Vergangene Woche Dienstag (16. März) hatte die Stadt Dortmund angekündigt, angesichts eines sich signifikant verändernden Infektionsgeschehens durch die britische Mutation B.1.1.7 die Schulen zu schließen. Doch die geplante Maßnahme wurde durch die NRW-Landesregierung bekanntlich sofort wieder kassiert. Auf der gestrigen Sitzung des Stadtrates (25. März) war das Vorpreschen der Dortmunder Verwaltungsspitze Thema kontroverser Diskussionen. Wie die Test- und Impfstrategie der Stadt überhaupt. Oberbürgermeister Thomas Westphal verteidigte die Entscheidung vehement: „Das würde ich immer wieder so tun an der Stelle!“ Eine Haltung, der die große Mehrheit im Rat durchaus folgen konnte.
Wir befinden uns in einer komplett neuen Phase der Pandemieentwicklung
Denn wegen der Folgeprobleme in Zusammenhang mit einer solchen Entscheidung, die die Dortmunder Verwaltungsspitze in der letzten Woche kurzerhand getroffen hatte, zu sagen, „Wir lassen es einfach durchlaufen und gehen zur Tagesordnung über“, das habe er als nicht sachgerecht empfunden, begründet Westphal den am Ende gescheiterten Alleingang der Stadt. ___STEADY_PAYWALL___
Die gestrige Ratssitzung stand anfangs ganz im Zeichen der kommunalen Corona-Politik. OB Thomas Westphal erklärt, rechtfertigt aus den Situationsmerkmalen von vor acht Tagen die Motivation, die Schließung der Schulen (und kurz darauf auch die der Kitas) bewirken zu zu wollen. Entscheidend für ihn dabei: ein bisher unterbelichtet gebliebener Aspekt in der Diskussion zum Umgang mit Corona – nämlich „dass wir uns in einer komplett neuen Phase der Pandemieentwicklung befinden“.
Die Rede ist von der britischen Virusvariante B.1.1.7. Die habe „immer mehr und immer stärker das Gros des Infektionsgeschehen übernommen“. Kollegin Birgit Zoerner, Dezernentin u.a für Gesundheit, bestätigt: Die Anzahl der Mutationsfälle ist deutlich gestiegen. 700 sind es in Dortmund, davon nur einer mit der südafrikanischen, aber 699 Infektionen mit der britischen Variante. Eine Woche zuvor waren es lediglich 490 Fälle.
Britische Variante B.1.1.7 weitet sich zusehends aus und bestimmt Infektionsgeschehen
Im Dortmund der letzten Woche, als der Verwaltungsvorstand am Dienstag entschied, die Schulen zu schließen, da seien es bereits um die 50 Prozent Infektionsfälle durch B.1.1.7 in der Stadt gewesen, in anderen Teilen des Landes schon über 70 Prozent, Tendenz steigend.
Es ist also ein deutlicher Anstieg zu verzeichnen, und es wird zugleich klar, woher der Wind nun weht: Wir haben bzw. werden es fortan mit B.1.1.7 zu tun haben – und daher auch mit seinen veränderten Merkmalen gegenüber der Urvariante. Das hat eine ganze Reihe von Konsequenzen.
Eine erläutert Birgit Zoerner: der Inzidenzwert als exklusiver Bewertungsparameter reicht bei der Mutation nicht mehr aus, weil die eine ganz andere Dynamik besäße. Darauf müsse nun geschaut werden, so auch der OB, nicht auf die Kennzahlen. Gegenwärtig wird dies auch im Gesundheitsausschuss des Deutschen Städtetages diskutiert. Etwaige Kriterien für einen Lockdown dürften sich in Zukunft dann anders darstellen.
Durch Mutation: Schnellere Verbreitung des Virus und stärker betroffen sind jüngere Menschen
Analysen des Gesundheitsamtes wie des RKI wiesen nach, „dass sich das Infektionsgeschehen durch dieses Virus komplett verändert hat“, betont Westphal. Wie? Es sind zwei entscheidende Merkmale, die eine solche Reaktion wie die der Stadt in seinen Augen unumgänglich machten. – „Das betrifft vor allen Dingen Geschwindigkeit der Infektionsverbreitung, das betrifft vor allem die betroffenen Personengruppen.“ Über die sich das Virus nun schneller ausbreitet – und das sind die Jüngeren.
„Genau diese Veränderung der Situation war für uns maßgeblich“, begründet er die Entscheidung der Kommune in der letzten Woche. Denn für stationär zu behandelnde Krankheitsfälle verlängern sich die durchschnittlichen Klinikaufenthalte – weil die Menschen dort jünger werden. So dass „sehr bald eine Überforderungsituation“ eingetreten wäre, macht Westphal klar.
Auch deshalb, im Übrigen, weil hier nicht nur die Vorratszahl freier Intensivbetten relevant ist. Sondern es ist auch eine Frage des verfügbaren Fachpersonals, an dem es mangelt, darauf verweist Gesundheitsdezernentin Zoerner. Ein wenig erstaunlicher Umstand, angesichts der bekanntlich herausragenden Arbeits- und Entlohnungsbedingungen in dem Sektor.
Infektionsgeschehen in Kitas kehrt sich um: mehr Kinder als Erzieherinnen betroffen
Ein Indiz dafür, dass es nun stärker die Jüngeren erwischt: Die Fallzahlen in den letzten Wochen habe sich bei den Unter-20-Jährigen fast verdreifacht, so Westphal. Ebenso gab es eine deutliche Erhöhung in den Kindertagesstätten.
Schul- und Jugenddezernentin Daniela Schneckenburger bestätigt: „Wir haben seit dem 24. Februar einen signifikanten Anstieg der Infektionszahlen in den Kindertageseinrichtungen.“
Sie betont: Bis Ende letzten Jahres konnten stets mehr Erwachsene als Kinder als Infizierte in den Kitas ausgemacht werden. Seit 2021 sind es mehr Kinder als Erzieherinnen. Die Übertragungsrate der britischen Variante ist bei Kindern höher, das Infektionsgeschehen beschleunigt sich.
Die Dezernentin und damalige Oberbürgermeisterkandidatin der Grünen nennt nüchterne Zahlen, die genau darauf verweisen: 68 Gruppen sind mittlerweile (Stand 24. März) in den Kitas und der Kindertagespflege dicht, 1075 Kinder in Quarantäne. Der Höchststand 2020, am 16. Dezember, betrug 43,5 geschlossene Gruppen und 862 Kinder in Quarantäne. Sie resümiert: „Die Entwicklung des Infektionsgeschehens macht deutlich, dass es eine Umkehrung bei den Personengruppen gibt.“
Kontroverse im Stadtrat: Jeder Tag ist ein Gewinn! – Die Frage ist nur: mit oder ohne Schule?
Vor allem die Schulschließungen stoßen im Rat zwar nicht auf mehrheitlichen, aber umso lautstärkeren Widerstand. Es ist die FDP/Bürgerliste, die hier ein Problem hat.
Ihr Fraktionschef Michael Kauch bemängelt grundsätzlich: Nicht bei einem Inzidenzwert von 71, wie zu der Antragszeit, sondern bei 100 erst sei die Notbremse zu ziehen. Insgesamt ginge es darum, Infektionen besser aufzudecken, statt in einen Lockdown zu gehen. Dazu bedürfe es einer entsprechenden Teststrategie.
Seine Kollegin von den Freien Demokraten Antje Joest zitiert Thomas Westphal: „Jeder Tag ohne Schule ist ein Gewinn“, habe der OB gesagt. Sie hingegen: „Jeder Tag mit Schule ist ein Gewinn.“ Denn aus ihrer täglichen Arbeit als Lehrerin wüsste sie: Ja, die Kinder infizierten sich vermehrt, aber landeten auf keinen Fall auf der Intensivstation. Und auch in den betreffenden Familien passiere relativ wenig. Die Schulen müssten jetzt endlich offen bleiben.
Hendrik Berndsen, Fraktionsvorsitzender der SPD erinnert demgegenüber: Bei ihrer Einführung als Ratsmitglieder hätten sie sich verpflichtet, für die Gesundheit der Bürger und Bürgerinnen in Dortmund gerade zu stehen. Bei jedem Menschen, der sich infiziere, könne es unter Umständen zum Todesfall kommen. Das habe es auch schon bei Kindern und Jugendlichen gegeben. Julian Jansen (Bündnis 90/Die Grünen) pflichtet ihm unversehens bei: Auch wenn es bei Schülerinnen und Schülern keinen schweren Verlauf gäbe: sie steckten immerhin noch ihre Eltern und Großeltern an. – Und erntet deutlich Applaus.
Ein potentieller „Wiederholungstäter“: OB Westphal bekennt sich zu etwaigen Schulschließungen
Für die Dortmunder Verwaltungsspitze war ihre Entscheidung zu den Schulschließungen jedenfalls alternativlos. Das alles habe Anfang der letzten Woche sehr stark dem geähnelt, was im letzten September passiert sei. Von einer beginnenden Verdopplungsgeschwindigkeit sei die Rede gewesen, so Westphal. Diesen Veränderungen beim Infektionsgeschehen habe man Rechnung tragen müssen.
In einer solchen Situation dann, wie vom Land beabsichtigt, die Schulen zwei Wochen vor den Osterferien, netto für ganze fünf Präsenztage, zu öffnen, war für die Stadt ein No-Go: „Wir haben gesagt, dass der Nutzen dessen, aus bildungspolitischen Überlegungen … wie aus sozialen … gegenüber dem Risiko … in keinem Verhältnis steht“, erläutert der OB. Und er, Westphal, entschiede in einer vergleichbaren Situation ebenso.
Fügt hinzu, weil sich Fragen der Infektionsentwicklung und -bekämpfung ersichtlich in Bewegung befinden: Auch jetzt könnten sie in Dortmund nicht umstandslos sagen, die Schulen nach Ostern wieder zu öffnen. Schuldezernentin Schneckenburger erklärt: „Schulschließung“ bedeute zudem nicht Einstellung der Bildungsversorgung, sondern die Aussetzung des Präsenzunterrichts.
Was das regelmäßige Testen an den Schulen betrifft: 1,8 Millionen Selbsttests habe das Land NRW für die Schulen der Sekundarstufe I und II zur Verfügung gestellt, zumindest zugesagt. Nach den Osterferien sollen zwei Testungen pro Woche durchgeführt werden.
Wegen Regelverletzung: Vorpreschen Dortmunds bei Schulschließungen stößt im Rat auf wenig Echo
In der Stadtratsdebatte hat das unilaterale Vorpreschen Dortmunds beim Schließungsthema, das auf ein überregionales Medienecho gestoßen war, kaum Gewicht. Michael Kauchs Vorwurf in Richtung Westphal, beim Dortmunder Alleingang die Verfahren der Coronaschutzverordnung nicht eingehalten zu haben, wirkte schon eher pingelig, trotz der Regelverletzung.
Eine Stadt dürfe per Allgemeinverfügung von der Verordnung nur einvernehmlich mit dem Düsseldorfer Gesundheitsministerium abweichen – bei einer Antragsfrist von zwei Tagen, so der Fraktionsvorsitzende der FDP/Bürgerliste. Während Westphal nach der VV-Sitzung die Schulschließungen schon für den kommenden Tag angekündigt habe, sollte es bis zum Nachmittag keine Antwort aus dem Ministerium geben.
Schlimm, schlimm, hat aber offenbar unter den Ratsvertreter*innen kaum jemand wirklich gekratzt. Und auf den Hinweis des AfD-Sprechers Matthias Helferich – der sich nebenbei für eine vollständige Öffnung des Einzelhandels stark macht, da dort die Infektionsgefahr relativ gering sei: ein Mehr an Testen bedeute wohl mehr positive Ergebnisse, rät Dr. Jendrik Suck, Fraktionschef der CDU mit bissiger Ironie, aber nonchalantem Ton: „Am einfachsten ist es, wenn wir gar nicht mehr testen, dann haben wir in Dortmund Corona auch abgeschafft.“
Über Vorlaufszeiten, Notbetreuungsangebote, Transparenz/Akzeptabilität und Akzeptanz
Kein gutes Haar an den übergeordneten Instanzen lässt Dr. Christoph Neumann von den Grünen: Es sei einiges schief gelaufen, vor allem auf Bundes- und Landesebene. Wenn die Polizei Selbsttests an die Schulen fahren müsse, könne da etwas nicht ganz richtig laufen.
Sein Parteikollege Julian Jansen erneuert seine Kritik an der Stadt: Luft nach oben sieht er im Falle von Schulschließungen zukünftig bei der Vorlaufszeit für Familien (es waren in der letzten Woche gerade einmal 24 Stunden) und beim städtischen Notbetreuungsangebot.
Gibt im Weiteren zu bedenken, mit Blick auf andere potentielle Infektionsherde: Was denn mit Urlaubsreisen nach Mallorca ohne Quarantäne sei, was mit Arbeitgebern, die nicht testeten oder kein Home-Office anböten?
Hendrik Suck ist besonders wichtig: Transparenz seitens der Stadt in Sachen Corona-Kommunikation. Denn in den kommenden Wochen komme es auf die Akzeptanz der Impfangebote (über die Hausärzte) in der Bevölkerung an.
„Es wäre schön, wenn wir es irgendwann mal schaffen würden, vor die Lage zu kommen“
Für Utz Kowalewski, Fraktionschef Linke+, geht die Haltung von FDP/Bürgerliste eher in die Richtung, das Virus zu lange zu dulden. Sieht sich selbst bei Herrn Söder – daher läge kein parteipolitisches Problem vor, versucht er Missverständnisse zu vermeiden.
Um auf das aus seiner Sicht grundsätzliche Problem hinzuweisen: „Es wäre schön, wenn wir es irgendwann mal schaffen würden, vor die Lage zu kommen. Wir hängen jetzt seit einem Jahr immer wieder der Entwicklung hinterher, versuchen, das maximal Mögliche … nicht zu tun und kommen dann in Notfallmaßnahmen hinein, weil wir die Lage nicht mehr im Griff haben“, bemängelt der Chef von Linke+.
Und verweist auf das Gegenbild Japan: eine viel dichtere Bevölkerung, viel mehr ältere Menschen und ohne Lockdown – dort läge die Inzidenzrate bei 6. – Wie das möglich ist, mag gefragt werden. Ist das einfach einer ostasiatischen Disziplin des Einzelnen zugunsten der Gemeinschaft geschuldet, die der westeuropäische Individualismus nicht leisten kann?
Lage in den Dortmunder Pflegeheimen entspannt sich zusehends
Und Dortmund? Am 24. März habe am fünften Tag in Folge die Stadt über einem Inzidenzwert von über 100 gelegen, informiert Birgit Zoerner. B.1.1.7 ist angekommen: Mittlerweile gäbe es bei allen positiven Fällen eine Vorsequenzierung, mit der solche Mutationsfälle schnell entdeckt werden könnten.
Positiv sei hingegen festzustellen: dass in den Pflegeeinrichtungen geimpft wurde, schlägt durch. Es gäbe nur noch einen Infektionsfall in einer vollstationären Pflegeeinrichtung. „Das sah vor drei, vier Wochen komplett anders aus“, so Zoerner. Ab sofort wird in Dortmund, um die Impfzentren auszulasten, berichtet sie, auch die Prioritätsgruppe 2 geimpft werden, das sind u.a. die chronisch Kranken.
OB Thomas Westphal verweist in diesem Zusammenhang darauf, es gäbe „keine kommunale städtische Impfstrategie.“ Hier seien sie „Umsetzungsbehörde sozusagen und den entsprechenden Weisungen unterlegen“.
Ab dem 6. April soll nun auch in den Arztpraxen geimpft werden, insbesondere die chronisch Kranken. Im neusten Impferlass des Landes wird festgelegt: dann solle dies ausschließlich mit dem Impfstoff von BioNTech geschehen, so Zoerner. Die Über-70-Jährigen (ebenfalls Prio-Gruppe 2) können sich nach Ostern übrigens über ein System der kassenärztlichen Vereinigung zur Impfung anmelden.
Neue Corona-Schutzverordnung erwartet – Dortmund möchte Modellstadt werden
Auch das Impfen an den Schulen von Lehrer*innen und allen anderen am Schulbetrieb Beteiligten kommt voran, berichtet Daniela Schneckenburger; die Impfbereitschaft sei hoch gewesen. Es gäbe aber keine 100 prozentige Bereitschaft von Eltern, in die Impfung ihrer Kinder einzuwilligen.
Derweil erwartet die Stadt nach dem Horror der Berliner Chaos-Tage ab Montagnacht auf ähnliche Spezialitäten nach NRW-Landesart von Schwarz-Gelb. Eine neue Corona-Schutzverordnung des Landes soll heute (26. März) eintreffen, zumal die alte am 28. März ausläuft.
Schließlich möchte Dortmund Modellstadt in NRW werden. Dort sollen in fünf bis sechs Städten Teststrategien erprobt werden. Das Ganze in Abstimmung und Kooperation mit der TU Dortmund, die in der Sache bereits fleißig unterwegs ist. Um Kräfte zu bündeln, so Westphal.
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