Nach rund zwei Jahren Stillstand blühen viele Ehrenamts-Projekte neu oder wieder auf. In unserer Serie „Neustart Ehrenamt“ stellen wir in loser Folge engagierte Vereine und Menschen aus nördlichen Stadtteilen vor.
Jeden Sonntag bereiten die ehrenamtlichen Helfer:innen von „Face2face“ Lunch-Pakete vor und starten mit voll beladenen Karren ihren Weg in die Dortmunder Innenstadt. Über das Verteilen von Essen, Kleidung und Hygieneartikeln möchte die solidarische Wohnungslosenhilfe mit wohnungslosen Menschen ins Gespräch kommen – und das am „Tag der Wohnungslosen“.
Corona-Pandemie war Auslöser für die Entstehung des Kollektivs
Anfang 2020 mussten die Hilfseinrichtungen für Wohnungslose schließen. „Das war für uns der Auslöser und wir sind erstmals als Freundeskreis rausgegangen und haben Essen verteilt“, erzählt Tobi. Nach und nach entstand immer mehr Struktur.
„Wir sehen uns außerhalb des Systems“, erklärt Jenny von „Face2face“. Selbst betitelt sich das freie Kollektiv als „ Solidarische Wohnungslosenhilfe“, das konsens-orientiert und ohne Hierarchien funktioniert – unabhängig und selbstorientiert. Ziel ist es, wohnungslose Menschen praktisch und politisch zu unterstützen, um einer solidarischen Gesellschaft ohne Diskriminierung und Stigmatisierung einen Schritt näher zu kommen.
Mittlerweile gibt es einen festen Arbeitsablauf und etwa acht bis zehn Mitglieder, die sich aktiv und regelmäßig an der Organisation und den Gängen durch die Dortmunder Innenstadt beteiligen. Die Arbeit des Kollektivs teilt sich in vier Aufgabenbereiche.
Neben der Öffentlichkeitsarbeit auf Social-Media-Kanälen können sich jeweils zwei ehrenamtliche Helfer:innen für eine der drei Schichten einteilen. Diese bestehen aus Einkaufen, Vorbereiten und Verteilen. Da es unter den Ehrenamtlichen Überschneidungen mit der „Kana-Suppenküche“ und „Grenzenlose Wärme“ gibt, steht „Face2face“ in engem Austausch mit den Hilfsorganisationen.
Die aktuelle Inflationsrate von rund acht Prozent macht sowohl „Face2face“ als auch den Wohnungslosen zu schaffen. Für Obdachlose selbst ist es noch schwieriger geworden, sich im Discounter zu versorgen und Einkaufende spenden weniger. Für das Kollektiv, das sich ausschließlich aus privaten Spenden finanziert, ist die merkliche Steigerung des wöchentlichen Einkaufspreises eine neue Herausforderung. Brötchen für die Lunchpakete bekommen sie glücklicherweise vom Bäcker nebenan gespendet.
„Wir möchten den Menschen zeigen, dass sie nicht egal sind.“
„Wir verteilen das Essen in erster Linie, um mit den Menschen ins Gespräch zu kommen“, erklärt Jenny von „Face2face“ im Gespräch. Am Schlimmsten sei für die obdachlosen Menschen die fehlenden sozialen Kontakte. Und „dass durch sie hindurchgeschaut wird“, berichtet Tobi. Jenny ergänzt: „Wir möchten den Menschen zeigen, dass sie nicht egal sind.“
In Dortmund seien die Obdachlosen im Unterschied zu anderen Städten zudem meist Einzelkämpfer:innen – es herrsche ein starkes Misstrauen untereinander. Überfälle und Gewalt gegen obdachlose Menschen, auch untereinander, stärke dieses Misstrauen umso mehr.
Sonntags gehen die Ehrenamtlichen oft dieselben Routen, klappern dieselben Orte ab. Die Fluktuation sei recht hoch. Fünf bis zehn Gesichter sähe man aber jede Woche, da schaffe man es, etwas Vertrauen aufzubauen, berichten die Ehrenamtlichen. Sie hoffen, dass die Passant:innen sich an ihrem Umgang mit Obdachlosen ein Beispiel nehmen und sehen, dass auch ein freundlicher Umgang möglich ist.
Das Kollektiv versteht sich als politischen Akteur: Lobbyarbeit für Wohnungslose
„Face2face“ möchte den Obdachlosen vor allem eins geben – eine Stimme. Jenny kritisiert, dass es niemanden gebe, der die Dortmunder Wohnungslosen vertrete. Daher wünscht sich das Kollektiv „Face2face“ eine Zusammenarbeit mit der „Selbstvertretung wohnungsloser Menschen“ – zum Beispiel in Form eines lokalen Ablegers.
Denn problematisch findet die kleine Initiative, dass (zumindest in ihrer Wahrnehmung) Entscheider:innen mit den Betroffenen nicht ins Gespräch kämen und somit nicht über die Belange von Wohnungslosen im Bilde seien.
„Face2face“ findet außerdem, dass es mehr Räume für Wohnungslose bräuchte, um sich untereinander auszutauschen, zu vernetzen und ihre Belange äußern zu können: „Damit meinen wir keine Räumlichkeiten“, stellt Jenny klar. Eine Idee wäre eine regelmäßige Veranstaltung in der Öffentlichkeit, bei der neben einem Versorgungsangebot auch Ansprechpartner:innen, beispielsweise Vertreter:innen verschiedener Hilfsorganisationen und Sozialarbeiter:innen, ebenso wie Entscheidungstragende sich mit Wohnungslosen austauschen.
Um auf Missstände aufmerksam zu machen und über den Umgang mit wohnungslosen Menschen aufzuklären, nutzt „Face2face“ die Social -Media-Plattform Instagram. Knapp 1.200 Follower:innen informiert das selbstorganisierte Kollektiv regelmäßig in Form von Beiträgen, beispielsweise über Vorurteile wie „Obdachlose sind selbst Schuld an ihrer Situation“, die Situation wohnungsloser Menschen in Dortmund oder die Frage, ob man Obdachlosen Geld geben solle.
Die Situation wohnungsloser Menschen in der Dortmunder Innenstadt
Voraussetzung für eine regelmäßige öffentliche Veranstaltung wäre jedoch eine Änderung der derzeitigen städtischen Strategie, die Wohnungslose aus dem Bild der Innenstadtbild vertreibe, beispielsweise mit dem „Weckdienst“ des Dortmunder Ordnungsamts, berichtet „Face2face“. Aus Angst vor Kontrollen und Platzverweisen der Polizei und dem Ordnungsamt trauten sich viele obdachlose Menschen nicht innerhalb des Wallrings.
Wie schlecht die Infrastruktur in der Dortmunder Innenstadt in Bezug darauf ist, konnten nicht-wohnungslose Menschen im Zuge der Corona-Pandemie und der Lockdowns erstmals in Ansätzen nachempfinden. Wer sich in der Corona-Hochzeit, als Restaurants nur Außer-Haus-Verkauf anbieten durften und ihre Toiletten schließen mussten, mal in die City verirrte und unglücklicherweise genau dann das Bedürfnis nach einem WC verspürte, war aufgeschmissen.
Toilettenwagen oder sonstige öffentliche Möglichkeiten sind schlichtweg nicht vorhanden. So riskieren wohnungslose Menschen beim Urinieren jedes Mal ein Bußgeld von etwa 35 Euro, das sie nicht bezahlen können. Die Strafe für die Ordnungswidrigkeit kann stark variieren, je nach Ort des Wildpinkelns.
Über (Sach-) Spenden und Engagement freut sich das Kollektiv sehr
Spenden und Engagement sind bei „Face2face“ herzlich willkommen. „Das Beste ist, wenn sich jemand anschließt“, findet Jenny. Der Telegram-Gruppe „Aktive Face2face“ können Interessierte ganz unverbindlich beitreten, um in Kontakt zu treten und aktuelle Informationen zu erlangen.
Sehr wichtig, vor allem in Hinblick auf den nahenden Winter, sind Sachspenden. Daher gibt es ab sofort jeden Sonntag von 12.30 bis 13.30 Uhr die Möglichkeit, Sachspenden im Offenen Zentrum in der Schleswiger Straße abzugeben. Sachspenden können Winterbekleidung und beispielsweise Wolldecken oder Isomatten sein, aber auch jegliche Hygieneartikel.
Auch Lebensmittelspenden wie Getränke in kleinen Flaschen, Belag für Brötchen oder H-Milch helfen dem Kollektiv und den Dortmunder Wohnungslosen. Um die wöchentlichen Einkäufe weiterhin finanzieren zu können, begrüßen die Ehrenamtlichen jede Geldspende. Weitere Informationen können dem Flyer (links vom Text) entnommen werden.