Das Kulturzentrum „Nordpol“ in der Dortmunder Nordstadt, Münsterstraße 99, gelegen nahe der Ecke zur Mallinckrodtstraße, ist unter anderem ein bekannter Veranstaltungsort und Treffpunkt engagierter Antifaschist*innen. Dass die Dortmunder Polizei die gesamte Eingangsfront der Räumlichkeiten demnächst mit hochauflösenden Videokameras überwachen lassen will, stößt dort seit längerem auf erheblichen Widerstand. Aber auch unter den Anwohner*innen im Quartier regt sich Unmut. Denn die Maßnahme ist lediglich Teil einer flächendeckenden Überwachung der gesamten unteren Münsterstraße, so der Plan. Insgesamt sollen ab dem Platz vor der St. Josephs-Kirche bis runter zur Mallinckrodtstraße sage und schreibe 18 Kameras fest installiert werden. Dadurch sieht eine eigens gegründete Nachbarschaftsinitiative eine ganze Reihe fundamentaler Grundrechte in Gefahr und macht mobil. Jüngst mit einem Eilantrag gegen die Inbetriebnahme der Kameras beim Verwaltungsgericht Gelsenkirchen. Es geht in ihren Augen um die Versammlungsfreiheit und vieles mehr.
Neues Polizeigesetz NRW senkt Ermächtigungsvoraussetzungen für Überwachung öffentlicher Räume
Seitdem in NRW das Ende 2018 in Kraft verabschiedete Polizeigesetz (PolG) den Behörden größere Freiheiten gewährt, wenn es um die Ermächtigungsvoraussetzungen für die Überwachung öffentlicher Räume geht (§ 15a), liegt es in deren Interesse, die neuen rechtlichen Möglichkeiten voll auszuschöpfen. Warum auch nicht? Der Auftrag der Exekutive lautet immerhin, jene Normen durchzusetzen, für die sich diese Gesellschaft in einem demokratischen Prozedere entschieden hat. ___STEADY_PAYWALL___
Insbesondere dort, wo es in ihren Augen nottut. Dazu gehört – vom HBF aus gesehen – der untere Bereich der Münsterstraße, vom geräumigen Vorplatz der St. Josephs-Kirche weiter Richtung Norden bis zur Mallinkrodtstraße. Dort ist nach Polizeiangaben das Kriminalitätsniveau trotz insgesamt sinkender Deliktraten und verstärkten Kontrolldrucks verhältnismäßig hoch geblieben. Was sich die Ordnungshüter von der Montage hochauflösender Kameras in diesem Straßenabschnitt erhoffen: Prävention, letztendlich ein Mehr an (Gefühl von) Sicherheit für Anwohner*innen sowie der sich dort aufhaltenden Bürger*innen.
Die Kameras sind für Polizeipräsident Gregor Lange denn auch „der nächste logische Schritt“ im Gesamtkonzept polizeilicher Maßnahmen. „Die Technik ersetzt nicht die Einsatzkräfte und soll sie auch nicht“, betonte er kürzlich anlässlich eines Pressegesprächs, bei dem vor einem Monat auch die erste fest installierte Kamera über dem Fahrradgeschäft Noll in Münsterstraße 72 präsentiert wurde – entscheidend sei das Zusammenspiel. „Die Beobachtung unterstützt uns im Alltag, Straftaten schon im Anfangsstadium zu erkennen.“
Von Dortmunder Polizei präsentierte Kriminalitätsstatistiken sprechen vorderhand für Videobeobachtung
Es ginge dabei – so Lange in nach dem PolG einwandfreien Formulierungen – um Gefahrenabwehr; also darum, schnell zu reagieren und Straftaten – wenn irgend möglich – bereits im Vorfeld zu unterbinden, ohne dass es zu Verdrängungseffekten kommt.
Und hat im Hintergrund Statistiken parat, die von der Dortmunder Polizei auch beim Verwaltungsgericht (VG) Gelsenkirchen eingereicht wurden, mit denen seiner Auffassung nach die angestrebte optisch-technisch Datenerhebung in dem fraglichen Straßenzug mehr als nur gerechtfertigt ist.
Und in der Tat – beim Blick auf die nebenstehenden Polizeistatistiken bestätigt sich: im unteren Teil der Münsterstraße liegen die Dinge besonders im Argen. Dagegen scheint der obere Teil, ja auch die so gefürchtete Brückstraße wohl eher ein Nest von Waisenknaben zu sein.
Denn bei allen Deliktarten ist der nun zur besonderen Observation ausgelobte Straßenabschnitt (Hausnummer 50 bis 99) unangefochten Spitzenreiter, in den Zahlen von 2019 etwa bei Körperverletzung (40 Fälle), Sachbeschädigung (15), Rauschgift (45), Diebstahl (266), Sonstige (75).
Auf dem Fuße folgen wechselseitig sich befruchtende Sorgen von Teilen der (zumeist) konservativen Kommunalpolitik und verunsicherter Bürger*innen. Das Unwesen, das in diesem Quartier anzutreffen ist und dem gefälligst Einhalt geboten werden soll – nun, das ist, grob zusammengefasst, ein Ausmaß an Klein- bis Kleinstkriminalität, welches das Niveau anderswo – schon ein paar Straßenzüge weiter – deutlich übersteigt.
Die Rede ist – wohlgemerkt – vor allem von solchen Straftaten, die auf soziale Deprivation hinweisen – wie etwa infolge von Drogenkonsum. Dennoch: gerade sie verunsichern, weil sie potentiell sichtbarer in die Lebenswelt von Menschen eingreifen, als für den Fall, dass Milliarden durch organisierten Steuerbetrug wie bei Cum-Ex auf digitalem Wege irgendwo zwischen Frankfurt und New York zur Seite geschafft werden.
Ergo sollte etwas getan werden. Passend zu den Merkmalen der unerwünschten Vorkommnisse auf der unteren Münsterstraße. Die 18 Kameras, welche die Dortmunder Polizei dort installieren möchte, sollen von Montag bis Samstag zwischen 16 Uhr und Mitternacht im Einsatz sein. Dies ergäbe sich aus dem überwiegenden Teil der bisherigen Tatzeiten, argumentieren die kommunalen Ordnungskräfte.
Ihre konkrete Vision für die Zukunft haben sie ebenfalls beim VG vorgelegt, s. rechtsstehende Graphik: dem gelben Strang über die Münsterstraße folgend, bleibt dort zwischen Hausnummer 50 und 99 in den genannten Stunden nach dem Willen der Polizei keine mit dem Gesetz konfligierende Tat mehr ungeahndet.
„Gelb“ heißt auf der Polizeikarte idealtypisch: Tue hier etwas Unerlaubtes und Du bist im Handumdrehen „fällig“! Denn das Geschehen soll an Ort und Stelle nicht nur lediglich wie bei der Videoüberwachung (im technisch engeren Sinne) aufgezeichnet werden, um die Bilder im Bedarfsfall – zur Ahndung von Straftaten – später auszuwerten. Sondern es geht im Weiteren um die „Videobeobachtung“ des Terrains; d.h., dass nicht nur alle Geschehnisse aufgezeichnet und (bis zu 14 Tage oder länger) gespeichert werden, sondern Polizeibeamt*innen müssen stets online mit von der Partie sein.
Obwohl der Ausdruck harmloser klingt: „Videobeobachtung“ toppt „Videoüberwachung“ im engeren Sinne
§ 15a PolG NRW fordert dies ausdrücklich, nämlich dass für die „Datenerhebung durch den offenen Einsatz optisch-technischer Mittel“ als Bedingung „jeweils ein unverzügliches Eingreifen der Polizei möglich ist“.
Solche Zugriffskapazitäten könnten in dem Abschnitt bei eh vorhandener Streifendichte sowie durch die benachbarte Steinwache sichergestellt werden. Effektiv präventives Handeln setzt hier voraus, dass keine Lebensäußerung der sich in der fraglichen Öffentlichkeit bewegenden Menschen mehr unbeobachtet bleiben darf.
Die Beamt*innen verfolgen so alle Vorgänge in den erfassten Verkehrsräumen – wie schon seit einigen Jahren auf der Brückstraße – zeitgleich vor ihren Bildschirmen mit und können gegebenenfalls sofort einen Eingriff – günstigstenfalls zur Verhinderung von Straftaten – veranlassen. Vordergründig mag der Terminus „Videobeobachtung“ wie ein Euphemismus klingen für das, was sich dahinter verbirgt.
Doch im Grunde ist sie das schärfere Mittel – Überwachung und Zugriffsdisposition in einem. Gleichwohl der Begriff selbst weniger kritisch klingt. Denn in einem weiteren Sinne steht „Überwachung“ demgegenüber für ein staatlich gelenktes Kontrollsystem, das bürgerliche Freiheiten in erheblichem Maße beschneidet.
So etwa als lückenlose und – so machen Kritiker*innen zudem deutlich – die Unschuldsvermutung konterkarierende (hier: visuelle) Kontrolle von Öffentlichkeiten – ohne konkreten Anlass, sondern lediglich auf der Basis einer Prognose: des durch Kriminalstatistik gestützten allgemeinen Verdachts einer erhöhten Auftrittswahrscheinlichkeit bestimmter Delikte an einer bestimmten Örtlichkeit.
In dieser Kategorie, die verdächtig Richtung „Überwachungsstaat“ weist, bewegte sich zum Beispiel auch die Idee einer anlasslosen Vorratsdatenspeicherung über einen längeren Zeitraum: über sechs Monate, wie vom Bundesinnenminister und Heimatfreund Seehofer noch vor einigen Tagen gefordert, und vieles mehr.
Nachbarschaftsinitiative sieht das Kulturzentrum „Nordpol“ von der Polizeiführung besonders beobachtet
Ersichtlich kommt es in diesem Zusammenhang schnell zu unappetitlichen politischen Weiterungen. Auch deshalb hatte die Nachbarschaftsinitiative Münsterstraße bereits im Sommer dieses Jahres gegen die geplante Kameraüberwachung vor dem Verwaltungsgericht Gelsenkirchen Klage eingereicht. Ziel war es seinerzeit auch, Einsicht in die einschlägigen Akten zu erhalten. Darin fand sich in den seitens der Polizei bei Gericht eingereichten Unterlagen folgende Einschätzung: „Besonderer Wert wird auf die Hausnummer 60-62, 66 (Shishabars mit einschlägiger Klientel) und 99 (Cafe Nordpol) gelegt.“
Einmal bei dem Antifa-Kulturzentrum angelangt, heißt es dort weiter: „Als problematisch hat sich das Cafe Nordpol (Hausnummer 99) […] erwiesen. Die Besucher sind nicht nur generell aufgrund ihrer ideologischen Prägung ablehnend gegenüber der Polizei, sondern stören zum Teil aktiv die in diesem Bereich durchgeführten Kontrollen der dort agierenden Drogendealer sowie strafverfolgende Maßnahmen gegen diese Klientel.“ (Aus den Planungsdokumenten der Polizei Dortmund zur Videoüberwachung vom 27.08.2020, S. 3)
Schließlich wird in der beim VG vorgelegten Lagebeschreibung zum „Nordpol“ behauptet: „Bei größeren Demonstrationslagen in Dortmund wird das Lokal als Anlaufpunkt überörtlicher linksgerichteter Gewalttäter genutzt.“ Nachvollziehbare Belege dessen bleibt das Dokument allerdings schuldig.
Kritische Haltung gegenüber polizeilichem Handeln und dessen Effektivität in der Dortmunder Nordstadt
Auch aus diesem Grund hat sich in der Nachbarschaftsinitiative der Eindruck verfestigt, dass es sich bei der Überwachung des Eingangsbereichs zum Nordpol nicht allein um eine kriminalpräventive Maßnahme handelt, sondern eine politische Motivation dahintersteckt.
Das aber wiederum wurde bislang von der Dortmunder Polizeiführung vehement bestritten, auch auf Nachfrage von Nordstadtblogger: die Videobeobachtung habe nichts mit dem Nordpol zu tun. Sie erfolge völlig unabhängig davon, ob die Einrichtung sich dort befinde oder nicht.
Die Akteure um Nachbarschaftsinitiative wie Nordpol jedoch sehen das – vor allem nach Akteneinsicht infolge ihrer Klage – ganz anders. Und verweisen unter anderem auf ihre kritische Haltung gegenüber polizeilichen Maßnahmen im unteren Bereich der Münsterstraße.
„Grund für die Überwachung ist also, dass die Besucher*innen des Nordpol der Polizei kritisch gegenüber stehen und das Racial Profiling, das sie dort täglich selbst beobachten können (alle nicht-Weißen sind durch ihre Anwesenheit automatisch „Drogendealer“), nicht kommentarlos hinnehmen“, wird in einer Stellungnahme des Kulturzentrums verlautbart.
Kritisch hinterfragbar sind hier auch die effektiven Absichten der Polizeiführung – nämlich Kleinkriminalität zu verhindern und Bürger*innen ein Sicherheitsgefühl zu vermitteln. Die Akteure von der Münsterstraße sind vielmehr der Auffassung, dass durch die Überwachung ein Klima der Verunsicherung geschaffen würde, sofern sie das informationelle Selbstbestimmungsrecht von sich in der Öffentlichkeit aufhaltenden Personen genauso verletzt wie deren Freiheit, sich zu bewegen.
Nur das Ausschöpfen einer neuen Rechtslage? – Kritik an Präventionsstrategie der Dortmunder Polizei
Damit aber sind verbürgte Grundrechte in Gefahr, eine zukünftige Zweckentfremdung der erhobenen Datenmassen ist zudem absehbar und am Ende steht die Dystopie des erwähnten Überwachungsstaates. Ganz abgesehen davon, dass polizeiliche Maßnahmen bekanntlich keine sozialen Probleme lösen können:
„Die Initiative gegen Videoüberwachung hat bereits mehrfach darauf hingewiesen, dass eine Videoüberwachung der Münsterstraße nicht verhältnismäßig ist und vor allem nicht dazu beitragen kann, die Probleme der Nordstadt zu lösen“, teilen die Akteure mit.
Und präzisieren auf Nachfrage: „Die Argumentation, dass die Münsterstraße durch ,örtliche Begebenheiten‘, strukturell die Kriminalität ermöglicht, ist hanebüchen. Eine solche Argumentation ist notwendig, um belegen zu können, dass es nicht nur zur Verdrängung kommt. Allerdings wird künstlich versucht, zu argumentieren, dass der südliche Teil ,gehobener‘ wäre als der nördliche. Es wird auch ignoriert, dass z.B. die Schützenstraße eine sehr ähnliche Struktur aufweist.“
Noch 2016 habe der Polizeipräsident selbst eine solche Überwachung abgelehnt, da zu erwarten sei, dass sich die Kriminalität nur an andere Orte verlagert. Das habe sich ja nicht plötzlich geändert. Lediglich die Rechtslage sei nun eine andere, weil sie jetzt auch erlaube, Straftaten zu bekämpfen, die vielleicht – irgendwann in der Zukunft – einmal stattfinden könnten. Aus Sicht der Initiative ist daher klar: „die geplante Überwachung eines 350 Meter langen Straßenabschnitts“, sie ginge „weit über die nun erleichterte Überwachung spezifischer Orte hinaus“.
Eilantrag beim VG Gelsenkirchen: Dortmunder Polizeiführung möchte sich bis zum Entscheid zurückhalten
Ein weites, sehr weites Feld, mit etlichen Haken und Ösen. Doch wegen des Pressetermins im Oktober gab es in den Augen der Anti-Überwachungsakteure dringenden Handlungsbedarf. Sie hegten den Verdacht, die Dortmunder Polizeiführung wolle Fakten schaffen und vor dem Urteil des VG Gelsenkirchen die Videokameras (oder Teile der geplanten Armada) in Betrieb nehmen.
„Ja, wir waren bis dahin davon ausgegangen, dass sich das noch zieht und der Start eventuell vom Hauptverfahren abhängt. […] Da es uns schien, als sollten Nägel mit Köpfen gemacht werden, obwohl unsere Bedenken durch die Details aus der Akte eher größer geworden sind, haben wir uns dazu entschieden, den Eilantrag einzureichen.“ Das war am 9. November.
Konkret beantragt die Nachbarschaftsinitiative, „dem Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung bis zur Entscheidung in der Hauptsache im Klageverfahren 17 K 2626/20 zu untersagen, die Münsterstraße in Dortmund entsprechend der Entscheidung des Polizeipräsidenten des Polizeipräsidiums Dortmund vom 21. Januar 2020 durch den Einsatz optisch-technischer Mittel zu überwachen.“
Die Dortmunder Polizei hat bereits reagiert. Aus Respekt vor dem Gerichtsentscheid über den Eilantrag wolle man gegenwärtig die Dinge nicht vorantreiben, bedeutete das Präsidium. Gleichwohl der Antrag die Kamerainstallation und Inbetriebnahme prinzipiell nicht verhindere, wie es aus dem Verwaltungsgericht zu hören war. Drei Wochen hat die Behörde nun Zeit, Stellung zu nehmen. Ergo: vor Anfang Dezember wird in die Angelegenheit keine weitere Bewegung kommen. Dann ist da noch Corona, schließlich das Fest. Arthur Winkelmann von der Nachbarschaftsinitiative vermutet gegenüber dieser Redaktion: vor dem nächsten Jahr könnte gar nichts mehr passieren.
Weitere Informationen:
- Zur Nachbarschaftsinitiative und ihren Klagen gegen die Überwachung der Münsterstraße: https://www.nocamdo.org
- Kontakt: kameras-stoppen-dortmund@riseup.net
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