Von Claus Stille
„Umfairteilen hilft – wie wir unser Land zusammenhalten können“ war das Motto einer Kundgebung des Dortmunder „Bündnis für Umfairteilen“ an der Reinolidikirche. Hauptredner war Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes.
Die Bundesregierung hat vieles angepackt – aber nur halbherzig
Schneider skandalisierte zunächst, dass gerade bekanntgeworden sei, dass der Bundesfinanzminister und Familienministerin sich auf eine Kindergelderhöhung um zwei Euro (!) geeinigt hätten: „Das ist eine Frechheit.“
Vieles habe die Bundesregierung richtig „angepackt. Aber alles nur halbherzig“, so der Hauptredner der Kundgebung. Die Hartz-IV-Regelsätze seien zwar erhöht worden. Eigentlich brauchte man aber einen Satz von 520 Euro. Steuererhöhungen gälten als Tabu. Diejenigen, welche sie verkraften könnten, würden mit keinem Cent mehr belastet.
Nichts werde für die Langzeitarbeitslosen getan oder gegen die Altersarmut unternommen, kritisiert Schneider. Deutschland sei das viert reichste Land: „Das ist zum Fremdschämen!“ Auch blieben die vielen Dienste auf der Strecke, die für die Menschen da sind.
Zahl der Bedürftigen in der Stadt Dortmund ist deutlich gestiegen
Zwei Billionen Euro Schulden unseres Landes stünden heute fünf Billionen Euro Privatvermögen entgegen. Geld, um den Kommunen zu helfen, sei also da. Ein Umsteuern müsse endlich eingeleitet und Solidarität eingefordert werden.
Zehn Prozent der reichsten in Deutschland besäßen drei Viertel allen Vermögens. Das sei obszön: „Wir setzen den sozialen Frieden aufs Spiel“, sagte der Schneider. Er forderte die Einführung einer Vermögens-, einer Börsenumsatz- sowie einer vernünftigen Erbschaftssteuer.
Wie wichtig mehr Aktivitäten für Einkommensschwache sei, machte Reinold Dege, der 2. Vorsitzende des Dortmunder Vereins „Gast-Haus – Ökumenische Wohnungslosen-Initiative e. V.“ deutlich:Vor zehn Jahren hätten noch im Schnitt 50 Menschen pro Tag die Hilfsangebote des Vereins in Anspruch genommen. Aktuell zähle man oft 300 BesucherInnen am Tag.
Wolf Stammnitz, Sachkundiger Bürger der Linken im Beschäftigungsausschuss der Stadt Dortmund, machte die Armut an einem Bild fest, das wir täglich beobachten könnten. Kamen Pfandflaschensammler vor Jahren noch nur als „Exoten“, als tragische Einzelschicksale, vor, begegnete man ihnen nun aufgrund steigender Armut inzwischen vermehrt.
Forderung: Die gesetzliche Rente wieder sicher machen
Stammnitz beklagte, dass nach 1989 „ein relativ gutes Altersvorsorgesystem“ zerschlagen„und durch ein marktradikales Chaos ersetzt“ worden sei. Weil die Schröder-Fischer-Regierung die Sozialhilfe abgeschafft habe, müssten heute in Dortmund 8400 Menschen von einer Grundsicherung leben.
Rentenkürzungen seien eben kein Gebot der Generationengerechtigkeit, wie der Hauptgeschäftsführer der Arbeitgeberverbände, Steffen Kampeter, kürzlich gemeint hätte, so Stammnitz. Immer sei die Rente über Produktionsfortschritte finanziert worden.
Erzählten Politiker heute anderes, so sei das „eine Verdummung“. Weshalb das spätere Renteneintrittsalter nichts weiter als eine weitere Rentenkürzung sei. Die falsche Rentenpolitik vermehre überdies die Jugendarbeitslosigkeit. Denn Arbeitsplätze für sie würden erst später frei.
Stammnitz forderte die Aussetzung der Kürzungsfaktoren in der Rentenformel, die Rücknahme des Renteneintrittsalters erst mit 67 Jahren. eine Wiederanhebung des Rentenniveaus auf mindestens 50 Prozent der Nettolöhne. Sowie die Einbeziehung aller Einkunftsarten in die gesetzliche Rentenversicherung und ein Ende der Finanzierung versicherungsfremder Leistungen aus der Rentenkasse.
Ingo Meyer, Koordinator des Bündnis Umfairteilen in Dortmund, bedankte sich für das steigenden Interesse am Thema Umfairteilen und kündigte weitere Aktionen an. Die musikalischen Beiträge auf der Kundgebung besorgte Peter Sturm.
Bei der AWO wurde die „Soziale Ungleichheit in Deutschland“ diskutiert
Am Abend stand das Thema „Soziale Ungleichheit in Deutschland“ im Mittelpunkt einer Veranstaltung in den Räumen der Arbeiterwohlfahrt (AWO) in der Klosterstraße. Eingeladen hatten der SPD-Bundestagsabgeordnete Marco Bülow und die SPD-Landtagskandidatin Anja Butschkau. Gast war auch hier Dr. Ulrich Schneider.
Marco Bülow kritisierte eingangs den Rückgang selbst einer vagen Chancengleichheit hierzulande. Er zitierte aus einer Erhebung der Gewerkschaften, wonach in Dortmund 2020 jeder Zweite nicht mehr wird von seiner Rente allein leben können.
Warum wird eine Steuerpolitik gegen die Interessen der Mehrheit geduldet?
Ulrich Schneider konstatierte, dass über Ungleichheit kaum gesprochen würde. Weil es von den Meisten gar nicht als Problem wahrgenommen werde. Und Ungleichheit sei von manchem Anhänger des Neoliberalismus gar gewünscht. Etwa um Menschen abzustrafen.
Armut sei dazu da, ihnen Beine zu machen, um zu zeigen, wer sich nicht anstrengt, der gehe halt nicht gerade vor die Hunde, aber „ist zumindest knapp davor“.
Schneider hatte sich beim Schreiben seines neuen Buches neulich gefragt, warum sich die Bevölkerung eigentlich oft gegen ihren eigenen Interessen verhalte.
Wie, fragte Ulrich Schneider, könne es sein, wenn Tatsache sei, dass zehn Prozent der Reichsten „sich 70 Prozent des Gesamtvermögens reinziehen“ – wie Marco Bülow gesagt habe – während die untersten vierzig Prozent von der Hand in den Mund lebten.
Wenn man davon ausgehe, dass in einer Demokratie die Macht von einer Mehrheit des Volks ausgehe, müsse das Volk aus „ungeheuer fröhlichen Humoristen bestehen, oder die haben nicht mehr alle Tassen im Schrank“, so Schneider.
Schneider: Aufklärung nach jahrzehntelangem neoliberalen Trommelfeuer
All das habe wohl mit einem Gewöhnungseffekt zu tun, weil wir Scheuklappen und Denkbarrieren hätten, analysierte Ulrich Schneider. All das gehe auf ein jahrzehntelanges „neoliberales Trommelfeuer“ zurück. Die Koordinaten in Deutschland seien bewusst verändert worden.
Bei einer hohen Arbeitslosenzahl in den 1980er Jahren noch habe man, „ohne eingesperrt zu werden“, von der Einführung einer 35-Stundenwoche sprechen, ein bedingungsloses Grundeinkommen fordern und über eine Maschinensteuer frei diskutieren können, ohne in eine bestimmte politische Ecke gestellt zu werden.
„Gutmensch“ wurde zum Schimpfwort und Gerechtigkeit als Sozialneid diffamiert
Bundeskanzler Gerhard Schröder habe dann später gesagt, keine rechte und linke Politik gebe es, sondern nur eine richtige oder falsche. Nachdenkende Kritiker seien plötzlich als „Bedenkenträger“ abgestempelt worden, erinnerte sich Schneider. Und „Gutmensch“ wäre zu einem Schimpfwort geworden.
Gerechtigkeit habe man als Sozialneid diffamiert. Ein Effekt dieser Schröderschen „neuen Sachlichkeit“ sei, dass man sich heute nicht einmal mehr traue, das Selbstverständliche zu fordern.
Mit dem Schreckgespenst „Globalisierung“ habe man jegliche Einschränkungen fordern und ins Werk setzen können, ohne das vernünftig zu begründen. Rente, heiße es, sei nicht mehr finanzierbar. Schneider: „Keiner bringt einen Nachweis dafür.“
Dreißig Jahre Neoliberalismus hätten ein katastrophales Ergebnis zur Folge. Und wenn alle – Politik und Presse – das Gleiche sagten, werde es eben einfach hingenommen. Es führe zu „Denkblockaden“.
Aufklärung gegen die angebliche Alternativlosigkeit des Neoliberalismus
Schneider: „Wir brauchen ein neue Aufklärung.“ Allein schon deshalb, weil inzwischen viele Jungen mangels Kenntnis den Neoliberalismus für alternativlos hielten.
Gerechtigkeit und Gleichheit, so Schneider, gehörten zwingend zusammen. Und er erwähnte den Sozialethiker Friedhelm Hengsbach: Gerechtigkeit könne immer nur von Gleichheit ausgehen.
Gerechtigkeit heiße, dass ich die Würde des Menschen zum Maßstab nehme. Die Würde jedes Menschen sei stets gleich. Schneider: „Das hat mich fast vom Stuhl gehauen.“ Somit müsse man Hartz-IV ganz anders zu diskutieren.
Die zunehmende Spaltung in arm und reich führe, gab Schneider zu bedenken, zu einem Demokratieproblem. Zu einem Zulauf für rechte Kräfte. „Die Gesellschaft bricht auseinander.“ Dem könne begegnet werden, indem „wir die Menschen wieder selbstbewusster machen“.
Marco Bülow: Das Problem Ungleichheit stößt auf mehr Aufmerksamkeit
Marco Bülow stimmte Ulrich Schneider zu, dass man nicht nur immer über die Armen, sondern vermehrt auch über die Reichen reden müsse. „Die Reichtumsforschung ist unterentwickelt.“
Die negative Entwicklung, der Aufstieg der neoliberalen Politik mit all den schlimmen Folgen, stehe mit einem Fall der Masken in Zusammenhang, die nach dem Ende der DDR bei der Wirtschaft einsetzte: man brauchte in Sachen sozialer Wohltaten keine Zurückhaltung mehr zu üben und begann diese zu schleifen.
Das Problem „Ungleichheit“, fand Bülow, stoße inzwischen durchaus auf mehr Aufmerksamkeit: „Es kippt.“
Butschkau überreichte „Gutmensch“-Anstecker an Ulrich Schneider
Anja Butschkau überreichte Ulrich Schneider den Anstecker „Gutmensch“, der AWO – „Aktion Gutmensch – Farbe bekennen“. Alle sozialpolitischen Akteure der Stadt – Politik, Gewerkschaften und Wohlfahrt-, so Butschkau, müssten sich hinsichtlich der Armutsbekämpfung auf den Weg machen und an einem Strang ziehen. Betteln dürfe nicht als selbstverständlich hingenommen werden.
Im Anschluss entspann sich eine interessante und angeregte Diskussion des Publikums mit Anja Butschkau, Marco Bülow und Ulrich Schneider mit durchweg klugen und vernünftigen Wortbeiträgen.
Schneider betonte dabei nochmals, dass die Menschen das Recht auf eine bestimmte Grundsicherheit haben müssten, um in Würde leben zu können: „Wir machen die Menschen sonst fertig.“ An diesem Abend, gestand, Schneider habe er viel gelernt.
Anja Butschkau stellte fest, viele schlaue Sätze seien an diesem Abend gefallen. Das Wichtigste fasste sie zusammen: „Wir brauchen eine offene Diskussion zum Thema Armut und dürfen keine Doppelbotschaften zulassen.“
Weshalb klare Kante zu zeigen sei: „Wer Mist gebaut hat, muss dazu stehen“, sagte die SPD-Landtagskandidatin. Beim Fordern und Fördern sei leider das Fördern vergessen worden. „Gerechtigkeit kann nur von Gleichheit ausgehen, wovon denn sonst.“
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