Die „Machbarschaft Borsig11“ feiert zehnjähriges Jubiläum. Der Verein stammt aus dem Autorenprojekt „2-3 Straßen“ des Konzeptkünstlers Jochen Gerz im Kulturhauptstadtjahr Europas Ruhr.2010 und fördert soziale Kreativität im Borsigplatz-Quartier.
Vom Autor:innenprojekt zur Vereinsgründung
10 Jahre ist es her, da lebten 78 Menschen aus Deutschland, Europa und darüber hinaus ein Jahr lang mietfrei in Dortmund, Duisburg und Mülheim an der Ruhr.
Sie kamen, um gemeinsam mit Nachbarn und Besucher:innen ein Buch zu schreiben und sich selbst und die Straßen, in denen sie wohnten, zu verändern. „2-3 Straßen. Eine Ausstellung in Städten des Ruhrgebiets“ hieß das einjährige Autorenprojekt des Konzeptkünstlers Jochen Gerz im Kulturhauptstadtjahr Europas Ruhr.2010.
Das 3000 Seiten starke Buch „2-3 Straßen“ wurde 2011 veröffentlicht wurde und versammelt alle Beiträge der insgesamt 887 Autoren chronologisch vom ersten bis zum letzten Tag in einem ununterbrochenen langen Fluss.
Ein Text ohne Ufer – die Chronik eines besonderen Jahres und ein Produkt sozialer Kreativität: ging es doch darum, das alltägliche, ganz reale Leben als Gestaltungsraum zu nutzen und die Möglichkeit und den Wert der Kreativität als eine soziale Ressource auszuprobieren.
Viele Künstler:innen haben am Borsigplatz in der Nordstadt eine neue Heimat gefunden
Was ist aus „2-3 Straßen“ geworden? Hat das Projekt Spuren hinterlassen? Die Provokation, das scheinbar Sperrige an „2-3 Straßen“ war, dass sich das Konzept jeder Form von Eventkultur verweigerte: Die Straßen waren die Straßen.
In der „Ausstellung“ gab es „nichts“ zu sehen. Nichts Fertiges oder Gemachtes, kein Werk bot sich Passant:innen oder Betrachter:innen, sondern ein kreativer Prozess, den alleine der eigene Beitrag erfahrbar machte. Nicht Kunst als Kunst sollte die Straßen verändern. Die Idee war vielmehr, dass “Kunst sich auflöst in Gesellschaft wie Aspirin im Wasser – und wirkt” (Jochen Gerz).
Mit Sicherheit hat „2-3 Straßen“ Menschen berührt, beeinflusst und verändert. Das „Teilnehmen“ schärft das Bewusstsein – als Autor:in des eigenen Lebens wie der sozialen Verhältnisse. Nach dem Ende des Kulturhauptstadtjahres sind viele der von weit her angereisten Beteiligten im Ruhrgebiet geblieben.
Die meisten von ihnen haben sich am Dortmunder Borsigplatz zusammengefunden und 2011 den Verein „Machbarschaft Borsig11“ gegründet. Der hat sich das Motto „sozialer Kreativität“ auf die Fahnen geschrieben und ist bis heute so aktiv wie vor zehn Jahren.
Volker Pohlüke: „Wir wollten das Experiment mit der Wirklichkeit weitertreiben.“
„Wir wollten das Experiment mit der Wirklichkeit weitertreiben,“ sagt Volker Pohlüke, ehemaliger Teilnehmer von „2-3 Straßen“ und Vorstand der Machbarschaft Borsig11.
„Seither sind viele Kontakte in die Nachbarschaft gewachsen. Es gibt eine kreative Dynamik, eine neue Selbstverständlichkeit im Quartier, die wir aufrechterhalten und mit der wir weiterarbeiten. In den letzten zehn Jahren haben sich daraus immer wieder für alle Seiten unerwartete Initiativen ergeben.“
Die reichen von der ganz konkreten Nachbarschaftshilfe und Jugendarbeit über soziale Teilhabeprojekte bis zur künstlerischen Selbsthilfe auf der Straße. Immer wieder kommen andere Akteure dazu.
Wichtige Kooperationen mit Vivawest und der BVB-Stiftung „leuchte auf“
Zuerst wurde die Arbeit im Oesterholz-Karree weitergeführt, den drei Hinterhöfen der Dortmunder „2-3 Straßen“: „Nachbars Garten“, eine Fahrradwerkstatt, eine „Weltbücherei“ oder das „Kreative Adressbuch vom Borsigplatz“. Doch längst steht die Machbarschaft Borsig11 auf eigenen Füßen.
Wahr ist aber auch: Ohne die langjährige Kooperation der Vivawest Wohnen (2010 noch Evonik Wohnen) mit Mietvergünstigungen und Zwischennutzungsmöglichkeiten hätten es die „Macher vom Borsigplatz“ wohl schwerer gehabt.
Man kann nicht alles alleine schaffen. Mit Unterstützung der BVB-Stiftung „leuchte auf“ hat Borsig11 zwei Jahre später die Youngsters Akademie gegründet. Kinder und Jugendliche suchen als Videoreporter:innen selbst nach der beruflichen Zukunft.
Über 100 Clips hat die Youngsters Akademie seit 2013 produziert und kooperiert mit verschiedenen Dortmunder Schulen. „Mir hat das vor allem Spaß gemacht. Ich habe gar nicht gemerkt, dass ich viel gelernt habe“, sagt Abdullah Khan, heute 17 Jahre alt. „Inzwischen stehe ich seltener vor der Kamera und arbeite mehr in der Videoredaktion“.
Machbarschaft liebt das kreative Chaos des Stadtteils
Mit Hilfe der Montag Stiftung Kunst und Gesellschaft aus Bonn wurde 2014 die Kreativwährung „Chancen“ am Borsigplatz eingeführt, dank der die Bewohner:innen der Nordstadt ein Jahr lang ihr kulturelles Leben in die eigenen Hände nehmen konnten.
Über 500 Menschen haben sich daran beteiligt. Es wurde gegärtnert, gekocht, auf- oder abgeräumt, musiziert, Theater gespielt, eine „Freie Republik Borsigplatz“ ausgerufen, es wurden ganze Straßen umbenannt und vieles mehr.
Seit 2017 darf sich die Dortmunder Nordstadt „Kreativ.Quartier“ nennen. Mit der KulturMeileNordstadt e.V., ConcordiArt e.V. und artscenico e.V. öffnet die „Machbarschaft Borsig11“ Besucher:innen von auswärts das Quartier.
„appARTment.ruhr“ stellte 2018/19 zwei Gästewohnungen bereit, gestaltet und signiert von Künstlerhand. Das Ziel – ein alternativer Tourismus, der das kreative Chaos des Stadtteils zu schätzen weiß.
Marlene Bambury Paul: „Das hier ist ein kleines Utopia.“
Knappe 500 Meter nördlich vom Borsigplatz, dem Anfang der zehnjährigen Geschichte, die mit „2-3 Straßen“ begann, liegt heute das Chancen-Café 103. Es ist der Magnet sozialer Kreativität im Quartier.
„Restlos glücklich“ heißt das Motto des Ladens, eine „Givebox“ und ein „Foodsharing-Fairteiler“ gehören dazu. Der nachhaltige Umgang mit Ressourcen ist hier ebenso Programm wie die kulturelle Vielfalt des Quartiers. Seit 2016 ist die 103, das Chancen-Café, täglich geöffnet.
Nachbarn aller Altersgruppen und unterschiedlichster Herkunft organisieren in eigener Regie den Betrieb und Veranstaltungen wie die „Nordstadt Sessions“ oder „Vegan Dinners“. Die Miete wird inzwischen vom Kulturbüro der Stadt Dortmund getragen.
„Ich bin erst seit ein paar Jahren dabei“, sagt Marlene Bambury Paul, die für die Küche im Chancen- oder auch Umsonst-Café in der Oesterholzstraße 103 zuständig ist. „Aber das hier ist ein kleines Utopia. Es ist ein Ort, an dem man etwas machen kann. Und es kommen immer wieder neue, sehr unterschiedliche Leute dazu. Wir müssen lernen, mit unserer Freiheit umzugehen. Mit anderen zusammen, auch wenn nicht alle das gleiche wollen. Auch wenn manche nicht gleich alles verstehen. Das ist es, was wir hier tun.“