Der Krieg in der Ukraine führt uns erneut vor Augen, wie furchtbar es ist, wenn Menschen flüchten müssen. Niemand flüchtet gern – auch nicht von anderen Kriegsschauplätzen bzw. Konflikt- und Krisenregionen – zum Beispiel in Afghanistan, Syrien oder Eritrea. Seit 1993 sind mehr als 48.000 Menschen beim Versuch, nach Europa zu flüchten, gestorben – im Mittelmeer oder an den Grenzübergängen an Land. An den Außengrenzen leben aktuell hundertausende Menschen in erbärmlichen Verhältnissen und Lagern. Das ist erschütternd. Und in den Augen des Bündnisses „Beim Namen nennen“ ein Skandal für ganz Europa. Dagegen erhebt die evangelische Kirche zusammen mit den Flüchtlingsinitiativen in Dortmund, privat Engagierten und vielen anderen Kooperationspartner:innen an der Stadtkirche St. Reinoldi Einspruch.
Alle Veranstaltungen zum Weltflüchtlingstag sind kostenfrei
Gemeinsam bilden sie das Aktionsbündnis „Beim Namen nennen“, das mittlerweile in 17 Städten in Deutschland und der Schweiz aktiv ist und mit verschiedenen Aktionen an vier Tagen zum Weltflüchtlingstag im Juni auf sich aufmerksam macht.
„Wir gedenken der Toten an unseren Grenzen, protestieren gegen das sinnlose Sterben und die massiven Menschenrechtsverletzungen, fordern eine Politik, die Menschen schützt und ihre Würde bewahrt und setzen uns auf verschiedene Weise damit auseinander, was Flucht, Entwurzelung und Ankommen in der Fremde und bei uns in Dortmund bedeutet“, heißt es in der Einladung des Bündnisses.
Vom kommenden Freitag, 17. Juni bis Montag, 20. Juni 2022, finden in und um die Reinoldikirche in Dortmund zahlreiche Aktionen zum Weltflüchtlingstag am 20. Juni 2022 statt. Alle Veranstaltungen sind kostenfrei.
Totengedenken, Friedensgebet und Lesung am Freitag
Los geht es am Freitagnachmittag um 17:45 Uhr unter dem Titel „Licht & Stille“ mit einem Totengedenken und einem Abendgebet für den Frieden mit Stadtkirchenpfarrerin Susanne Karmeier und dem Leiter des Referats Ökumene Ev. Kirche Dortmund, Dirk Loose.
Anschließend um 19:30 Uhr steht eine Lesung unter dem Titel „FLUCHT – Eine Menschheitsgeschichte“ auf dem Programm. Andreas Kossert, renommierter Experte zum Thema Flucht und Vertreibung im 20. Jahrhundert, liest aus seinem preisgekrönten Buch.
Eins seiner Anliegen: Menschen auf der Flucht zu Wort kommen lassen. Bewegenden Einzelschicksale stellt er in einen großen geschichtlichen Zusammenhang und beschreibt die existentiellen Erfahrungen, die mit Flucht und Vertreibung einher gehen und spricht darüber mit dem WDR-Journalisten Uwe Schulz. Die Lesung wird musikalisch von dem Duo Kazim Calisgan & Andreas Heuser begleitet.
Dortmunder Flüchtlingsinitiativen stellen sich und ihre Arbeit vor
Der Samstag, 18. Juni 2022, ist dann der Aktionstag der Dortmunder Flüchtlingsinitiativen. Von 11 bis 18 Uhr werden Vertreter:innen ihre Initiativen auf dem Vorplatz der Reinoldikirche den Bürger:innen vorstellen und mit ihnen ins Gespräch kommen.
Dazu wird die Ausstellung „HOME STORIES“ von Alexandra Breitenstein zu sehen sein. Sie gibt Flüchtlingen in den Jahren 2015 bis 2017 ein Gesicht. Menschen, die wegen Krieg, Verfolgung, Diskriminierung oder Not ihre Heimat verlassen mussten und in Dortmund mittlerweile eine eigene Wohnung bezogen haben.
Eine eigene Wohnung bedeutet ein Stück Heimat – ist der erste Schritt zum Ankommen in einem fremden Land, der erste Ort, der wirklich Sicherheit bietet. Das Projekt mit der Projektleiterin Alexandra Breitenstein in Zusammenarbeit mit dem Dortmunder Verein Projekt Ankommen e.V. macht die Einzelschicksale hinter dem Etikett „Flüchtling“ erfahrbar. Es lässt „unsere neuen Nachbarn“ zu Wort kommen und legt so die jeweiligen Hintergründe der Flucht und die Träume von der Zukunft offen. Nicht jede dieser Geschichten hat einen sicheren Ausgang, nicht jede ein „Happy End“…
Benefizkonzert in der Pauluskirche in der Nordstadt am Sonntag
Der Sonntag, 19. Juni 2022, beginnt dann um 11:30 Uhr mit einem Gottesdienst zum Weltflüchtlingstag in der Reinoldikirche.
Auch hier werden wieder Vertreterinnen der Dortmunder Flüchtlingsinitiativen zu Gast sein. Musikalisch wird der Gottesdienst von Mouaz Alsirieh am Fagott und Tobias Schneider am Klavier gestaltet.
Abends geht das Programm um 19.30 Uhr mit einem Benefizkonzert für „Ärzte ohne Grenzen“ weiter, diesmal allerdings in der Pauluskirche in der Nordstadt. Mit dabei ist unter anderem das Transorient Orchestra und der Chor Orpheus XXI.
Stiller Protest beim Circle of Silence „Wenn ich es wäre…“
Am Montag, den 20. Juni 2022, werden in der Zeit von 10 bis 18 Uhr in der Reinoldikirche immer fünf Minuten vor jeder vollen Stunde, die Namen verstorbener Flüchtlinge gelesen und die Umstände ihres Todes beleuchtet. Künstler:innen aus Dortmund ehren die Toten mit Musik oder Wort. Immer zur halben Stunde wird es still und es werden Kerzen gegen das Vergessen entzündet.
Vor der Reinoldikirche wird es zwischen 12 und 12:30 Uhr stillen Protest geben. Unter dem Titel „Circle of Silence“ soll ein Zeichen gegen die Ausgrenzung und das Vergessen von geflüchteten Menschen an unseren Grenzen und in unserer Gesellschaft gesetzt werden. Alle Dortmunder:innen sind eingeladen sich dem öffentlichen Schweigen anzuschließen.
Ebenfalls vor der Reinoldikirche werden in der Zeit von 15 Uhr bis 18 Uhr die Namen verstorbener Flüchtlinge auf Banner geschrieben, um sie sichtbar zu machen. Die Banner sollen in und vor der Kirche ausgestellt werden.
Mehr als eine Lesung: Comedian und You-Tuber Firas Alshater zu Gast in St. Reinoldi
Der Montagabend klingt mit einer Lesung in der Reinoldikirche um 20 Uhr (Einlass ab 19:30 Uhr) aus. Die Veranstalter:innen versprechen mehr als eine Lesung mit dem Comedian und You-Tuber Firas Alshater.
Er ist ein ganz normaler Berliner mit Hipsterbart und Brille. Nur, dass er bis vor ein paar Jahren in Syrien für seine politischen Videos sowohl vom Assad-Regime als auch von Islamisten verhaftet und gefoltert wurde. Erst die Arbeit an einem Film erbrachte ihm das ersehnte Visum für Deutschland, und Firas betrat den größten Kokon der Welt: den Westen.
Seitdem versucht er, „die Deutschen“ – wer sind die denn Bitteschön? – zu verstehen: das Pfandsystem, private Briefkästen, Fahrkartenautomaten und die deutsche Sprache. Und sagt: „Da reicht ein Leben nicht für“. Doch als seine Familie über das Mittelmeer nach Europa kommt, erkennt Firas: Ich bin schon total deutsch.
Kann also noch was werden mit uns und diesem neuen Land. Er hat so ziemlich jede Region bereist. Von seinen Erlebnissen in Deutschland und Syrien erzählt Firas witzig, tragikomisch, offen und immer liebenswert frech. Fragespiele mit dem Publikum inklusive.
Firas Alshater lebt seit 2013 in Deutschland. 2020 hat er die Deutsche Staatsbürgschaft erhalten. Geboren ist er 1991 in Damaskus, studierte Schauspiel. In der Revolution gegen Baschar al-Assad begann er als Journalist und Kameramann für ausländische Nachrichtenagenturen zu arbeiten und wurde dafür brutal verfolgt.
Gemeinsam mit Jan Heilig drehte er den Dokumentarfilm Syria Inside sowie diverse YouTube-Videos für die Webserie ZUKAR. Er begeistert ganze Schuljahrgänge und füllt die Säle von Alteneinrichtungen und Kulturzentren.
Ausstellung „Vom Menschen zum Flüchtling – vom Flüchtling zum Menschen“
Außerdem sind noch bis zum 26. Juni 2022 zwei weitere Ausstellungen in der Stadtkirche St.Reinoldi zu sehen. Zum einen „Vom Menschen zum Flüchtling – vom Flüchtling zum Menschen“ mit Fotografien von Cornelia Suhan.
Fotografien von 15 Geflüchteten erzählen von ihren Träumen, ihren Ängsten und ihren Hoffnungen. Sie haben alle ihre Heimat verlassen (müssen), in der Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Cornelia Suhan hat sie befragt. „Genau wie wir haben Sie Pläne für ihr Leben. Sie wünschen sich ein gutes.“
Alle Sprechen von Lernen und Arbeiten und der Hoffnung, dass es ihre Kinder besser haben werden. Bei manchen sind die Träume konkret, sie wollen Berufe ergreifen, die bei der späteren Rückkehr in die Heimat hilfreich sein könnten. Viele wollen in Ruhe leben. Niemand hat überzogene Vorstellungen von Deutschland als einem Land, in dem Milch und Honig fließt.
Und doch sind sie dankbar, hier gelandet zu sein. Sie dürfen wieder träumen. Sechs Jahre sind vergangen. Die Portraitierten werden wieder gefragt: Wie sehen sie sich heute? – Ihre Antworten: mutig, tapfer, lachend. Menschen eben.
Ausstellung „Heimat: Gestern und Morgen?!“
Zusätzlich wird die Fotoausstellung „Heimat: Gestern und Morgen?!“ präsentiert. Wo beginnt Heimat? Wann fühlt sich ein Ort wie Heimat an? Was sind überhaupt Heimatgefühle? Ist Heimat nur dann Heimat, wenn sie so aussieht, wie wir sie haben möchten? Können wir verschiedene Heimaten vereinen?
Eine Gruppe zugewanderter junger Menschen, die seit einiger Zeit in Deutschland leben, lassen die Besucher:innen die Welt mit ihren Augen sehen. Sie stammen aus verschiedenen Ländern und aus unterschiedlichen sozialen Zusammenhängen. Viele von ihnen sind aus der alten Heimat geflüchtet, haben Freunde und Familie zurückgelassen. Und nun präsentieren sie ihre Perspektive(n) auf Heimat(en).
Gezeigt werden Fotos aus Dortmund und aus verschiedenen Teilen der Welt. Jedes von ihnen verbildlicht auf andere Weise einen Aspekt von Heimat, eine Erinnerung, ein Gefühl, eine Assoziation. Ein Friseursalon, ein Straßenschild, der Sonnenuntergang – was verbinden wir mit Heimat? Und kann man erahnen, von woher dieses oder jenes Foto stammt? Vergangenheit und Gegenwart, Zeit und Raum überlagern sich. Sehen wir dasselbe im Bild?
Die Ausstellung wird in in Kooperation mit VMDO Verbund der sozial-kulturellen Migrantenvereine in Dortmund e.V., Machbarschaft Borsig11 e.V. präsentiert. Sie wird von der LAG Kunst und Medien NRW e.V., dem Ministerium für Kultur und Wissenschaft des Landes Nordrhein-Westfalen und Interkultur Ruhr gefördert.
Weitere Informationen und das ausführliche Programm: www.sanktreinoldi.de/offene-kirche/weltfluechtlingstag-2022 und www.beimnamennennen.ch
Reader Comments
Gedenktag für die Opfer von Flucht und Vertreibung: Reul ordnet Beflaggung an (PM)
NRW-Innenminister Herbert Reul hat für Montag, 20. Juni 2022, Beflaggung angeordnet. An diesem Tag sollen in Nordrhein-Westfalen die Flaggen an allen Dienstgebäuden des Landes, der Gemeinden und Gemeindeverbände sowie der übrigen Körperschaften, Anstalten und Stiftungen des öffentlichen Rechts, die der Aufsicht des Landes unterliegen, auf Vollmast gesetzt werden.
Anlass ist der Gedenktag für die weltweiten Opfer von Flucht und Vertreibung und insbesondere der deutschen Vertriebenen, der seit 2015 jährlich zeitgleich mit dem Weltflüchtlingstag begangen wird.