Würde. Menschenwürde: Ein Menschenrecht und wichtigstes Grundrecht in Deutschland. Doch gerade in der Arbeitswelt ist davon oft wenig zu spüren: Prekäre Beschäftigung, Ausbeutung und unwürdige Bedingungen sind an der Tagesordnung – auch in Deutschland.
Diskussionsveranstaltung im Rahmen von „Onkel Hasan und seine Enkel“
Für die Arbeiterwohlfahrt (AWO) und das „Haus der Vielfalt“ Grund genug, sich grundsätzlich mit dem Thema auseinanderzusetzen.
Gemeinsam hatten sie eine Gesprächsrunde im Besucherzentrum der Westfalenhütte organisiert, die ins Rahmenprogramm der Ausstellung „Onkel Hasan und seine Enkel“ eingebettet war. Die Ausstellung, die sich mit den sogenannten „Gastarbeitern“ und ihren Nachfahren beschäftigt, hat auch das Thema Würde im Blick.
„Wir riefen Arbeiter, aber es kamen Menschen“ – das Zitat von Max Frisch zeigt die Problematik auf, die in Zeiten von „Armutszuwanderung“, der Integrationsnotwendigkeit von hunderttausenden Flüchtlingen sowie der Globalisierung und Digitalisierung der Weltwirtschaft völlig neu diskutiert werden muss.
Arbeit in Würde für alle, unabhängig von Geschlecht oder Herkunft
„Heute wie damals stehen wir für ein Recht auf Würde, Arbeit und Unterstützung für alle, die unsere Unterstützung bedürfen. Genau aus diesem Grund fordern wir Arbeit in Würde für alle, unabhängig von Geschlecht oder Herkunft“, betonte die AWO-Vorsitzende Gerda Kieninger.
„Und wir brauchen einen Arbeitsmarkt, der es jeder Frau und jedem Mann ermöglicht, sich und die eigene Familie in Würde zu ernähren.“
Doch auch mitten in Dortmund gibt es Arbeitsprostitution und Ausbeutung – das sei einfach unwürdig, machte AWO-Geschäftsführer Andreas Gora deutlich, der die Veranstaltung mit Ausstellungskurator Dr. Wilfried Kruse moderierte.
Der Mindestlohn sei zwar eine Errungenschaft. Allerdings seien auch die 8,50 Euro nicht ausreichend, um ein gutes Leben zu führen. „Es ist ein Skandal, dass dieser Betrag für Flüchtlinge noch abgesenkt werden soll. Ebenso, dass Frauen 22 Prozent weniger verdienen als ihre männlichen Kollegen“, betonte Gerda Kieninger.
Perfider Druck auf Arbeitslose: „Jede Arbeit ist besser als keine“
Die besondere Herausforderung: Arbeit ist in Deutschland ein wichtiger Teil der Persönlichkeit und der persönlichen Identifikation.
„Es ist eine sehr deutsche Tradition, Arbeit als Seinsbestimmung und Pflicht zu überhöhen“, erinnerte Kruse. „Es lobt den Mann die Arbeit und die Tat“ steht am ehemaligen Hoesch-Union-Verwaltungsgebäude (Versorgungsamt) an der Rheinische Straße zu lesen.
Aussagen wie „Jede Arbeit ist besser als keine“ und „Sozial ist, was Arbeit schafft“ erhöhten den Druck auf Arbeitslose, jede noch so entwürdigende und unterbezahlte Beschäftigung anzunehmen.
Außerdem ergibt sich daraus ein weiteres Problem: Durch diese Maxime wird jede Arbeit entwertet, für die es keinen (bezahlten) Markt gibt. Ziel müsse es daher sein, einen kritischen Blick auf die rechtlichen, sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Verhältnisse zu richten.
Würde sei nicht automatisch in jeder Form von Arbeit enthalten. „Allerdings sind Arbeitsverhältnisse gestaltbar. Ich bin froh, dass die AWO das Thema aufgreift und einen kritischen Blick auf die Situation jenseits der Beschäftigung richtet“, so Kruse.
Betriebsräte und Gewerkschaften als Garanten für Würde?
Für Prof. Willy Pöhler, Arbeitssoziologe und ehemaliger Arbeitsdirektor von Krupp-Hoesch, ist die Frage nach Würde in der Arbeitswelt noch immer aktuell. „Allerdings waren wir da in den 70er Jahren schon einmal weiter“, gab er sich kritisch.
Betriebsräte und Gewerkschaften seien die Garanten dafür, dass Würde allgemein, Gestaltung von Arbeitsbedingungen und die Würde von Arbeit weiter auf der Tagesordnung stünden, machte der DGB-Bundesvorsitzende Reiner Hoffmann deutlich.
„Unsere Solidarität gilt natürlich auch für diejenigen, die in nicht gut geordneten Arbeitssituationen schuften und mühsam ihr Geld verdienen“, sagte Hoffmann mit Blick auf die prekären und teils illegalen Arbeitsbedingungen.
Ausbeutung von Arbeitnehmern aus Südosteuropa in Dortmund
Ein Feld, mit dem Stefanie Albrecht, Dortmunder Beraterin für und Arbeitnehmer aus Südosteuropa, häufig zu tun hat.
Viele Arbeitnehmer kämen mit Werksverträgen aus Bulgarien, Rumänien und Ungarn nach Deutschland, um sich eine neue Perspektive zu erschließen. Doch unter den prekären Bedingungen, in denen sie leben und arbeiten, sei dies kaum möglich.
„Sie schaffen es unter diesen Bedingungen nicht, Deutschkurse zu belegen, um in bessere und qualifiziertere Jobs zu wechseln“, so Albrecht. „Für diese Arbeitnehmer gibt es kein Wachstum – sie werden ausgelaugt und dann zurückgeschickt.“
Kritik an Höhe des Mindestlohns und Sachgrundloser Befristung
Aus diesem Grund sah Hoffmann auch die voranschreitende Globalisierung, die Digitalisierung der Arbeitswelt (Arbeit 4.0) und demographische Veränderungen als zentrale Herausforderungen. Nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Auflösung von Raum- und Zeitstrukturen müssten Arbeitsbedingungen neu in den Blick genommen werden.
Er geißelte betriebliche Zergliederung, Werkverträge, Leiharbeit und Tarifflucht. „Nur noch 60 Prozent der Beschäftigten stehen unter dem Schutz von Tarifverträgen. Sie sind aber wichtig für die Humanisierung und die Würde in der Arbeitswelt“, so Hoffmann.
Daher seien Mindestlöhne eine Errungenschaft, auch wenn die 8,50 Euro noch zu wenig seien. „Wir haben den Mindestlohn nicht gefordert, weil wir Tarifverträge unterlaufen wollen, sondern weil viele Unternehmen aus Tarifverträgen fliehen“, so Hoffmann.
Manfred Sträter (NGG) sah in der sachgrundlosen Befristung über vier Jahre ein weiteres Problem: „Das ist ein Trampeln auf der Würde der Menschen, um sie klein und dauerhaft in probezeitähnlichen Verhältnissen zu halten.“
Fehlende Wertschätzung von Frauen zeigt sich in ungleicher Bezahlung
Ursula Ammon vom Dortmunder Forum Frau und Wirtschaft e.V. richtete den Blick auf die ungleiche Bezahlung von Frauen. Selbst in sozialversicherungspflichtigen Bereichen verdienten sie 22 Prozent weniger als Männer. „Ich finde, dass ist eine erschreckende Nicht-Wertschätzung und Herabwürdigung von Frauenarbeit.“
Rojda Savas, die Frauencafés im Haus der Vielfalt organisiert, zeigte ein weiteres Problem von Frauen mit Migrationshintergrund auf: Egal ob es sich um Analphabetinnen oder Akademikerinnen handele – alle bekämen die dieselben Jobvorschläge.
„Minijobs, Küchenhilfe oder Reinigungskraft – die Frauen werden gestoppt, das raubt ihnen Selbstwertpotenziale“, verdeutlicht Savas. „Sie haben keine Chance, da raus zu kommen. Viele Frauen sind verzweifelt.“
Ein Problem, dass sie mit deutschen Frauen teilen, sind die Minijobs. „Minijobs sind ein Beispiel für die Arbeit ohne Würde und sie haben katastrophale Folgen bis hin zur Rente“, betonte Jutta Reiter (DGB).
Umverteilung bei großen Vermögen und hohen Erbschaften
Zwar gebe es lokale Aktivitäten für eine Umwandlung in sozialversicherungspflichtige Beschäftigung. „Aber das ist ein Kampf David gegen Goliath – und auf Bundesebene tut sich nichts.“
Marco Bülow (SPD-MdB) sieht noch großen Handlungsbedarf. Er erneuerte seine Forderungen nach einem sozialen Arbeitsmarkt und einer Vermögensumverteilung.
Eine Forderung, die auch Andreas Koch (Grünbau) erhob. Vor allem bei Millionenvermögen und den anstehenden Erbschaften sieht Bülow Ansatzpunkte, um einen sozialen Arbeitsmarkt zu finanzieren. Allerdings hat er da die Mehrheit seiner Parlamentskollegen nicht auf seiner Seite.
AWO setzt auf einen gemeinsamen Impuls für mehr politischen Druck
Doch müsse der Druck auf die Bundesregierung größer werden, damit Armut und Arbeitslosigkeit nicht weiter vererbt werden.
Darum ging es auch bei der Veranstaltung auf der Westfalenhütte: Es gehe um die Würde der Arbeit und des Arbeitenden – „Das müssen wir vereinbaren“, verdeutlichte Gerda Kieninger am Beispiel der Pflege, die wahrscheinlich alle Menschen einst brauchen würden.
„Dass die uns so wenig wert ist, zeigt, dass wir die Arbeit nicht würdigen und auch nicht die Person, die uns einst mal pflegen soll“, so die AWO-Vorsitzende.
Daher forderte Kieninger alle Interessierten auf, gemeinsam an einem neuen Pakt für die Würde der Arbeit mitzuwirken. „Wir wollen uns nicht mit Langzeitarbeitslosigkeit und einer größer werdenden Zahl der Menschen, die von ihrer Arbeit nicht leben können, abfinden. Und wir lassen es nicht zu, dass die Würde in der Arbeitswelt mehr und mehr verloren geht“, zog die AWO-Vorsitzende ein vorläufiges Fazit der Veranstaltung.
„Unterstützen sie uns, Dortmund wieder zu der Stadt der Arbeit in Würde zu machen. Lassen sie uns dieses Ziel gemeinsam verfolgen – Glück Auf!“
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Torsten Sommer
Zum Thema Arbeit, der Gott der Neuzeit, zeigen die Piraten in Dortmund heute Abend den Film Frohes Schaffen – ein Film zur Senkung der Arbeitsmoral. Die Vorführung startet um 19:30 Uhr im Saal der Gaststätte „Zur Sonne“, Haenischstr. 1, 44139 Dortmund. Der Eintritt ist selbstverständlich frei.