen zu wahren, habe die DOGEWO aber nicht eingehalten, sondern den Nazis in einem Klage-Verfahren gegen den Neonazi Patrick B. dessen Anwalt Picker sämtliche Akten offengelegt. Daraufhin seien er und seine Mitstreiter massiven Bedrohungen ausgesetzt gewesen.
Auch an der Huckarder Polizeileitung und den führenden Kräften des frühen Dorstfelder Runden Tisches ließ er kein gutes Haar. Obwohl ihnen bekannt gewesen sei, dass sich „Blood-and-Honour-Aktivisten“ am Steinweg die Klinke in die Hand gaben, hätten sie keine wirksamen Abwehrmaßnahmen ergriffen.
Der noch von der kommunistischen Faschismustheorie der 1930er inspirierte Moderator aus dem „Bündnis Dortmund gegen Rechts“ meinte gar, „die Oberen“ aus Politik, Polizei und Gerichten „schützten“ ganz im Gegenteil die Nazis.
Andreas Müller führte die alternative Interpretation an, Stadt, Land und Bund könnten der Dorstfelder Nazi-Konzentration vielleicht auch positive Aspekte abgewinnen, da man die Szene so gut im Blick habe und über eingeschleuste Spitzel über deren Vorhaben stets gut informiert sei und gezielt reagieren könne.
Langjähriges Schweigekartell der Lokalpresse
Der Referent lenkte dann den Blick weiter auf die Presse, die im Einklang mit den Stadtoberen lange auf eine Strategie des Totschweigens gesetzt habe, um den Ruf der Stadt nicht zu gefährden und den Nazis keine zusätzliche Bedeutung zu geben.
So findet sich in seinem gutbestücktem und wohlsortierten Archiv der Geschichtswerkstatt zum Neonazismus kaum ein Artikel der Ruhrnachrichten oder Rundschau aus den Jahren 1980 bis in die Nullerjahre hinein.
Überwiegend abgewogene Einordnungen eines langjährig gegen Rechts engagierten Sozialarbeiters
Ein Sozialarbeiter, der seit Jahrzehnten mit Jugendlichen für Demokratie und gegen Neonazismus kämpft und heute mit dem städtischen Respekt-Büro und weiteren Initiativen im ehemaligen Nazi-Treffpunkt „R 135“ residiert, hielt der Schelte dann mehrfach entgegen, dass sowohl die Polizei als auch die Stadt seit der Ära Sierau, Wesseler und Lange doch sehr engagiert gegen die Rechtsradikalen vorgingen.
Die Übergriffe von Polizisten auf antifaschistische Gegendemonstranten, die ein Vorredner beklagte, seien keinesfalls von der Polizeiführung gewollt.
Kritik übte er an einer Justiz, die polizeiliche Verbotsentscheidungen mit Hinweis auf die grundgesetzlich verankerte Demonstrationsfreiheit oft kippe und sich durch langwierig-skrupulöse Urteilsfindung wie etwa beim Münchener NSU-Prozess vom „Rechtsempfinden der Bevölkerungsmehrheit“ zunehmend entferne.
Was tun, um den Dorstfelder „Nazi-Hotspot“ zu zerschlagen?
Doch was tun, damit endlich und so rasch wie möglich die Nazi-Szene aus Dorstfeld verschwindet und die fatalistisch-apokalyptische These der Veranstalter vom angeblich „unaufhaltsamen Aufstieg“ der Neonazis in Dortmund widerlegt wird?
Ein Diskutant verwies auf Erfahrungen aus anderen Städten und Gemeinden, dass jedenfalls solange „Hotspots“ wie in Unterdorstfeld nicht zerschlagen seien, der Kampf nicht gewonnen werden könne.
Während in Oberdorstfeld die DOGEWO eine unrühmliche Rolle gespielt habe, mache rund um Emscherstraße und Wilhelmplatz der private Vermieter P. große Probleme, der dort mehrere Häuser besitzt und Neonazis gerne als Mieter nimmt, weil er deren Gedankengut teils teilt.
Einige Diskutanten wollten wissen, ob P. nicht für eine mit Müllers „Vakuumthese“ unterbeleuchtet gebliebene rechte Kontinuität in alteingesessenen Dorstfelder Familien stehen könnte, die dem rechtsextremen Nachwuchs das Feld bereitet habe.
Da kam es bei einigen Zuhörern natürlich nicht gut an, dass ein parteipolitisch engagierter Dorstfelder Bürger wider besseres Wissen die Mär verbreitete, dass es sich bei P. um einen apolitischen Opa handele, der nur auf pünktlich gezahlte Mieten schiele.
Andreas Müller jedenfalls kontrastierte in seinem Schlusswort noch einmal die brachiale Art, mit der Anfang der 80er die linksalternative Szene in Dorstfeld zerschlagen worden war, mit dem oftmals doch immer noch recht verzagten Kampf gegen Rechts.