„Aufgewachsen in Dortmund“: Teil 1 über die 50er und 60er Jahre

Lesetipp: Zwei neue Bücher, die alte und junge Menschen gleichermaßen erfreuen werden

Foto: Alex Völkel für Nordstadtblogger.de

Lebenserfahrungen prägen. Wenn die Alten den Jungen von ihrem Leben erzählen, macht das latente Fragen bewusst: Warum ist es heutzutage so wie es ist? Was haben die Menschen einst für das Heute getan? Ganz im Sinne von August Bebel: „Nur wer die Vergangenheit kennt, kann die Gegenwart verstehen und die Zukunft gestalten!“ entfaltet sich der Dialog der Generationen.

Wie gemacht für diesen Dialog, hat der Wartberg-Verlag in seiner Reihe „Aufgewachsen in…“ aktuell zwei neue Bücher heraus gebracht. Nordstadtblogger wirft zunächst einen Blick in das Buch von Reinhard Junge, der sich mit den 50er und 60er Jahren beschäftigt hat.

Es sind Jahrzehnte ausgreifender Veränderungen

In kurzen, reich bebilderten Kapiteln wird das Leben im Dortmund von einst beschrieben. Markantes wechselt mit Gefälligem, ernste Themen werden gekonnt mit Humorigem verknüpft. Die bittere Armut der Nachkriegszeit steht am Beginn der Beschreibungen, die auf den Folgeseiten mit den facettenreichen Veränderungen verknüpft werden, die Dortmund auf dem Weg zur Großstadt durchmachte.

Reinhard Junge ist Autor des Buchs Dortmund in den 50er und 60er Jahren. Alain Babero

In den Lebensbedingungen schlug sich das nieder – „In den alten Bergarbeiterhäusern in den beiden Barop-Dörfern wurden gerade erst die ‚Donnerbalken‘ in den Gärten abgeschafft, bevor die Häuser nach und nach modernisiert wurden.“ – und führte schließlich zu einem gänzlich anderen Lifestyle – „1964 wurde der Hellweg in eine Fußgängerzone umgewandelt, für viele Geschäftsleute eine goldene Meile und für eine wachsende Kundschaft eine interessante Shoppingzone.“___STEADY_PAYWALL___

Überhaupt wurde das Stadtbild durch intensive Bautätigkeiten immer stärker verändert. „Der Brüderweg, die Kamp- und Kleppingstraße sowie die Wälle wurden autogerecht verbreitert und am Ende der Kuckelke lockte das erste Parkhochhaus mit einer automatischen Waschstraße für Pkw. Eine neue Zeit war angebrochen.“

Das harte, aber meistens doch herzliche Leben

Fahrradtransport mittels Anhänger in den 1950er Jahren
Blick ins Norstadtblogger-Archiuv: Fahrradtransport mittels Anhänger in den 1950er Jahren Archivbild: Jochen Noll

Der Hunger konnte durch Selbstversorgung aus dem Garten hinter dem Haus oder aus dem Schrebergarten etwas gemildert werden. So entwickelte sich ein eigener Freizeitbereich. „In Dortmund gab es in den 60er Jahren rund 7000 Parzellen, deren Besitzer in 100 Vereinen organisiert waren. […] Jeder gärtnerte wie er mochte. Danach war Erholung angesagt.“

Andere fanden Entspannung und Geselligkeit als Taubenzüchter – „Die Taube ist das Rennpferd des Bergmanns.“ – oder als Fußballfans im Stadion des BVB.  Reinhard Junge beschreibt die vielen Facetten der möglichen Freizeitgestaltung, auch im Hinblick auf die verschiedenen Generationen, so, dass sich eigentlich jede:r irgendwie wiederfinden kann. Das Leben in Dortmund der 50er und 60er Jahre war zuweilen hart, aber meistens doch herzlich.

Leben in der Nachkriegszeit und der Strukturwandel

Kindergärten gab es in den 50er Jahren fast keine. Das wurde erst später anders. Auch in den Schulen veränderte sich manches. An die Stelle der Volksschule trat die Grund- und Hauptschule. Und: „Allein in Dortmund entstanden zwischen 1950 und 1970 14 neue Gymnasien und Gesamtschulen.“

Eine Werbepostkarte der Actien-Brauerei aus den 50er Jahren.
Eine Werbepostkarte der Actien-Brauerei aus den 50er Jahren. Sascha Fijneman | Nordstadtblogger

So sehr Dortmund durch Kohle und Stahl geprägt war, wurde es vom Strukturwandel getroffen. „Viele Väter und Großväter konnten in Frührente gehen oder mussten sich einen neuen Arbeitsplatz suchen. Von den Jüngeren gingen viele zur Bundeswehr oder zur Polizei, andere kamen im gerade entstehenden Opel-Werk in Bochum oder in Kaufhäusern oder Büros unter.“ Reinhard Junge gelingt es, diese ausgreifenden Prozesse knapp zusammengefasst zu beschreiben.

Wunderbar auch die Beschreibungen des kulturellen Lebens, das in Dortmund von den Realitäten harter Arbeit nicht zu trennen war. So gilt Dortmund als „Stadt der Arbeiterliteratur“. Junge stellt in seinem Buch Max von der Grün, Bruno Gluchowski und Josef Reding vor. Von letzterem erinnert der Autor eine Lesung in Wattenscheid, bei der Reding „in einer eiskalten Aula zwei Stunden lang rund 150 Schülerinnen und Schüler an die Plätze gefesselt“ hatte.

Auch die gesellschaftlichen Umbrüche am Ende der 60er Jahre werden geschildert. Die Gemengelage aus Kaltem Krieg und kultureller Erneuerung, die für viele junge Menschen politisch prägend war. Aber auch Sex, Drugs and Rock’n Roll gehörten dazu – Reinhard Junge lässt das keineswegs aus. Schließlich brach sich ein damals ganz neues Selbstverständnis Bahn.

Unter dem Slogan: „Wer sich nicht wehrt, lebt verkehrt“ berichtet Junge vom erwachenden Selbstbewusstsein der jungen Generation. Man traf sich im Fritz-Henßler-Haus zu gesellschaftskritischen Diskussionen, forderte in der Berufsausbildung das Recht auf wirkliches Lernen ein oder demonstrierte beim Ostermarsch gegen die Stationierung amerikanischer Atomwaffen in Dortmund.

Das Buch, flüssig lesbar und sorgfältig editiert, ist wirklich gelungen. Das Beste ist, dass es wahrscheinlich viele Omas und Opas zum Erzählen anregen wird. Chapeau!

Info: Aufgewachsen in Dortmund in den 50er & 60er Jahren, Reinhard Junge / 64 Seiten, 14,90 € (D), ISBN 978-3-8313-3546-6 / Wartberg Verlag


Anm.d.Red.: Haben Sie bis zum Ende gelesen? Nur zur Info: Die Nordstadtblogger arbeiten ehrenamtlich. Wir machen das gern, aber wir freuen uns auch über Unterstützung!

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