Mehrere Wochen lang wurden keine Ermittlungsstände mehr zu den tödlichen Polizeischüssen auf den 16-jährigen Mouhammed D. in der Dortmunder Nordstadt veröffentlicht. Neue Erkenntnisse bringt nun ein Bericht des Innenministers Reul an den Landtag. Inzwischen wird gegen mehr Polizist:innen ermittelt. Auch eine Mordkommission wurde einberufen.
Notruf wegen Suizid-Gefahr – zwölf Polizist:innen waren vor Ort
Die Ermittler:innen wollten in den vergangenen Wochen den Untersuchungserfolg nicht gefährden. Neue Zwischenstände wurden daher erstmal nicht mehr veröffentlicht.
Nun sehen die Staatsanwaltschaften diesen Erfolg nicht mehr als gefährdet an und haben Innenminister Herbert Reul grünes Licht gegeben, den Landtag zu informieren. Die weitergegebenen Berichte, die dieser Redaktion vorliegen, bringen einige neue Erkenntnisse und Korrekturen der ursprünglichen Informationen.
Am 8. August wählt ein Betreuer der Wohngruppe gegen 16.25 Uhr den Notruf. Ein Bewohner sitze im Innenhof und halte sich – vermutlich wegen suizidaler Absichten – ein Messer mit einer Klingenlänge von 15 bis 20 cm vor dem Bauch. Der Betreuer informiert auch, dass der 16-Jährige die deutsche Sprache nicht versteht.
Dann rücken zwölf Polizist:innen zu dem Einsatzort aus – das haben die Ermittler:innen herausgefunden. Ursprünglich war nur von elf beamt:innen die Rede. Vier der zwölf seien in ziviler Kleidung eingesetzt gewesen. Sie sollen den Getöteten dann in deutscher und spanischer Sprache angesprochen haben.
Weil der Junge auf die Ansprache nicht reagierte, setzte die Polizei Reizgas ein
Zunächst hieß es, es habe Ansprachen in Englisch, Portugiesisch, Spanisch und Deutsch gegeben. Nach Erkenntnissen der Ermittler:innen sprach Mouhammed Französisch, Spanisch und eine afrikanische Sprache. Eine Aufforderung das Messer wegzulegen haben die Ermittlungen nicht ergeben.
Nachdem die Ansprachen offenbar nicht erfolgreich waren, ordnet der polizeiliche Einsatzleiter an, Reizstoff gegen den hockenden Jugendlichen einzusetzen. Eine Polizistin führt diese Anordnung aus. Das Messer bleibt in der Hand.
Eine Polizistin und ein Polizist setzten in der Situation ihre Taser ein. Der erste Versuch erbringt, wie Auswertungen später zeigen, keinen geschlossenen Stromkreis zu standen. Nur einer von zwei benötigten Pfeilen hatte getroffen.
Der zweite Taser trifft – an Hals und Glied (!) des Jungen – aber erzeugt „nur“ fünf Sekunden einen geschlossenen Stromkreis. „Zu einer neuromuskulären Handlungsfähigkeit kommt es dabei offenbar nicht, wahrscheinlich aber zu Schmerzen“, heißt es im Bericht.
Gegen fünf der zwölf Beamten:innen wird jetzt strafrechtlich ermittelt
Was dann geschieht ist unklar, den die Zeugen widersprechen sich hier (Stand 31. August). Zum aktuellen Ermittlungsstand ist daher nicht geklärt, ob sich Mouhammed D. mit dem Messer bewegte und wie er es hielt. Ein Polizist gibt sechs Schüsse mit der Maschinenpistole ab. Vier Projektile treffen den 16-Jährigen. Bereitstehende Sanitäter eilen herbei. Mouhammed D. wird ins Klinikum Nord gebracht und stirbt kurz später in der Notaufnahme.
Direkt nach dem Einsatz hatten die Staatsanwaltschaft und die Polizei Recklinghausen Ermittlungen aufgenommen. Zunächst war gegen den schießenden Polizisten wegen Körperverletzung mit Todesfolge im Amt ermittelt worden. Nun prüft die Staatsanwaltschaft, ob des Totschlags verdächtig ist.
Alle anderen eingesetzten Einsatzkräfte wurden anfangs als Zeug:innen behandelt. Inzwischen wird aber auch gegen vier von ihnen ermittelt. Konkret sind das die Polizistin, die Reizstoff eingesetzt hat, die beiden Polizist:innen, die ihre Taser eingesetzt haben und der polizeilichen Einsatzleiter, gegen den bezüglich Anstiftung zu gefährlicher Körperverletzung im Amt ermittelt wird.
Eine erste Reaktion darauf gab es schon: Wie berichtet, hat die Polizei Dortmund auf die Ermittlungen damit reagiert, dass der Schütze zunächst suspendiert und die vier anderen in andere Tätigkeitsfelder der Polizei versetzt wurden. Polizeipräsident Gregor Lange machte allerdings deutlich, dass dies keine Vorverurteilung sei.
Die Beschuldigten schweigen – Ermittlungen laufen weiter – BKA eingeschaltet
Alle Beschuldigten machen bislang von ihrem Schweigerecht gebrauch. Die Ermittlungen laufen aber auch ohne ihre Aussagen weiter. Die Polizei Recklinghausen hat eine Mordkommission eingerichtet. Mehrfach schauten sich die Ermittler:innen auch nochmal den Tatort vor Ort an. Dabei wurde das Geschen nachgespielt und der Tatort vermessen. Auch Anwohner:innen wurden befragt.
Die Rechtsmedizin hat ein Gutachten zu den Schusswinkeln erstellt. Nun wird davon ausgegangen, dass eines der Projektile den Köper zweimal traf – also aus einem Körperteil zunächst wieder austrat. Somit hätten den Jungen vier der sechs abgegebenen Kugeln getroffen. ursprünglich war immer von fünf Kugeln die Rede.
Auch die eingesetzten Einsatzmittel wurden und werden kriminaltechnisch untersucht. Auf den mitgeführten Bodycams der Zwölf Polizist:innen konnten keine Aufnahmen festgestellt werden – niemand hatte sie eingeschaltet.
Auch das Bundeskriminalamt ist inzwischen in dem Fall involviert. Dort wird der Mitschnitt des Notrufs analysiert. Der soll bis zu den Schüssen mitgelaufen sein. Die Expert:innen des BKA sollen jetzt klären, wer wann was gesagt hat. Das Innenministerium wurde gebeten, zudem alle relevanten Dienstvorschriften sowie Handreichungen/Leitfäden zur Verfügung zu stellen.
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Talk im DKH über kritische Polizeieinsätze (PM)
Die nächste Ausgabe der beliebten Gesprächsreihe „Talk im DKH“ am Montag, 12. September, 19 Uhr im Keuninghaus (Leopoldstraße 50-58) dreht sich um ein hochaktuelles Thema: Es geht um kritische Polizeieinsätze. Der Moderator und Politikwissenschaftler Prof. Aladin El-Mafaalani empfängt den Rechtsanwalt Mehmet Daimagüler, Antiziganismus-Beauftragter der Bundesregierung, und Sebastian Fiedler, Bundestagsabgeordneter und ehemaliger Vorsitzender des Bundes deutscher Kriminalbeamter. Für musikalische Begleitung sorgt Ester Festus.
Der Eintritt ist frei; Anmeldung wird erbeten unter veranstaltungsorganisation@stadtdo.de
WDR-Stadtgespräch am 8. September zur Frage: Wie viel Vertrauen haben wir in die Polizei? (PM)
DO, 08. September, 20.04 Uhr – 21.00 Uhr Reinoldinum Schwanenwall 34 44135 Dortmund
Einlass: ab 19.30 Uhr Eintritt frei, Live im Radio
Der 16-jährige Mouhamed D. starb am 8. August durch Schüsse eines Polizisten. Die Folge waren lautstarke Demonstrationen und Proteste in Dortmund. Im Mittelpunkt der Kritik: Das Verhalten der Polizei. Mouhameds Tod hätte verhindert werden können, sagen Kritiker. Ob diese Einschätzung zutrifft, müssen die noch laufenden Ermittlungen klären.
Trotzdem zeigt sich schon jetzt: Das Vertrauen in die Arbeit der Polizei hat gelitten. Die Vorgehensweise der Polizei in der Dortmunder Nordstadt sei häufig diskriminierend, so der Hauptvorwurf. Woher kommt das Misstrauen gegenüber der Polizei? Und wie sieht der Alltag für Polizistinnen und Polizisten in der Nordstadt aus? Welche Kritik ist berechtigt und welche nicht? Und wie kann die Polizei verloren gegangenes Vertrauen zurückgewinnen?
DARÜBER MÖCHTEN WIR MIT IHNEN UND FOLGENDEN GÄSTEN DISKUTIEREN:
GREGOR LANGE, POLIZEIPRÄSIDENT DORTMUND
WILLIAM DOUNTIO, ORGANISATOR DER DEMOS IN DER DORTMUNDER NORDSTADT
FATMA KARACAKURTOGLU, VORSITZENDE TRAIN OF HOPE DORTMUND E.V.
RAFAEL BEHR, PROFESSOR FÜR POLIZEIWISSENSCHAFTEN, AKADEMIE DER POLIZEI HAMBURG
MODERATION: JUDITH SCHULTE-LOH UND RIKE ULLRICH
Die Polizei Dortmund im Dialog mit den Bürgerinnen und Bürgern – „Talk with a cop“ wird weitergeführt (PM)
In den letzten Wochen hat sich die Polizei Dortmund an verschiedenen Örtlichkeiten in der Nordstadt den Bürgerinnen und Bürgern für ein Gesprächsformat „Talk with a cop“ zu Fragen und Sorgen zur Verfügung gestellt. Bei Kaffee, Tee und Plätzchen war der Stand durchgehend sehr gut besucht.
„Wir hören Ihnen zu!“ so das Fazit von Gregor Lange, Polizeipräsident in Dortmund. „Ihre Belange sind wichtig für unsere Arbeit! Die Bürgerinnen und Bürger in Dortmund und insbesondere in der Nordstadt sollen und dürfen das Gefühl haben, hier in ihrer Stadt sicher leben zu können. Und dazu wollen wir unseren Teil beitragen. Wir freuen uns auf jeden, der mit uns ins Gespräch kommt.“
Die Serie „Talk with a cop“ wird auch in den nächsten Wochen weiter fortgeführt. Die Polizei Dortmund wird in der Nordstadt an verschiedenen Örtlichkeiten unterwegs sein und für Fragen zur Verfügung stehen.
So auch am kommenden Donnerstag, 08.09.2022, in der Zeit von 10:00-12:00 Uhr an der Schützenstraße auf dem Parkplatz des dortigen Lidl Supermarktes.Weitere Termine sind in Planung und werden auf den social media Accounts der Dortmunder Polizei rechtzeitig bekannt gegeben und beworben.