Ein Gastbeitrag von Maximilian Fichtner*
Vor 90 Jahren, am 2. Mai 1933, überfielen Rollkommandos der SA und SS überall in Deutschland die Gewerkschaftshäuser. Alle Verbandsvorsitzenden, aber auch den Nazis missliebige Gewerkschaftsfunktionäre, wurden in „Schutzhaft“ genommen, die Gewerkschaftshäuser und das Vermögen der freien Gewerkschaften wurde beschlagnahmt. Die Anweisung zu der reichsweiten Aktion war schon am 21. April 1933 in einem geheimen Rundschreiben an alle Nazi-Abteilungen übermittelt worden. Die Anweisung des Rundschreibens lautete: „Dienstag, den 2. Mai 1933, vormittags 10 Uhr, beginnt die Gleichschaltung gegen die Freien Gewerkschaften“. Viele Gewerkschaftshäuser waren jedoch schon vor der reichsweiten Aktion vom 2. Mai 1933 besetzt worden. Die Erstürmung der Gewerkschaftshäuser in Dortmund fand bereits am 18. April 1933 statt.
Bei den Betriebsratswahlen im März 1933 blieben die Nazis weit hinter ihren Erwartungen
Bei den Reichstagswahlen vom 5. März 1933 konnten die Nationalsozialisten 43,9 Prozent der Stimmen erreichen. Eine knappe Mehrheit konnten die Nazis nur in Zusammenarbeit mit der Kampffront Schwarz-Weiß-Rot der konservativen Deutschnationalen Volkspartei (DNVP) erreichen. Die Reichstagswahl vom März 1933 fand unter den Eindrücken des nationalsozialistischen Terrors statt, zahlreiche Antifaschisten waren zu dem Zeitpunkt bereits auf Grundlage der sogenannten Reichstagsbrandverordnung in Schutzhaft genommen worden.
Die letzten freien Wahlen, die im deutschen Reich nach der Machtergreifung stattfinden konnten, waren die Betriebsratswahlen vom März 1933. Schon bei der Reichstagswahl verfehlten die Nazis ihr Ziel, eine absolute Mehrheit zu erlangen. Bei den Betriebsratswahlen scheitern die Listen der Nationalsozialistischen Betriebszellenorganisation (NSBO) deutlich. Laut einer Erhebung der Wahlergebnisse, die am 29. April 1933 in der „Gewerkschaftszeitung – Organ des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes“ publiziert wurde, konnten die freien Gewerkschaften des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes reichsweit nahezu dreiviertel der Arbeitsratsmandate erzielen.
Die Betriebsratslisten der NSBO erhielten lediglich 11,7 Prozent der Stimmen. Bei der Betriebsratswahl im Phoenix-Werk des Hörder Vereins erhielt die Liste des NSBO 12 Prozent, in der Dortmunder Hütte der Union AG für Bergbau, Eisen- und Stahlindustrie erhielt die Liste der NSBO 11,6 Prozent. Mit diesem Ergebnis waren die Nazis weit hinter ihren Erwartungen geblieben. Das Ergebnis verdeutlichte den großen Rückhalt, den die sozialistischen freien Gewerkschaften bei den Industrie-Arbeitern genossen.
Nach der Schlappe bei den Betriebsratswahlen gingen die Nazis zur offenen Gewalt über
Nachdem die NSBO trotz massiven Einschüchterungsversuchen bei den freien Betriebsratswahlen deutlich in der Minderheit geblieben waren, gingen die Nazis in den Betrieben nun zu offener Gewalt über. So wurden auf den ersten Sitzungen der neu gewählten Betriebsratsgremien die gewählten Vertreter der freien Gewerkschaften mit Gewalt am Antritt ihres Amtes gehindert. In der Morgen-Ausgabe der „Dortmunder Zeitung“ vom 10. April 1933 findet sich ein Artikel, welcher mit unverhohlener Häme berichtet, „der kommunistische Betriebsratshäuptling Bar mit seinem gesamten Anhang“ sei auf der Zeche Kaiserstuhl 2 „zum Teufel gejagt“ worden.
In der Morgen-Ausgabe der Dortmunder Zeitung vom 11. April 1933 lässt sich ein Bericht über die gewaltsame Absetzung und Verhaftung gewählter Betriebsräte bei den Vereinigten Elektrizitätswerken Dortmund nachlesen. Die Räume des Betriebsrats wurden durchsucht und Bücher beschlagnahmt. Die verhafteten Betriebsräte der Vereinigten Elektrizitätswerke wurden nach ihrer Verhaftung – das bedeutet unter Folter – gezwungen, eine schriftliche Verpflichtung über die Niederlegung ihres Amtes abzugeben. Derartige Berichte finden sich beim Durchforsten der in den Anfang April 1933 erschienenen lokalen Zeitungen zuhauf.
Die Besetzung des Volkshauses des ADGB am 18. April 1933
Während den Betriebsratswahlen im März 1933 waren die freien Gewerkschaften großen Repressalien ausgesetzt. Die Herausgabe der Gewerkschaftszeitung des ADGB war zum Zeitraum des Wahlkampfes um die Betriebsratsmandate zwischen 18. Februar und 18. März verboten.
Am 15. März 1933 fand eine Polizeirazzia im Dortmunder Volkshaus (Volkshaus wurde synonym zu Gewerkschaftshaus verwendet) des ADGB in der Kampstraße statt. Verantwortlich hierfür war der glühende Nationalsozialist und Direktor der Dortmunder Union-Brauerei Bruno Schüler.
Schüler wurde auf Grundlage der Notstandsverordnung des Reichspräsidenten Paul von Hindenburg vom 28. Februar 1933 (Reichstagsbrandverordnung) am 24. März als Staatskommissar eingesetzt. Die Ernennung Schülers zum Staatskommissar kam der Entmachtung des Dortmunder Stadtrats gleich. Bruno Schüler war bereits seit 1923 Mitglied der NSDAP gewesen. Von Dezember 1933 bis August 1934 war er kommissarisch als Oberbürgermeister der Stadt Dortmund eingesetzt. Außerdem war Schüler von Juni 1933 bis 1936 zunächst Vorsitzender, danach geschäftsführender Präsident der Industrie- und Handelskammer Dortmund.
Bruno Schüler, der als Staatskommissar „zur Erzielung weiterer Ersparnisse in der gemeindlichen Verwaltung“ eingesetzt wurde, veranlasste die Beschlagnahmung des Volkshauses aus fadenscheinigen Gründen. Die Stadt Dortmund hatte in der Zeit vor der Machtergreifung mit den durch die Gewerkschaft eingesetzten Geschäftsführern des Volkshauses G.m.b.H. eine Bürgschaft vereinbart. Schüler veranlasste die Aberkennung der zwischen der Stadt Dortmund und der Volkshaus G.m.b.H. geschlossenen Bürgschaft. Somit hatte Schüler eine Rechtfertigung für die Beschlagnahmung des Volkshauses geschaffen.
Säuberungsmaßnahmen gegen die Gewerkschaften – die Gebäude werden beschlagnahmt
In der nationalsozialistischen Propaganda wurde die Aberkennung der Bürgschaft als „Säuberungsmaßnahme“ gegen vermeintliche Korruption in Stadtverwaltung und Gewerkschaften dargestellt. Am 18. April 1933 wurden die Geschäftsführer der Volkshaus G.m.b.H. wegen fingierten Korruptionsvorwürfen in Haft genommen.
In der Morgen-Ausgabe der Dortmunder Zeitung vom 19. April war am Tag nach der Verhaftung zu lesen: „Das Gebäude der Volkshaus G.m.b.H. in der Kampstraße ist am selben Tag von SA-Hilfspolizei besetzt und beschlagnahmt worden. Mit dieser Säuberungsmaßnahme des Staatskommissars Schüler ist eine weitere sehr einschneidende Maßnahme erfolgt.“
Bei der Besetzung des Gewerkschaftshauses in der Kampstraße wurden außerdem ein Vermögen von 50.000 Reichsmark aus der Ortskasse beschlagnahmt. Die Summe von 50.000 RM entspräche einem heutigen Kaufkraftäquivalent von 250.000 €. Auch das Inventar des Volkshauses wurde beschlagnahmt. Unwiederbringlich verloren sind die Bestände der Gewerkschaftsbibliothek, die am 30. Mai 1933 bei der Bücherverbrennung am Hansaplatz zerstört wurden.
Widerstand rund um „Feiertag der nationalen Arbeit“ am 1. Mai 1933
Die freien Gewerkschaften waren zum Zeitpunkt der Machtergreifung stark geschwächt. Sie hatten 1933 weniger als halb so viele Mitglieder wie 1920. Rund die Hälfte der Gewerkschaftsmitglieder waren 1933 erwerbslos, im Deutschen Metallarbeiterverband waren zu diesem Zeitpunkt beinahe zwei Drittel der Mitglieder ohne Beschäftigung. Vor diesem Hintergrund hielten die Vorsitzenden des ADGB die Ausrufung eines Generalstreiks, wie es vor allem von Kommunisten gefordert wurde, für aussichtslos.
Der 1. Mai 1933 wurde als „Feiertag der nationalen Arbeit“ gemeinsam mit den Nazis begangen. Die Gewerkschaften erhofften sich, auf diese Weise fortbestehen zu können. Die Reichsweite Besetzung der Gewerkschaftshäuser am 2. Mai 1933 strafte diese Annahme Lügen. Die Razzia vom 16. März, die gewaltvolle Absetzung gewählter Betriebsräte im April 1933 und die Beschlagnahmung des Volkshauses lassen retrospektiv betrachtet keine Zweifel am Kurs der Nazis zu. Zahlreiche Widerstandshandlungen rund um den 1. Mai 1933 zeugen von Ablehnung des Anpassungskurses in der Dortmunder Gewerkschaftsbewegung.
So berichtet die Dortmunder Zeitung in ihrer Abendausgabe vom 3. Mai über einen Arbeiter, der seine Ablehnung der nationalsozialistischen Vereinnahmung des 1. Mai öffentlich kundtat: „Als der Zug vorbeikam, stieß er Pfuirufe aus. Er wurde gefaßt, der Polizei übergeben und in Schutzhaft abgeführt.“
Im Hörder Volksblatt vom 2. Mai 1933 wurde über die Festnahme von 17 Kommunisten berichtet, die am Wochenende vor dem ersten Mai Flugblätter verteilten und Spenden, vermutlich zur Unterstützung von Familien politischer Gefangener, gesammelt hatten. Im Bericht wird der Befehl des Polizeipräsidenten angekündigt, demzufolge „die Polizeibeamten in Zukunft auf kommunistische Flugblattverteiler sofort zu schießen haben.“
Nach der Zerschlagung bestand die Arbeiterbewegung in der Illegalität bis 1936 weiter
In der Morgenausgabe der Dortmunder Zeitung vom 3. Mai findet sich ein Bericht über die Festnahme des Arbeiters Erich B., weil er sich in einem Lokal in der Münsterstraße in der Dortmunder Nordstadt kritisch zur geplanten Einführung des nationalsozialistischen Reichsarbeitsdienstes geäußert hatte.
Das Haus des Deutschen Metallarbeiterverbands in Hörde war ebenfalls von der SA besetzt worden. Eine an der Fassade angebrachte Hakenkreuzfahne wurde Anfang Mai 1933 nachts von der Straße aus mit Benzin angespritzt und abgefackelt.
Trotz intensiver Fahndung gelang es den Nazis nicht, die Urheber der Aktion ausfindig zu machen. Vermutlich ging die Aktion auf fünf junge Angehörige des Reichsbanners zurück.
Obwohl die legalen Organisationen der Arbeiterbewegung zerschlagen waren, bestand die Arbeiterbewegung in der Illegalität weiter: In Dortmund gab es bis 1936 sehr rege Widerstandstätigkeiten zu verzeichnen.
Dass die Widerstandsnetzwerke trotz dem allgegenwärtigen nationalsozialistischen Terror derart lange ohne legale Institutionen fortwirken konnten, lässt sich nur durch menschlichen Eigensinn erklären.
Anmerkung des Autors:
Für Gewerkschaften ist der 2. Mai ein Tag der Trauer über die unheilbaren Wunden, die der Nationalsozialismus in die Arbeiterbewegung gerissen hat. Erinnern bleibt jedoch fruchtlos, wenn nicht zugleich daran erinnert wird, was noch zu tun ist. Gewerkschaften tun gut daran, sich auch heute noch mit der Geschichte des Widerstandes auseinanderzusetzen.
Dabei geht es nicht nur um die Vergewisserung grundsätzlicher Haltungen von Demokratie und Würde, sondern auch darum, eigensinnig Positionen in Frage zu stellen und auf Tuchfühlung mit gegenwärtigen Verhältnissen weiter zu entwickeln.
Einen geeigneten Anspruch an das menschliche Vermögen zum Eigensinn hat der Philosoph Theodor W. Adorno in seiner Ansprache „Erziehung nach Auschwitz“ formuliert: „Die einzig wahrhafte Kraft gegen das Prinzip von Auschwitz wäre Autonomie, wenn ich den Kantischen Ausdruck verwenden darf; die Kraft zur Reflexion, zur Selbstbestimmung, zum Nicht-Mitmachen.“
Mehr Informationen:
- Gast-Autor Maximilian Fichtner ist Gewerkschaftssekretär der IG Metall Ruhr-Mitte
- Die Bilder vom Gewerkschaftshaus in Hörde und vom Volkshaus in der Kampstraße sowie die Bilder zur Dortmunder Union und dem Phoenix-Werk stammen aus dem ersten Ausstellungskatalog der Steinwache von 1981 (Günther Högl, Udo Steinmetz (Hrsg.). Widerstand und Verfolgung in Dortmund 1933 bis 1945. Stadtarchiv Dortmund 1981. 2. Auflage)
- Alle verwendeten Zeitungsartikel finden sich im online-Archiv des Zeitungsportals zeitpunkt.nrw/
Mehr zum Thema bei nordstadtblogger.de:
Der Tag der Arbeit 2023 steht beim DGB Dortmund unter dem Motto: „Ungebrochen solidarisch“
Jahrestag 2. Mai: Vor 90 Jahren überfielen die Nazis reichsweit die Gewerkschaftshäuser
Reader Comments
Der Weg zum Führer: Vortrag über Beitrittsmotive und Entlastungsstrategien von NSDAP-Mitgliedern (PM)
Was motivierte Deutsche, in die NSDAP einzutreten? Welche Entlastungsstrategien wählten sie nach 1945? Darum geht es in einem Vortrag des Politikwissenschaftlers Prof. Jürgen W. Falter am Donnerstag, 11. Mai, 19 Uhr in der Mahn- und Gedenkstätte Steinwache (Steinstr. 50). Der Eintritt ist frei.
Ein Vergleich der Spruchkammerakten von NSDAP-Mitgliedern mit deren im „Dritten Reich“ verfassten Lebensgeschichten gibt Aufschluss über Sozialisationserfahrungen und persönliche Einstellungen. Die Analyse basiert auf einem gemeinsamen Forschungsprojekt mit Kristine Khachatryan, Lisa Klagges, Jonas Meßner, Jan Rosensprung und Hannah Weber. Sie offenbart unter anderem die bedeutende Funktion nationalistischer und antisemitischer Organisationen als Einstiegsstationen auf dem Weg in die NSDAP.
Prof. Dr. Jürgen W. Falter war bis 2012 Inhaber des Lehrstuhls für Innenpolitik und Empirische Politikforschung an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Seit 2001 ist er Mitglied der Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz. dortmund.de/steinwache