Die Situation ist dramatisch, der angekündigte Schritt drastisch: Die Stadt Dortmund hatte am Mittwoch um 16 Uhr angekündigt, um 18 Uhr die Erstaufnahmeeinrichtung (EAE) für Flüchtlinge in Hacheney zu schließen, weil sie die dramatische Überbelegung nicht mittolerieren könne. Denn die Einrichtung, die 300 Plätze plus 50 Reserveplätze hat, ist dramatisch überbelegt. 870 Menschen haben in der Nacht zu Mittwoch dort übernachtet.
Angekündigte Schließung sorgte für Bewegung bei der Bezirksregierung
Der angekündigte drastische Schritt zeigte offenbar Wirkung: Kurz vor 18 Uhr kam die Nachricht aus Arnsberg, dass nun insgesamt 700 Plätze in Landeseinrichtungen zur Verfügung gestellt würden und ein Großteil der Menschen aus Hacheney abgeholt werden kann. Damit schloss die Einrichtung nicht – vorerst.
„Es ist der Worst Case. Aber ich kann die Verantwortung dafür nicht mehr übernehmen“, machte die zuständige Dortmunder Dezernentin Diane Jägers in einer eilig angesetzten Pressekonferenz im Rathaus deutlich.
Denn die Belegung sei seit geraumer Zeit ein Verstoß gegen das Baurecht. Man habe sich schon fast mit einer Belegung von 100 Flüchtlingen mehr als genehmigt abgefunden. „Aber nicht mit 400 mehr“, betonte Jägers.
Dezernentin Diane Jägers will das Haftungsrisiko nicht mehr tragen
Denn wenn etwas passiere, sei sie haftbar. Die mögliche Anklage: Fahrlässige Körperverletzung oder Tötung durch Unterlassen – gerade bei einem umzäunten Gelände wie in der EAE in Dortmund mit entsprechend begrenzten Flucht- und Rettungswegen.
Jägers sendete damit ein deutliches Zeichen nach Arnsberg und Düsseldorf. Denn von den 8800 Landesplätzen für Flüchtlinge stehen aktuell 2800 nicht zur Verfügung, weil die Einrichtungen wegen Erkrankungsfällen vom Netz gegangen sind. Benötigt würden aber landesweit 20.000 Plätze, rechnet sie vor.
Der Juni war der bisher dramatischste Monat in der Geschichte der Dortmunder Landeseinrichtung: Allein 11.634 Neuzugänge waren es im vergangenen Monat in Hacheney. 53.241 Menschen sind im ersten Halbjahr bereits durchgeschleust worden. Zum Vergleich: Im gesamten Krisenjahr 2014 waren es 63.000 – im Jahr 2013 rund 36.000.
Rund 500 Menschen fanden in der Nacht zu Mittwoch kein Bett
Da das Land zunächst nicht ausreichend Plätze für die in Dortmund angekommen Flüchtlinge stellen konnte, hatte der Dortmunder Krisenstab die Reißleine gezogen. Es seien fast 500 Menschen gewesen, die in der vergangenen Nacht auf Fluren, in Wartebereichen und im Freien übernachtet hätten, macht die Ordnungsdezernentin die Dramatik deutlich.
Die Folgen einer Panik seien nicht auszumalen. „Ich bedauere die Schließung sehr – das ist die Ultima Ratio. Aber wir können die Plätze nicht schaffen. Daher stoppen wir die Aufnahme, bis die Situation wieder beherrschbar ist.“
Sperrungen der gesamten Glückaufsegenstraße wurde kurzfristig abgeblasen
Wie ernst sie das meinte, zeigte das Großaufgebot von Polizei, Feuerwehr und Ordnungsamt vor und in der Einrichtung. Schließungsschilder in verschiedenen Sprachen wurden erstellt, die Sperrung der gesamten Glückaufsegenstraße vorbereitet.
Dies sollte den Schleusern (!) zeigen, dass die Einrichtung geschlossen sei und auch verhindern, dass die gestrandeten Menschen in den Vorgärten übernachten. Die Feuerwehr sollte sich um gesundheitlich angeschlagene Menschen kümmern, die keine Plätze mehr bekommen könnten. Dazu kam es nun nicht. Die Sperrung wurde abgeblasen. Doch der Schritt kann täglich neu kommen – macht die resolute Dortmunder Dezernentin deutlich.
Druck durch Quarantäne-Schließungen – 2800 von 8800 Plätzen in NRW fehlen
Denn Schließungen von weiteren Einrichtungen wegen Erkrankungen seien möglich, weil es dort anders als in Dortmund keine Quarantäne-Bereiche gebe. Dortmund hat sie nach einem Windpockenfall im Jahr 2012 eingerichtet, als auch hier eine Schließung verordnet wurde.
Kein Verständnis hat sie dafür, dass auch die neuen Einrichtungen – darunter die neuen Erstaufnahmeneinrichtungen in Burbach und Bad Berleburg – diese nicht haben. „Wir schließen ja auch keinen Kindergarten, wenn ein Kind die Masern hat“, zog Jägers einen Vergleich.
Aktuell sind die Einrichtungen in Bad Berleburg (360 Plätze), Burbach (430 Plätze), Bad Driburg (390 Plätze), Essen (600 Plätze), Olpe (350 Plätze) und Rüthen (600 Plätze) wegen unterschiedlichen ansteckenden Krankheiten geschlossen – für jeweils mindestens vier Wochen.
Damit kommt das mittlerweile sehr effiziente System des Durchschleusens von Flüchtlingen in Dortmund ins Stocken – oder ganz zum Erliegen. Dies war nun der Fall.
Dortmund will keine Belegung mit mehr als 450 Menschen akzeptieren
Solche massiven Überbelegungen will die Stadt Dortmund nicht mehr mitmachen und künftig regelmäßig die Reißleine ziehen: „Nicht bei 300 +1, aber ab 450 Flüchtlingen pro Nacht“, schlägt Jägers Leitpfosten für das Land ein.
Gleichzeitig macht sie weitere Versäumnisse von Bezirksregierung und Land deutlich. So seien seit rund vier Monaten die Anträge auf Bewilligung zusätzlicher Wachleute nicht bearbeitet worden.
Doch die ganz große Keule packt sie nicht aus: „Letztes Jahr hat uns Land erklärt: Seht zu, wie ihr klar kommt. Jetzt rödeln sie wie verrückt. Wir werden nicht mehr alleingelassen und die Probleme werden schon ernst genommen. Aber das Machbare der Bezirksregierung und der Landesregierung reicht nicht aus“, so Jägers.
Diane Jägers: „Ich bin eigentlich nur noch ziemlich verzweifelt“
Wie ist es über ihre Gefühlslage bestellt? Wut über die anhaltenden Probleme? „Über das Stadium der Wut bin ich hinaus. Ich bin eigentlich nur noch ziemlich verzweifelt“, gibt sich Jägers ungewohnt offen. „Am Ende stehe ich in der Haftung und werde angeklagt. Diese Verantwortung trage ich nicht mehr.“
Mehr zum Thema gibt es auf Nordstadtblogger.de:
- Mehr Personal, mehr Kapazitäten und neuer Wachschutz: In Flüchtlingsfragen stellt Dortmund auf „Krisenmodus” um
- Flüchtlingssituation: Dortmunder Ratsmitglieder üben scharfe Kritik an NRW-Innenminister Ralf Jäger (SPD)
- Ehemalige Abendrealschule wird zur Notunterkunft für Asylbewerber und Bürgerkriegsflüchtlinge
- Asyl: Zusätzliches Personal und neue Notunterkünfte im Kreis Unna sorgen für eine Entlastung der EAE Hacheney
Reader Comments
Thorsten Hoffmann (CDU MdB)
Flüchtlinge: Landesregierung lässt Kommunen mit Kosten alleine
Neue Zahlen des Statistischen Landesamtes zeigen: Nordrhein-Westfalen lässt die Kommunen bei der Finanzierung der Kosten für Flüchtlinge weitestgehend allein. Der Bundestagsabgeordnete Thorsten Hoffmann, der in der vergangenen Woche das Lager der syrischen Flüchtlinge an der Katharinentreppe besucht hatte, kritisiert: „In Dortmund wird die Verantwortungslosigkeit der Landesregierung besonders deutlich!“
Die Zahlen zeigen, dass die Stadt im Jahr 2014 rund 17 Millionen Euro für die Versorgung der Asylbewerber ausgab, das Land sich jedoch nur mit rund 3,4 Millionen Euro an diesen Kosten beteiligte. Auf den weiteren 13,6 Millionen Euro blieb die Stadt Dortmund sitzen. „Während andere Bundesländer – wie das Saarland oder Bayern – die Kosten für die Flüchtlinge komplett übernehmen, lässt die rot-grüne Landesregierung ihre eigenen Kommunen mit horrenden Summen alleine“, so Hoffmann.
In Dortmund zeige sich mal wieder, dass die Landesregierung gerne von Verantwortung rede, aber beim Handeln jegliches Verantwortungsgefühl vermissen lasse. Hoffmann: „Jetzt ist die Zeit endlich etwas zu tun.“
Friedrich-Wilhelm Weber (CDU)
„Wo ist die Landesregierung, wenn man sie braucht?“
Mehr als beschämend findet der ordnungspolitische Sprecher der CDU, Friedrich-Wilhelm Weber, die Situation, die sich gestern in der EAE in Hacheney abgespielt hat. Beschämend, weil hier traumatisierte Menschen nicht wie erhofft, eine Zuflucht finden, sondern sich weiterhin wie „auf der Flucht“ fühlen müssen. Was Weber dabei mehr als unerfreulich findet ist auch die Tatsache, dass sich die Landesregierung anscheinend bei dem Thema Flüchtlinge wohl immer noch im „Dornröschenschlaf“ befindet. „Denn nur so kann ich es mir erklären, dass es zu einer beinahe eskalierenden Situation in der EAE gekommen ist“, so Weber.
Weber weiter:
„Frühestens seit dem enormen Zustrom von Flüchtlingen aus Südosteuropa war klar, dass dringend Kapazitäten geschaffen werden müssen. Mit mittlerweile vier Erstaufnahmeeinrichtungen ist man zwar schon einen Schritt weiter gekommen, als noch vor zwei Jahren. Dennoch scheint hier mal wieder die seit nunmehr mehreren Jahren bestehende Kriegssituation in Syrien und die weiterhin stark ansteigenden Flüchtlingszahlen aus Südosteuropa von der Landesregierung ignoriert bzw. falsch beurteilt worden zu sein. Eine Sache, die so einfach nicht geht. Denn hier wird leichtsinnig mit traumatisierten Menschen und vor allem stark traumatisierten Kindern, die überstürzt und unter teilweise extremen Umständen ihre Heimat verlassen mussten, umgegangen.“
Weber sieht die Stadt Dortmund hier mal wieder von der Landesregierung im Stich gelassen. Nur dem Einsatz der Ordnungsdezernentin Jägers und der Sozialdezernentin Zörner ist es zu verdanken, dass es bisher noch keine eskalierende Situation bei der Flüchtlingsaufnahme gab. Für Weber hat es den Anschein, als würde sich die Landesregierung mit dem Thema „Flüchtlinge“ nur sehr ungern beschäftigen oder dieses nicht ernst genug nehmen. „Man kann nur hoffen, dass endlich mal ein Ruck durch Düsseldorf geht und alsbald neue Einrichtungen installiert werden. Denn schaut man sich die Situationen in einigen Ländern an, wird der Flüchtlingsstrom sicher nicht so schnell abbrechen, sondern eher weiter zunehmen“, so Weber abschließend.
Ulrich Langhorst (Grüne)
Ulrich Langhorst, Fraktionssprecher der GRÜNEN im Rat zur dramatischen Situation in der Dortmunder Erstaufnahmeeinrichtung in Hacheney:
„Es ist gut, dass die Bezirksregierung doch noch am gestrigen Abend in der Lage war, für 700 zusätzliche Plätze zu sorgen und damit einen tatsächlichen Aufnahmestopp – zumindest fürs erste – verhindert hat.
Aber warum erst, nachdem eine so drastische Maßnahme angeordnet wurde? Denn Aufnahmestopp heißt, dass mögliche weitere in der Nacht ankommende hilfesuchende Menschen vor einer mit massivem Polizei- und Feuerwehraufgebot bewachten Anlaufstelle stehen.
Es bleibt die Frage: Was wäre denn in der Nacht mit diesen Menschen passiert? Die krankheitsbedingten Schließungen in anderen Einrichtungen waren bekannt. Ein Ausfall von fast 3.000 Plätzen kann schon in der derzeitigen Regelsituation nicht aufgefangen werden. Die Bezirksregierung sollte schnellstens dafür Sorge tragen, dass der Umgang mit ansteckenden Krankheiten in anderen Flüchtlingsunterkünften besser organisiert wird.
Seit Monaten ist klar, dass die Flüchtlingszahlen weiter steigen, die bereitgestellten Kapazitäten aber nicht ausreichen werden. Die Weigerung des Rheinlands, seine Verpflichtung bei der Aufnahme und Unterbringung von Flüchtlingen zu erfüllen, führt nicht nur zu massiven Sicherheitsproblemen, sondern auch zu menschenunwürdigen Situationen für alle Beteiligten. Das Krisenmanagement verbleibt am Ende allein bei der Stadt und bei den betroffenen Menschen.
Ich bin froh, dass wir in einer Stadt wohnen, die von Offenheit und Toleranz geprägt ist und für menschenwürdige Versorgung und ein faires Asylverfahren eintritt. Aber die Bemühungen reichten nicht: Die Zahlen werden auch in Zukunft weiter steigen und die Bezirksregierung sowie das Land sind dringend in der Pflicht, ausreichend Plätze zur Verfügung zu stellen und die Koordination unter den Flüchtlingseinrichtungen zu verbessern.“
Thorsten Bachner
Sehr interressante Art der Diskussionsführung. Die Herren Hoffmann und Weber, deren Kommentaren ich oben sehe, lassen schreiben. Oder wie ist es sonst zu erklären das sie hier in der dritten Peerson von sich reden? Oder sind es standardisierte Presseerklärungen, die nun hurtig im Cut&Paste in die Kommentarspalten diverser Blogs publiziert werden?
Nordstadtblogger-Redaktion
Hallo,
teilweise stellen wir Presse-Mitteilungen als Kommentare online.
Manche Schreiben aber auch direkt so…
Nordstadtblogger-Redaktion
Krisenstab beschließt Notfallplan bei Kapazitätsüberschreitung
Unter der Leitung von Rechtsdezernentin Diane Jägers hat sich der Krisenstab der Stadt Dortmund, der eigens für die Thematik EAE einberufen worden war, mit der Nachbetrachtung des am Mittwoch wieder aufgehobenen Aufnahmestopps beschäftigt (ein Aufnahmestopp war zuvor beschlossen worden, da am Morgen die EAE dreifach überbelegt war).
Im Stab wurde beschlossen, dass zum Schutz der Bewohnerinnen und Bewohner der Flüchtlingseinrichtung ein Aufnahmestopp immer dann verfügt wird, wenn sich, erstens: um 0:00 Uhr mehr als 400 Menschen in der Einrichtung aufgehalten haben und, zweitens: bis zum Mittag absehbar ist, dass das Land NRW nicht ausreichend Unterbringungsplätze in anderen Städten zur Verfügung stellen kann. Dann werden in Dortmund ankommende Flüchtlinge zur Weiterreise in andere Aufnahmeeinrichtungen aufgefordert.
Eine Akutversorgung besonders schutzbedürftiger Menschen wird sichergestellt, jedoch ebenfalls verbunden mit der Aufforderung zur Weiterreise in andere Einrichtungen. Sollte dies in naher Zukunft mehrfach erforderlich sein, wird die Stadt Dortmund weitere Schritte einleiten.