Bündnis organisiert in Dortmund Aktionswoche zum Weltflüchtlingstag

Festung Europa: Unterschriftensammlung gegen die Verschärfung des Europäischen Asylrechts

Die Schicksale von 6000 getöteten Flüchtlingen werden vor der Reinoldikirche dokumentiert.
Auch in diesem Jahr wird wieder das Mahnmal für die Toten an Europas Grenzen vor der Reinoldikirche in Dortmund an die Schicksale der verstorbenen Migrant:innen erinnern. Die Aktionswoche bietet zahlreiche Veranstaltungen, um ihrer zu gedenken. Archivfoto: Alexander Völkel für nordstadtblogger.de

Die Zahl der Menschen, die auf dem Weg nach Europa sterben, steigt und steigt. Seit 1993 sind es mehr als 60.200 Tote. Noch nie sind so viele auf der Flucht gestorben wie im Jahr 2023. Männer, Frauen, Jugendliche, Kinder, Babys. Sie verloren ihr Leben im Meer, an den europäischen Außengrenzen, in Lastwagen, in Wäldern auf der Suche nach einem sicheren Ort. Das Bündnis „Beim Namen nennen“, welches mittlerweile in 14 Städten in Deutschland und der Schweiz aktiv ist, will anlässlich des Weltflüchtlingstages am 20. Juni mit diversen Veranstaltungen in einer Aktionswoche unter anderem in Dortmund auf diese unhaltbaren Zustände aufmerksam machen. Alle Aktionen im Rahmen der Aktionswoche sind für die Teilnehmer:innen kostenfrei.

Für die Einhaltung und Wahrung der Menschenrechte und der Menschenwürde

Neben der Installation des Mahnmals vor der Reinoldikirche, das dort vom 14. bis 20. Juni zu sehen sein wird, steht am Sonntag eine thematischer Gottesdienst mit dem Dortmunder Soziologen Professor Dr. Aladin El-Mafaalani auf dem Programm.

Archivfoto: Alexander Völkel für nordstadtblogger.de

Wer sich an der Errichtung des Mahnmals beteiligen will, hat in der Aktionswoche täglich von 10 bis 18 Uhr vor oder in der Reinoldikirche die Möglichkeit dazu, die Namen der Verstorbenen auf Stoffstreifen zu schreiben, welche dann das Mahnmal weiter ergänzen werden.

Das Bündnis „Beim Namen nennen“ kämpft für die Einhaltung und Wahrung der Menschenrechte und der Menschenwürde. Die Beteiligten haben ein Manifest mit dem Titel „Menschen schützen – auch an den Grenzen“ verfasst.

Bündnis ruft zur Unterzeichnung des Manifests „Menschen schützen – auch an den Grenzen“ auf

Die Mitglieder fordern Gleichgesinnte auf, das Manifest bis zum 24. Juni zu unterzeichnen. Anschließend soll es Ende Juni als Petition an die deutsche Bundesregierung, den schweizerischen Bundesrat, das EU-Parlament und den EU-Rat geschickt werden.

Foto: Bündnis „Beim Namen nennen“

Das Manifest kann online unter beimnamennennen.de unterschrieben werden, in gedruckter Form – mit einem Zusatz der Dortmunder Gruppe – als Petition per Mail bestellt oder von Ihnen selbst heruntergeladen werden. Außerdem liegt es in der Reinoldikirche aus.

Bitte schicken Sie Ihre und alle gesammelten Unterschriften bis zum 24. Juni postalisch an: Ev. Stadtkirche St. Reinoldi / Aktion Beim Namen nennen, Ostenhellweg 2, 44135 Dortmund oder per Mail an: p.stamm@fluechtlingshilfe-aplerbeck.de

Festung Europa: Ein klares Nein zu Abschreckung und Abschottung

Durch die beschlossene Verschärfung des europäischen Asylrechts, sollen Geflüchtete, auch Familien mit Kindern, zukünftig an den EU-Außengrenzen in riesigen Lagern unter haftähnlichen Bedingungen untergebracht werden, um sie möglichst rasch abschieben zu können.

Foto: Bündnis „Beim Namen nennen“

„Weitere Verschärfungen kommen dazu. Elementare Grundrechte, die jeder Person zustehen, werden verletzt – schon jetzt. Das ist eine Krise der Menschlichkeit und es ist eine Krise der Menschenrechte“, heißt es seitens des Bündnisses.

„Wir gedenken der Toten an unseren Grenzen, protestieren gegen das Unrecht und fordern „Menschen schützen – auch an den Grenzen“ – mit verschiedenen Veranstaltungen und einem Manifest.“

Zur Erinnerung an die im Mittelmeer und an den Grenzen Europas verstorbenen Flüchtlinge. Als Protest gegen menschenrechtsverletzende und tödliche Situationen an den EU-Grenzen. Als Plädoyer für eine Politik, die die Menschenwürde aller wahrt und sich für den Erhalt der Menschenrechte an den Grenzen und in Deutschland einsetzt.

Am Mittwochabend startet eine 24 Stunden Gedenkaktion in der Reinoldikirche

Grafik: Bündnis „Beim Namen nennen“

Gegen das Vergessen: Einen Tag und eine Nacht sollen so viele Namen wie möglich aus der Liste der Todesfälle vorgelesen, Ort und Umstände ihres Todes genannt werden.

Nicht alle Namen der Toten liegen vor, manchmal ist es nur das bloße Ereignis – ein Zeitpunkt oder die vermutliche Herkunft der Geflüchteten. Auch ihrer soll gedacht werden.

Ab 20 Uhr wird deshalb jeweils zur halben Stunde eine Kerze angezündet und es wird still. Immer zur vollen Stunde ehren Musikerinnen und Musiker das Leben der Toten und lassen ihre Namen und Schicksale nachklingen.

Das sind weitere Highlights der Aktionswoche

„Sono acqua“ hat der italienische Komponist Gianluca Castelli sein Stück für acht Celli genannt und es den im Mittelmeer umgekommenen Migrant:innen gewidmet. Als er von der Aktion „ 24h am Stück Namen lesen“ erfuhr, stellte er seine Komposition, uraufgeführt im März 2023 in der Tonhalle Duisburg, acht Cellist:innen der Dortmunder Philharmoniker zur Verfügung.

Bei einer Veranstaltung in der Reinoldikirche am 17. Juni wird es um das Thema Kirchenasyl gehen. Foto: Bündnis „Beim Namen nennen“.

In seiner Gegenwart wird das Konzert am Mittwoch, 19. Juni um 23 Uhr ein Höhepunkt bei der Aktion „Beim Namen nennen“ und dem dazugehörigen Lesemarathon sein. Mit viel besonderer Musik weiterer Philharmoniker, Engagierter von Musik Dortmund, Kirchenmusiker:innen, Solisten wie Frank Scheele werden die Toten an den europäischen Grenzen geehrt.

Beeindruckend ist auch, wie breit der zivilgesellschaftliche Schulterschluss in Dortmund und darüber hinaus dazu ist: Beim Namen lesen beteiligen sich neben Polizeipräsident Gregor Lange (Donnerstag, 20. Juni 9.30 Uhr) die Bürgermeisterinnen von CDU, Ute Mais, und den Grünen, Barbara Brunsing, der Kulturdezernent Jörg Stüdemann, Theaterdirektor Tobias Ehinger sowie Schauspielintendantin Julia Wissert.

Außerdem sind Mitglieder des Integrationsrates der Stadt Dortmund und der theologische Vizepräsidenten der westfälischen Landeskirche Ulf Schlüter (Donnerstag, 20. Juni, 19.30 Uhr) mit von der Partie.

Lesung mit Seenotretter Adrian Pourviseh am 21. Juni

Adrian Pourviseh wird von seinen Erlebnissen als Seenotretter bei Sea Watch berichten. Foto: Sea Watch

Ein weiterer Höhepunkt der Woche wird die Lesung mit Künstler und Aktivist Adrian Pourviseh am 21. Juni um 19.30 Uhr sei. Pourviseh wird von seinem aktuellen Einsatz auf der Sea-Watch berichten und aus seiner Graphic Novel „Das Schimmern der See – als Seenotretter auf dem Mittelmeer“ lesen und Bilder zeigen.

Die Aktion „Beim Namen nennen“ findet statt in Basel, Berlin, Bern, Braunschweig, Chur, Dortmund, Essen, Frankfurt, Genf, Kehl, Lausanne, Lörrach, Luzern, Neuchâtel, St. Gallen, Thun und Zürich in Kooperation mit UNITED for Intercultural Action.

Eine Übersicht über alle Veranstaltungen der Aktionswoche in Dortmund finden Interessierte hier.

Weitere Informationen: sanktreinoldi.de und beimnamennennen.de

 


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Beeindruckendes Mahnmal der Menschenwürde zum Weltflüchtlingstag vor der Reinoldikirche


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Reaktionen

  1. Ulrich Sander

    Das ist eine wichtige Aktion. Gerade nach der Wahl. In Umfragen liegt die AfD bundesweit in diesen Tagen bei 16 Prozent, – und es wirkte wie ein Schock, dass sie auch bei der EU-Wahl am Sonntag 16 Prozent der Stimmen bekam. Sie bekam jedoch nicht die Stimmenzahl entsprechend ihren höchsten Zustimmungsraten. Die sanken seit den Enthüllungen von Correktiv im Herbst 2023 von 25 Prozent auf das jetzige Niveau. Die Aktionen von Millionen Menschen hatten also doch auch Erfolg. – Mit der Wahl zum EU-Parlament sanken insgesamt die Anteile von Abgeordneten der Friedensbewegung; der Frieden ist die wichtigste Voraussetzung fr die Menschenrechte. Die LINKE ist halbiert, aber immer noch mit Anti-Kriegs-Programm ausgerüstet. Das BSW lag bei über 5 Prozent mit richtigen Antikriegsaussagen, aber fatalen Äußerungen der Fremdenfeindlichkeit. Insgesamt also wenig Friedenspositionen und massenhaft Fremdenfeindlichkeit, ja mehr Rassismus. – Das Hauptmotiv der AfD-Wähler/innen scheint die fremdenfeindliche Ausrichtung der Ultrarechten zu sein. Der Kampf für die Menschenwürde geht weiter. Jetzt in Dortmund und Ende Juni in Essen z.B.

  2. Till Strucksberg

    Unehrlich!
    Ich empfinde es als unehrlich und zynisch, wenn PolitikerInnen vor Ort sich in die Proteste gegen das Sterben, nein: das sterben Lassen im Mittelmeer und an den anderen Grenzen der EU einreihen wollen, während doch ihre Parteien genau dafür verantwortlich sind. Sie haben dem neuen Asylpakt der EU (GEAS) zugestimmt, der „den Zugang zum Asyl in der Europäischen Union erschwert und zum Teil auch unmöglich macht“ (ProAsyl). Sie stimmen Abkommen mit Diktatoren und Menschenrechtsverletzern zu und geben ihnen Millionen, damit sie Flüchtende abfangen und in Lager sperren. Jetzt lesen diese PolitikerInnen („die Bürgermeisterinnen von CDU, Ute Mais, und den Grünen, Barbara Brunsing“) Namen von Getöteten vor, für deren Tod sie mit verantwortlich sind. Sie gehören von dieser Aktion ausgeschlossen.

  3. Gerechtigkeit erstreiten, das Sterben beenden Prof. Dr. Aladin El-Mafaalani spricht zum Internationalen Weltflüchtlingstag in der Reinoldikirche (PM)

    Name, Herkunft, Fundort, Todesursache: Mit einem eindrucksvollen Zeichen gegen das Vergessen hält die Reinoldikirche in diesen Tagen die Erinnerung an mehr als 60.000 Menschen wach, die auf der Flucht vor Armut, Krieg und Verfolgung an den europäischen Außengrenzen umgekommen sind. Im Auftaktgottesdienst zum Internationalen Weltflüchtlingstag unterstrich Prof. Dr. Aladin El-Mafaalani am Sonntag, 16. Juni 2024, in seiner Kanzelrede den Wert dieser Erinnerungskultur – und des damit verbundenen Kampfes gegen das Sterben.

    Wie im Vorjahr hat das Dortmunder Aktionsbündnis „Beim Namen nennen“ gemeinsam mit Bürger*innen, Schüler*innen und weiteren engagierten Menschen, die Daten von Umgekommenen auf Stoffstreifen geschrieben und für jeden Passanten unübersehbar vor der Kirche angebracht. „Das Schreiben geht die ganze Woche weiter, weil das Sterben nicht aufhört“, sagte Susanne Karmeier, Pfarrerin in St. Reinoldi, im Gottesdienst zum Internationalen Weltflüchtlingstag. Mehr als 62.620 Menschen sind seit 1993 beim Versuch, vor Armut, Krieg und Verfolgung nach Europa zu fliehen, ums Leben gekommen. Noch nie waren es so viele wie im vergangenen Jahr.

    Sich engagieren, helfen oder bekämpfen, zumindest wegschauen – für Gastredner Prof. Dr. Aladin El-Mafaalani, Inhaber des Lehrstuhls für Migrations- und Bildungssoziologie TU Dortmund, sind diese Extreme natürliche Pole des menschlichen Gemüts: „Unsere Gesellschaft bewegt sich zwischen absoluter Willkommenskultur und harter Abschottung. Wohin das Pendel im Moment ausschlägt, zeigt sich auch in der Verrohung unserer Sprache.“ Der Soziologe beobachtet, dass Wörter wie „Flüchtlingskrise“ sich früher auf den Auslöser der Flucht bezogen, heute aber die Geflüchteten als Auslöser der Krise meinen. „Die Mauern und Zäune, welche die Außengrenzen der EU einfassen, schützen nicht vor Krieg oder Verfolgern, sondern vor Menschen, die vor Krieg und Verfolgung fliehen. Wir bekämpfen Flüchtlinge und nicht die Missstände, warum sie hier sind“, so El-Mafaalani, der seine Kanzelrede trotz der erschütternden Zahlen mit Worten der Motivation für die beteiligten Flüchtlingsorganisationen schloss: „Suchen Sie den konstruktiven Streit. Historisch gab es nie einen sozialen Fortschritt, ohne dass vorher um Gerechtigkeit gestritten wurde.“ Begleitet wurde der Gottesdienst durch den Spoken-Word-Poeten Hannes Lage sowie die Sängerin Esperance Mirindi.

    Noch bis Ende der Woche wird an und in der Reinoldikirche der Verstorbenen gedacht, aber auch gegen das Sterben protestiert. Ab Mittwoch, 19. Juni, 20 Uhr, wird hier 24 Stunden lang die Liste der Todesfälle von engagierten Bürgerinnen und Bürgern sowie Menschen der Dortmunder Stadtgesellschaft verlesen. Online und analog vor Ort kann man sich für die Einhaltung und Wahrung der Menschenrechte und –würde einsetzen und dazu das Manifest „Menschen schützen – auch an den Grenzen“ unterschreiben.

    Weitere Infos: http://www.sanktreinoldi.de

  4. Circle of Silence – Mahnwache am Weltflüchtlingstag (PM Reinoldikirche)

    Am kommenden Donnerstag, 20. Juni, dem internationalen Weltflüchtlingstag, findet am Mahnmal der Menschenwürde vor der Reinoldikirche eine Mahnwache statt.

    Circle of Silence – Mahnwache am Weltflüchtlingstag
    Donnerstag, 20. Juni, 12-12.30 Uhr vor Reinoldikirche

    Wer: Ev. Stadtkirche St. Reinoldi und das Aktionsbündnis Beim Namen nennen mit den Flüchtlingsinitiativen in Dortmund, dem Diakonischen Werk Dortmund und der Ev. Kirche in Dortmund
    Ort: Ev. Stadtkirche St. Reinoldi, Ostenhellweg 2, 44263 Dortmund

    Eine halbe Stunde schweigend im Kreis stehen. Es beginnt und endet mit Trommeln. Gemeinsam ein Zeichen setzen gegen die Ausgrenzung und den Tod von Geflüchteten an unseren europäischen Grenzen und bei uns. Mitten in der Stadt in der Fußgängerzone. Unrecht sichtbar machen. Appellieren an Menschlichkeit und Menschenwürde. Wer mag, kann sich dazu stellen. In der Offenen Kirche St. Reinoldi werden zeitgleich 24 Stunden ohne Unterbrechung die Namen der Toten gelesen. Vor und nach der Mahnwache können alle, die wollen, den Namen von Verstorbenen auf einen Stoffstreifen schreiben und am Mahnmal anbringen. Das Manifest „Menschen schützen – auch an den Grenzen“ kann unterschrieben werden. Einfach kommen, hinhören und mitmachen.

    Infos: Susanne Karmeier, Pfarrerin an der Ev. Stadtkirche St. Reinoldi,
    karmeier@sanktreinoldi.de, Telefon: 0231.91 25 337

  5. Lesung am Freitag mit Grahic Novel Ausschnitten des Künstlers und SeaWatchAktivisten Pourviseh (PM Reinoldikirche)

    Am kommenden Freitag, 21. Juni, beschließen wir als Aktionsbündnis „Beim Namen nennen“ zum internationalen Weltflüchtlingstag die Woche mit einem bebilderten Lesung zu Adrian Pourvisehs Graphic Novel „Das Schimmer der See – als Seenotretter auf dem Mittelmeer“ in der Reinoldikirche. Der Künstler ist dann gerade erst von seinem letzten Einsatz auf der Sea-Watch3 zurück.

    Lesung mit Adrian Pourviseh zu seiner Graphic Novel „Das Schimmern der See – als Seenotretter auf dem Mittelmeer“

    Freitag, 21. Juni, 19.30 Uhr vor Reinoldikirche

    Wer: Ev. Stadtkirche St. Reinoldi und das Aktionsbündnis Beim Namen nennen mit den Flüchtlingsinitiativen in Dortmund, dem Diakonischen Werk Dortmund und der Ev. Kirche in Dortmund mit Unterstützung durch schauraum comic+cartoon
    Ort: Ev. Stadtkirche St. Reinoldi, Ostenhellweg 2, 44263 Dortmund

    Atemlos und beklemmend sind die Schilderungen der Rettungseinsätze der Sea-Watch 3-Crew vor der Küste von Sizilien. Der Künstler Pourviseh hat sie beeindruckend ins Bild gebracht. Wird etwas davon zeigen und spricht – selbst als Seenotretter an Bord – vom Leid der Flüchtenden und von der Not der Rettenden. Ein Augenzeugenbericht über den schrecklichen Alltag an den EU-Außengrenzen. Und ein lautstarker Aufruf zu mehr Menschlichkeit und gegen das Wegschauen. Pourviseh wird auch von seiner aktuellen Mission von Sea-Watch berichten, von der er gerade erst zurück gekehrt ist.

  6. Schicksale beim Namen nennen 24 Stunden, 62.620 Opfer – Dortmunder lesen Namen und Todesumstände in der Reinoldikirche vor (PM

    Eine Zahl, die steigt und steigt und steigt. Bisher niemals so schnell, wie im vergangenen Jahr. 62.620 dokumentierte und beim Netzwerk United in der Schweiz registrierte Todesfälle gab es seit 1993 an den Außengrenzen der Europäischen Union. Die Dunkelziffer dürfte sehr viel höher sein, aber um wenigstens die identifizierten Todesopfer zu würdigen, haben Evangelische Kirche, Diakonie, der Verein Grenzenlose Wärme e.V., Train of Hope und weitere engagierte Dortmunder Flüchtlingshilfeorganisationen auch in diesem Jahr die Aktion „Beim Namen nennen“ durchgeführt. 24 Stunden lang haben Mitglieder der Organisatoren, Bürgerinnen und Bürger sowie Menschen der Dortmunder Stadtgesellschaft in der Reinoldikirche Namen verlesen, die Herkunft, Ort und Umstände des Todes. Unter den Menschen, die vom 19. bis 20. Juni jeweils rund 30 Minuten lasen, befanden sich u.a. Julia Wissert, Intendantin Schauspiel Dortmund, Tobias Ehinger, Direktor Theater Dortmund, Ulrich Langhorst, Vorsitzender des Sozialausschusses der Stadt Dortmund, der Polizeipräsident Gergor Lange sowie zahlreiche Lokalpolitiker, darunter Bürgermeisterin Ute Mais, sowie Stadtteilbürgermeister*innen, Stadtdirektor Jörg Stüdemann, Ulf Schlüter, Theologischer Vizepräsident der Evangelischen Kirche von Westfalen, und die Diakonie-Geschäftsführer Uta Schütte-Haermeyer. Rund um die Uhr unterbrach stets ein Musikstück die Lesung, darunter Gruppen der Dortmunder Philharmoniker, Kirchenmusiker*innen, Einzelkünstler und Musikschüler*innen.

    Im Mittelmeer gekentert oder an einem Grenzfluss in Osteuropa ertrunken, mittellos und unterversorgt verstorben, in einem LKW erstickt oder Suizid in Abschiebehaft. Männer, Frauen, ganze Familien, Babys: Die einzelnen Schicksale sind so erdrückend, wie ihre schiere Zahl. Noch nie war diese so hoch wie in 2023, Menschen flohen aus Syrien, Iran, Afghanistan, Eritrea, Kurdistan – nicht alle kamen an. Die EU verschärft das Asylwesen weiter, auch dagegen wendet sich in der Reinoldikirche in diesen Tagen der Protest. Am vergangenen Wochenende sagte der Soziologe Prof. Dr. Aladin El-Mafaalani im Auftaktgottestdienst: „Schauen sie sich im Internet die Fotos an. Der Grenzwall, den Donald Trump zu Mexiko zu Ende bauen wollte, steht schon längst fertig in Osteuropa.“ Mit der Aktionswoche zum Internationalen Weltflüchtlingstag kämpfen Reinoldikirche und die beteiligten Organisationen um einen besseren Schutz der Menschen, die sich weiterhin auf den Weg machen.

  7. Kanzelrede von Prof. Aladin El-Mafaalani zum Weltflüchtlingstag (Wortlaut)

    Meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Menschen,

    Ihnen ist sicher aufgefallen, dass wir zwischen Willkommenskultur und Abschottung hin- und herschwanken. Das war so 2015, als die Menschen aus Syrien kamen, und auch 2022, also die Menschen aus der Ukraine kamen. Auf der einen Seite: große Empathie, große Befürwortung, Refugees welcome, Teddybären, Ehrenamt, sogar private Aufnahme von Menschen. Auf der anderen Seite: Diskussionen über Grenzsicherungen, Abschiebungen, Remigration, Sozialtourismus usw. Abwehr, bis hin zu Gewalt.

    Es gibt diese beiden Positionen, zwei Pole. Und es gibt viele dazwischen, aber die Menschen, die irgendwo dazwischenstehen, sind häufig still und fallen nicht auf. Man hört eher die Extreme.

    Warum ist das so? Ich würde sagen, weil das Thema Flucht und Migration tatsächlich sehr kompliziert und sehr widersprüchlich ist. Diese extremen Ausdrücke– und auch das Stillsein – sind aus meiner Sicht sehr menschlich.

    Es ist kompliziert. Lassen Sie es mich heute komplex halten. Ich möchte über 3 Themen sprechen: (1) globale Ungleichheit und Gerechtigkeit, (2) staatliche Grenzen und (3) Not und Krieg. Es ist 1 Thema mit 3 Kapiteln.

    Ich verrate Ihnen vorab, worauf es nicht hinausläuft: Es gibt keine Lösung, es bleibt mehrdeutig. Aber diese Eindeutigkeit in der heute darüber gesprochen wird, der Zugenschlag, ist keine Lösung, sondern eher Teil des Problems… Am Ende komme ich darauf zurück.

    (1) GLOBLE GEREICHTIGKEIT:

    Die Lebenschancen eines Menschen hängen nach wie vor hauptsächlich von einem Faktor ab: Das Geburtsland. Lebenserwartung, Bildungschancen und auch Einkommen und Wohnstand hängen stark von dem Ort ab, an dem ich lebe – Bürgergeldempfänger in Deutschland gehören nach Einkommen global betrachtet zu den oberen 25%. Entfaltungsmöglichkeiten und Lebenschancen im weitesten Sinne sind vom Geburtsland geprägt. Und Krieg natürlich auch.

    Und das weiß auch jeder und jede. Eigentlich. Aber man kann das gut verdrängen – bis die Menschen „vor der Tür“ oder an der Grenze stehen: Z.B. als man den leblos am Strand liegenden Körper des 2.-Jährigen Alan Kurdi Anfang September 2015 überall sah, oder auch die Kriegsbilder und die vielen Menschen auf der Balkanroute… da konnte man nichts mehr verdrängen. Erst sah man sie im Fernsehen, dann an unseren Bahnhöfen, gerade auch hier in Dortmund… Man sah Menschen, die großes Pech, ein katastrophales Schicksal hatten, die nichts dafürkonnten. Diese Menschen wollten dieses Schicksal aber nicht hinnehmen. Die Idee, ich nehme mein Leben in die eigenen Hände; ich möchte es anders und gehe dafür auch Risiken ein. Das ist legitim, das ist richtig – nach unseren eigenen Maßstäben.
    Auch wenn man nicht bewusst daran dachte, so lassen sich die extremen Reaktionen darauf nur damit erklären, dass man auch ein schlechtes Gewissen hatte:

    die einen waren durch ein schlechtes Gewissen getrieben und mussten etwas tun. Uns geht es so gut, ihnen geht es so schlecht. Beides ist weitgehend Schicksal, historisches Glück oder Pech, niemand kann etwas dafür. Dafür stand der Satz der Kanzlerin Angela Merkel „Wir schaffen das“. Also erst das Helfend, dann schauen wir, dass und wie wir es hinkriegen.
    Die anderen haben genau das gleiche wahrgenommen, aber dann kam direkt der Impuls: In einer total ungerechten Welt sind wir die Glücklichen, und wenn man das so legitimiert, dann könnten alle Armen kommen – nein. Das kann man auch als schlechtes Gewissen interpretieren, aber mit einer ganz anderen Reaktion. Es war ein „Nein, das geht so nicht“. Dafür stand der Satz des Bundespräsidenten Joachim Gauck „Unser Herz ist weit. Doch unsere Möglichkeiten, sie sind endlich.“

    Das sind zwei zentrale Formulierungen – von den beiden damals wichtigsten Personen im Lande, die beide Perspektiven, beide Pole in einen humanen Zungenschlag brachten. Vergleichen Sie es mit der Sprache von heute… (ich habe einige Beispiele eingangs zitiert)
    Dass die Lebenschancen der meisten Menschen weitgehend per Geburt feststehen, ist gerade mit dem europäischen Wertesystem kaum vereinbar. Das merkt man auch daran, dass dann häufig gesagt wird: ich kann die Menschen persönlich gut verstehen, ich würde es auch so machen,
    ABER…

    Damals sprachen wir von Flüchtlingskrise. Aber was genau meinen wir damit? Für die einen die Krise für die Flüchtlinge, fehlender Schutz der Rechte für Menschen auf der Flucht. Für die anderen sind die Flüchtlinge, die die Krise sind. Beides hängt auch mit Grenzen zusammen, und damit wäre ich schon beim 2. Punkt:

    (2) GRENZEN.

    Überlegen Sie bitte mal: Was glauben Sie, wie viel Prozent der Menschen weltweit sind Migranten, leben also nicht in dem Land in dem sie geboren sind? Überlegen Sie kurz, am besten nicht laut sagen…

    Es ist eine erstaunliche Zahl: Nur etwa 4% der Weltbevölkerung ist migriert, lebt also nicht im eigenen Geburtsland. Kaum etwas steht stärker im Widerspruch mit der Vorstellung, wir würden im Zeitalter der Globalisierung leben. Dieser geringe Wert hat mit 2 Dingen zu tun: erstens wollen die meisten Menschen in ihrer Heimat bleiben. Und zweitens fehlen denjenigen, die ihre Heimat verlassen wollen würden, die Möglichkeiten und Mittel.
    Wenn Sie das nächste Mal von Push- und Pull-Faktoren hören, dann denken Sie bitte an Folgendes: Diese Theorie erklärt super die 4%, die migriert sind, aber überhaupt nicht die 96%, die nicht migrieren. Ein Erklärungsansatz, der nur die kleinere Seite erklärt, ist mittelmäßig…

    Und damit sind wir bei Grenzen. Denn: Grenzen haben sich grundlegend verändert! Das fortgeschrittene Zeitalter der Globalisierung geht nicht nur einher mit einer Entgrenzung, der Zunahme von Freizügigkeit und Mobilität, sondern ist gleichzeitig gekennzeichnet durch verstärkte Grenzsicherung.

    Mauern und Zäune waren früher primär dafür da, vor feindlichen Angriffen zu schützen. Über die Jahrzehnte hinweg haben sie ihre Funktion völlig verändert: Mauern und Zäune sind zunehmend dafür da, vor Menschen zu schützen; vor bestimmten Menschen. Grenzen sind heute „Sortiermaschinen“ – wie es mein Kollege Steffen Mau bezeichnet hat. Sie sortieren Menschen. Dadurch ermöglichen sie die private und berufliche Mobilität von Privilegierten (gerade der deutsche Pass ist in dieser Hinsicht der tollste: Visafreie Einreise in fast alle Länder der Welt). Gleichzeitig werden die Schwächsten ausbremsen, nämlich von Armut oder Krieg bedrohte, kranke oder geringqualifizierte Menschen. Es sind daher auch Wohlstandsgrenzen, die die internationalen Ungleichheiten zwischen arm und reich stabilisieren. Es sind Grenzen für Menschen. Und zwar für die Schwächsten.
    Das ist in den vergangenen Jahrzehnten passiert, ohne dass wir es gemerkt hätten, ohne dass wir darüber geredet hätten. Ich bin mir sicher, dass viele darüber noch kaum nachgedacht haben.

    Und das Mittelmeer ist nicht nur eine schwer zu überwindende, sondern eine tödliche Grenze. Sie ist es auch deshalb, weil es über den Landweg kaum möglich ist, die EU und Deutschland zu erreichen. (googlen Sie gerne mal EU-Grenzzaun und schauen Sie sich die Bilder an – was Trump an der Grenze zu Mexiko begonnen hat, haben wir in der EU längst).

    Und ich bitte Sie auch Folgendes mal zu bedenken: Viele ärgern sich, dass man abgelehnte Asylbewerber kaum abschieben kann. Ich sage Ihnen etwas: Das hängt damit zusammen, wie Grenzen funktionieren. Das merken wir dann, wenn wir uns in diesem „kleinen“ Bereich „benachteiligt“ fühlen von Grenzen, die uns aber in aller Regeln massiv privilegieren – und merken gar nicht, was wir da sagen.

    (3) Not und Krieg

    Die Flüchtlingszahlen müssen sinken. Das hört man überall. Dafür überlegen wir uns jetzt Strategien: Asyl-Kompromiss; Sichere Herkunftsstaaten; Abschiebungen; Uganda-Modell.
    Horst Seehofer hatte damals den Vorschlag einer Obergrenze genannt. Das waren damals 200.000 pro Jahr – so war sein Vorschlag.

    Wissen Sie, dass wir im Prinzip in jedem Jahr darunter lagen – über die Jahrzehnte. Wenn es 3 Kriege nicht gegeben hätten: Bosnien, Syrien, Ukraine. Ohne die Menschen, die aufgrund dieser 3 Kriege gekommen sind, hätten wir in keinem Jahr überhaupt 200.000 Geflüchtete aufgenommen. Aber durch diese 3 Kriege hatten wir in einzelnen Jahren ein Vielfaches mehr. Und selbst mit diesen 3 Kriegen lag der Durchschnittswert der Flüchtlinge seit 1990 bei irgendwas zwischen 200.000 und 250.000 (inklusive der Menschen aus der Ukraine, die aber juristisch gesehen keine Flüchtlinge sind – ohne Ukrainer wären es trotz der Kriege immer noch weniger als 200.000 pro Jahr im Durchschnitt.)

    Wie will man nun Kriege verhindern? Was hätte man mit dem Wissen von heute damals anders machen können? Man sagt so schnell: Die Nachbarländer sollen es regeln. Aber die sind, obwohl wir Menschen aufgenommen haben, schwer überlastet.

    Ich fasse zusammen: Die Weltgesellschaft ist ungerecht (1), nationalstaatliche Grenzen sichern dieses Unrecht ab (2), Kriege oder Umweltkatastrophen lassen dieses System instabil werden (3).

    Und damit komme ich zum Schluss:

    Es besteht kein Zweifel, dass wir in Deutschland vielerorts an der Belastungsgrenze sind. Und das erkennt man an handfesten Kriterien: Wohnraum und Unterbringung – das wissen Sie; es fehlen Schul- und Kitaplätze – Tausende schulpflichtige Kinder haben in Deutschland keinen Schulplatz (in Dortmund ein paar Hundert).

    Ich hatte es zu Beginn gesagt: Es gibt keine einfache Lösung, noch nicht. Es ist mehrdeutig, widersprüchlich. Alle unsere Lösungsansätze sind sehr klein und sehr kurz gedacht. Aber die Einseitigkeit und Kurzfristigkeit in der heute darüber gesprochen wird, wird dieser Komplexität nicht gerecht – und ist deshalb auch Teil des Problems.
    Aber klar ist: Man sollte nicht in die einfachen Fallen tappen. Defacto werden heute Flüchtlinge bekämpft, statt Missstände. Die Menschen werden zum Problem gemacht.

    Viele meinen jetzt: Oh je, da kann man nichts machen. Ich würde sagen, das Gegenteil ist der Fall. Wenn es widersprüchlich und mehrdeutig ist, muss man sich einmischen. Dann muss man reden und streiten. Wenn die klaren Lösungen auf der Hand liegen, dann kann man Experten entscheiden lassen. Aber wenn es um Freiheit oder Gerechtigkeit geht, ohne klare Lösung, dann sollte man konstruktiv streiten. Sozialer Fortschritt wurde immer erstritten: Freiwillig und nachgiebig haben meines Wissens weder Männer, noch Klerus und Adel Macht abgegeben.

    In diesem Sinne verstehe ich Ihr Engagement und das Gedenken am Weltflüchtlingstag. Und deshalb bin ich gerne gekommen. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

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