Vom 5. bis 15. September 2024 live in Dortmund und digital

Was ist schon normal? Das Theaterfestival Favoriten will neue Perspektiven eröffnen

INTERDEPENCE ist eine Klangperformance für blinde und nicht-blinde Zuschauer*innen, die zeitgenössisches Theater, Klangkunst und Audiodeskription miteinander verbindet. Sie beschäftigt sich mit dem Thema Gewalt und Protesten, wie sie die Künstler:innen 2019 in Chile erlebt haben. Presse FAV 2024

Perspektiven wechseln und Dinge verlernen – vom 5. bis 15. September kann man das auf dem Favoriten-Festival. Es ist das interdisziplinäre Festival der Freien Szene Nordrhein-Westfalens und die Künstler:innen wollen unser Wissen durcheinander wirbeln. Das Ziel: Platz für Neues, denn weiter so gilt nicht. Und überhaupt: Was ist schon normal?

Vielfalt der Formate und Orte: Vom Museum bis zum Kleingartenverein und in die digitale Welt

Szene aus dem Film „My castle, your castle“ von Kerstin Honeit – zu sehen im Kino sweet sixteen und in der Mediathek. ©VG Bild-Kunst

Theater, Performances und Tanz, aber auch Workshops und Partys gehören zu den Formaten des Festivals.

Und so vielfältig wie das Programm sind auch die Aufführungsorte: das Depot, das Museum für Kunst und Kulturgeschichte, das Fritz-Hüser-Institut oder auch der Kleingartenverein Hafenwiese gehören dazu. Ergänzend gibt es Digitalformate – wie zum Beispiel Filme und Hörstücke in der Festival-Mediathek.

Bewusstsein für die Verwobenheit von Bildung und Macht schaffen

Für die Macher:inen Anne Mahlow, Sina-Marie Schneller und Margo Zālīte ist es bereits die zweite Ausgabe des Festivals. Ihr Programm steht 2024 unter dem Motto: (Un)Learning for possible Futures – was soviel heißt wie: (Ver)lernen für eine mögliche Zukunft.

Das Trio der künstlerischen Leiterinnen: Anne Mahlow, Sina-Marie Schneller und Margo Zālīte (v.l.) Foto: Sebastian Wolf

Wir sollen also nicht lernen, sondern verlernen. Wieso? Anne Mahlow geht es darum Strukturen sichtbar zu machen: „Wir fragen, welches Wissen wird uns vermittelt, welches nicht – und aus welchem Grund? Mit einem Bewusstsein für die Verwobenheit von Bildung und Macht wollen wir das Gelernte unter die Lupe nehmen.“

War denn das bisher Gelernte verkehrt? „Es geht nicht darum, auf die Lösch-Taste zu drücken“, so Mahlow, „sondern den Lernprozess selbst in den Blick zu nehmen. Erst mit vielfältigen Perspektiven können wir empowernde Strategien des Wissenstransfers entwickeln.“

„Was wir verlernen sollten, sind Vorurteile und Ungerechtigkeiten“

Um überhaupt auf neue Ideen zu kommen und neue Wege zu gehen, sei es erforderlich, das Alte auch mal zu vergessen, festgefahrene Denkmuster und Gewohnheiten zu hinterfragen und loszulassen, ergänzt Margo Zālīte.

„Deutschland – ein Labermärchen“ beschäftigt sich mit dem Fußballsommer 2006. Die Performance mit Caroline Kapp und Julia Nitschke findet am 15. September statt. Toni Petraschk

Sie zitiert den amerikanischen Sprachwissenschaftler Noam Chomsky, der sagt: ‚Bildung bedeutet, den Geist eines Menschen zu entfachen, nicht ihn zu füllen.‘ und meint: „Was wir verlernen sollten, sind die Vorurteile und Ungerechtigkeiten, die sich in unserer Gesellschaft tief verwurzelt haben.“

Auf dem Festival ginge es auch darum, sich gemeinsam eine gerechtere Zukunft im Hinblick auf Privilegien, Geschlechterverhältnisse und zum Beispiel die Auswirkungen des Klimawandels vorzustellen und auszuprobieren.

Diskurs mit Kultur, aber auch über Kultur ist angesagt. Zum Start lädt das Festival zum Symposium „(Un)learning Theatre & Crisis – Übungen im Zusammenleben“ ein (8. September, Museum für Kunst und Kulturgeschichte).

Hier wollen sich die Kulturschaffenden Zeit und Raum nehmen, um über ihre eigene Rolle und die des Theaters in Zeiten gesellschaftlicher Krisen zu diskutieren.

Anschlag auf den S-Bahnhof Werhahn wird zum Kammerspiel

Aber wie kann ein Theaterstück ganz konkret dazu beitragen Krisen zu verstehen und neue Perspektiven zu entwickeln? Christof Seeger-Zurmühlen vom Theaterkollektiv Pièrre.Vers führt Regie bei „Dunkeldorf“.

Szene aus „Dunkeldorf“ des Theaterkollektiv Pièrre.Vers ©Ralf-Puder

Das Stück beschäftigt sich mit einem Anschlag, der bereits im Jahr 2000 am S-Bahnhof Wehrhahn stattfand. Eine Bombe explodierte und verletzte zehn Menschen zum Teil schwer.

24 Jahre später sind zahlreiche Ermittlungen geführt, aber längst nicht alle Fragen geklärt. Das Theaterkollektiv hat sich daher entschlossen, Beteiligte, die auf verschiedene Weise an der Aufarbeitung des Anschlags beteiligt waren und sind, in einem Kammerspiel zusammen zu bringen.

Die Kunst folgt hier ihren eigenen Wegen: „Zeit hat im Theater eine eigene Logik“, erklärt Seeger-Zurmühlen. „Insbesondere im Stück ‚Dunkeldorf‘, das in 90 Minuten den Bogen zwischen den Ereignissen des Wehrhahn-Anschlags aus dem Jahr 2000 bis heute spannt. Kunst hilft insofern beim Verlernen, Zeit in Abschnitte einteilen zu wollen und lebt das Jetzt.“

Nicht-weiße Lebensrealitäten im Kleingartenverein Hafenwiese

Auch im Kleingarten Hafenwiese soll die Perspektive gewechselt werden. Das Vereinsheim ist am 13. September Schauplatz des Stücks „In meiner Haut“ von und mit Maddy Forst.

Für einen Abend stecken wir alle in der gleichen Haut: „In meiner Haut“, von/mit Maddy Forst. Presse FAV 2024

Einmal in die Haut eines anderen schlüpfen, einmal zum Bespiel die Rolle eines nicht-weißen Menschen einnehmen, so lautet ihr Lernangebot. Forst will die Besucher:innen in der halb-interaktiven Inszenierung in eine Art Anhörung einbeziehen. Es gilt die Frage zu klären: Was ist deutsch?

Forst fragt zum Beispiel: Was würden wir tun, um zu überzeugen, dass wir deutsch sind. Wollen wir das überhaupt? Und was ist das denn, deutsch? Das Programmheft verspricht „eine lebhafte, turbulente Verhandlung nicht-weißer Lebensrealitäten.“

Lust auf die Offenheit und Neugier eines wunderbaren Publikums

Verändert ein solcher Ansatz auch das Festival selbst? Was haben die Macher:innen bei der Vorbereitung ver- oder auch gelernt? Mahlow: „Da gibt es einige Beispiele: von Genregrenzen, über Altersempfehlungen, bis hin zu Ticketpreisen haben wir viele Aspekte des (Ver-)Lernens im Rahmen des Festivals diskutiert.“

Knock Knock Knock: In der Performance erkunden Liza Baliasnaja und Vera Boitcova abweichende Wege der Gastfreundschaft ©Liza Baliasnaja_Vera Boitcova

Sie ist überzeugt, dass es sich gelohnt hat und dankbar für „die gemeinsame Auseinandersetzung mit den Künstler*innen, ihren beeindruckenden Arbeiten und ein wahnsinnig engagiertes Team.“

Nun hofft sie auf die  „Offenheit und Neugier eines wunderbaren Publikums“. Wer Lust hat gemeinsam einen (Ver)Lernprozess zu erproben ist beim Favoriten Festival 2024 richtig.

Mehr Informationen:

  • Das Favoriten-Festival findet vom 5. bis 15. September 2024 statt.
  • Alle Infos zum Programm und Tickets gibt es auf der Website Favoriten Festival

Anm.d.Red.: Haben Sie bis zum Ende gelesen? Nur zur Info: Die Nordstadtblogger arbeiten ehrenamtlich. Wir machen das gern, aber wir freuen uns auch über Unterstützung!

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Reaktionen

  1. FAVORITEN Festival zelebriert Visionen für die Zukunft und (Ver)Lernen auf globaler Ebene (PM)

    Das erste Wochenende des FAVORITEN Festivals liegt hinter uns, Zeit für einen kleinen Rückblick und Ausblick:

    Am Donnerstag, den 5. September 2024, wurde das FAVORITEN Festival – das Theaterfestival der Freien Szene NRWs, im Depot Dortmund eröffnet.

    In den Eröffnungsreden, moderiert von Ulrike Seybold, Leiterin des NRW Landesbüros Freie Darstellende Künste, bezogen sich die Redner*innen Jörg Stüdemann, Dezernent für Finanzen, Liegenschaften und Kultur der Stadt Dortmund, Dr. Michael Reitemeyer, Abteilungsleiter Kultur im Ministerium für Kultur und Wissenschaft das Landes Nordrhein-Westfalen, und Christian Esch, Direktor des KULTURsekretariats NRW, im Rückgriff auf das Motto (UN)LEARNING FOR POSSIBLE FUTURES, auf zu verlernende Selbstverständlichkeiten und ungerechte Normalitäten, die es gilt, gesellschaftlich zu überwinden, und betonten die Kraft von Kunst und Theater, Kategorien von Normalität zu hinterfragen.

    Das FAVORITEN Festival wird veranstaltet vom NRW Landesbüro Freie Darstellende Künste und dem Kulturbüro der Stadt Dortmund. Vertreterinnen aus dem Vorstand des Landesbüros betonten in ihrer Rede die Relevanz des Festivals für die Freie Szene und forderten eine stabile Finanzierung.

    Die künstlerische Leitung des Festivals Anne Mahlow, Sina-Marie Schneller und Margo Zālīte formulierte die Auseinandersetzung mit dem (Ver)Lernen als „kontinuierliche, lebendige, auch anstrengende und lustvolle Praxis“. Das Festival will „Gelerntes unter die Lupe nehmen, vielfältige Stimmen in den Vordergrund stellen und in den Vordergrund stellen, welche Zukunft wir uns imaginieren“.

    Das FAVORITEN Festival wird veranstaltet vom NRW Landesbüro Freie Darstellende Künste und dem Kulturbüro der Stadt Dortmund. Vertreterinnen aus dem Vorstand des Landesbüros betonten in ihrer Rede die Relevanz des Festivals für die Freie Szene und forderten eine stabile Finanzierung.

    Die künstlerische Leitung des Festivals Anne Mahlow, Sina-Marie Schneller und Margo Zālīte formulierte die Auseinandersetzung mit dem (Ver)Lernen als „kontinuierliche, lebendige, auch anstrengende und lustvolle Praxis“. Das Festival will „Gelerntes unter die Lupe nehmen, vielfältige Stimmen in den Vordergrund stellen und in den Vordergrund stellen, welche Zukunft wir uns imaginieren“.

    So waren am ersten Festival-Wochenende mit DAUGTHERS OF THE FUTURE von waltraud900 und DUNKELDORF von Theaterkollektiv Pièrre.Vers zwei ausdrucksstarke Beispiele für gesellschaftskritische Auseinandersetzungen und empowernde Zukunftsvisionen zu sehen. Unter dem Zeichen des internationalen Austausches standen die Präsentationen der (UN)LEARNING DISTANCES, einem Residenzprogramm zwischen Künstler*innen aus NRW und Künstler*innen aus Ghana, Finnland oder Chile. In vier Präsentationen wurde ihr globaler (Ver)Lernprozess deutlich.

    Ausblick:

    Noch bis zum 15. September zeigt FAVORITEN herausragende Arbeiten der Freien Szene und ist dabei weiterhin facettenreich und genreübergreifend:

    Am 12. September setzt sich WE LOVE 2 RAQS von der Choreografin Tümay Kilinçel mit dem sogenannten Bauchtanz auseinander, verhandelt orientalistischen und koloniale Bildstrukturen und feiert Tanz als feministische, selbstermächtigende Praxis.

    Am Freitag, den 13. September erwarten uns vielseitige künstlerische Formate in verschiedenen Spielorten: Das Performance-Kollektiv Anna Kpok setzt sich in ihrer mehrteiligen Recherche IM AUFTRAG SCHREIBEN mit dem Dortmunder Schriftsteller Josef Reding auseinander und lädt zu einem Ausflug ins Archiv des Fritz-Hüser-Instituts in Dortmund ein.

    Im Vereins KGV Hafen zeigt Maddy Forst mit IN MEINER HAUT ein „semi-interaktives Theaterstück, welches es auszuhalten gilt“, verhandelt nicht-weiße Lebensrealitäten und fragt: Was ist das denn, deutsch?

    Die Lecture Performance HACKER AUF ESTRADIOL von Maria Babusch befragt Akteur*innen aus Medien- und Technologiegeschichte und zieht Verbindungen zu Trans-Identitäten.

    In Auseinandersetzung mit kulturellem Erbe und deutscher Kolonialgeschichte erzählt Édith Voges Nana Tchuinang im Video-Essay DIE LETZTE KÖNIGIN die Geschichte Schwarzer Frauen und fragt, welche Rolle es für sie im deutschen Theater gibt.

    Am zweiten Wochenende (14. – 15.September) eröffnet das Festival mit dem Schwerpunkt „OST-WEST / WEST-OST Werkstatt“ einen bundesweiten Dialog zur Stärkung von Kultur und Demokratie. Welche Vorannahmen teilen das Land weiterhin in Ost und West? Vor dem Hintergrund rechter und populistischer Tendenzen möchte das FAVORITEN Festival – in Kooperation mit dem Chemnitzer Festival Der Rahmen ist Programm und der Koordinierungsstelle für Vielfalt, Toleranz und Demokratie der Stadt Dortmund – vielseitige Räume für Vernetzung schaffen. Dazu Anne Mahlow aus der künstlerischen Leitung: “Uns ist es ein besonderes Anliegen, gerade in diesen Zeiten einen gemeinsamen Dialog zu führen, nicht ü̈bereinander, sondern miteinander in Austausch zu kommen, sich in Ost wie West auf künstlerischer, diskursiver und aktivistischer Ebene zu vernetzen und sich gemeinsam die Frage zu stellen: Woran wollen wir uns nicht gewöhnen? Was ist die Vorstellung von Normalität, in der wir leben wollen, und was braucht es, um diese Vorstellung Realität werden zu lassen? Und das können wir nur zusammen machen und uns gemeinsam dafür engagieren.”

    Am Samstag finden im Depot ab 13 Uhr Workshops u.a. zum „Argumentieren gegen rechts“ oder zum „anregenden Wahlkampf“ und anschließend die Podiumsdiskussion „Kunst im Spannungsfeld in Ost und West“ statt. Das Filmprogramm „Überschreibungen“ lädt FAVORITEN gemeinsam mit dem Internationalen Frauen Film Fest Köln + Dortmund zur Auseinandersetzung mit ostdeutscher Gegenwart ein und zeigt Arbeiten der Künstlerinnen Kerstin Honeit und Susann Maria Hempel.

    Der Abend schließt mit der Performance MIT ECHTEN SINGEN, in der Tanja Krone Interviews mit Menschen aus ihrer sächsischen Heimat performativ in Szene setzt.

    Am Sonntag stehen dann alle Zeichen auf Fußball und Kunst: Auf dem Platz des FC Roj in der Ebertstraße lädt das Festival antifaschistische und queere Fußballvereine und Fanprojekte zu einem Fußballturnier ein. Am Nachmittag diskutiert das „Torgespräch über Kunst, Sport und Gefühl“, wie sich Gruppen offen und solidarisch zusammenfinden können. In der Outdoor-Performance DEUTSCHLAND. EIN LABERMÄRCHEN. setzt sich mit Nationalstolz angesichts des Sommermärchens 2006 auseinander. Ein besonderer Geheimtipp ist das Abschlusskonzert mit der Bochumer Rapperin Marnele ab 19 Uhr. Alle Veranstaltungen an diesem Sonntag sind mit freiem Eintritt.

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