Den Reichtum der Roma-Kulturen kennenlernen, auf ihre Lebenssituation aufmerksam machen und diese verändern – darum geht es bei „Djelem Djelem“ vom 9. bis 23. Oktober 2020. Zum siebten Mal lädt das Festival in Dortmund zu Workshops und Lesung, Filmen und Forum, Ausstellung und Musik an mehreren Orten der Stadt ein – u.a. im Dortmunder U, im Dietrich-Keuning-Haus, in der Auslandsgesellschaft und im „Evinger Schloss“. Dass das Festival trotz Corona überhaupt stattfinden kann, ist nicht selbstverständlich. Doch dafür mussten die Veranstalter*innen viele Abstriche machen.
Rassistische Hetze, Drangsalierung und weitere Diskriminierung gegen Roma
Doch nicht nur für das Festival sind die Rahmenbedingungen schwierig: „Die Lage der Sinti und Roma, der größten verfolgten Minderheit in Europa, ist derzeit äußerst dramatisch“, sagt Kulturdezernent Jörg Stüdemann. In einigen Ländern werde die Corona-Pandemie zum Anlass für rassistische Hetze, Drangsalierung und weitere Diskriminierung genutzt. ___STEADY_PAYWALL___
„Gerade in solchen Fällen wichtig, dass das Festival stattfindet“, betont Anja Butschkau, Vorsitzende der Dortmunder AWO. Sie dankte allen Akteur*innen, die das Festival unter schwierigen Rahmenbedingungen möglich gemacht haben und insbesondere dem Kulturbüro. Durch gemeinsame Anstrengungen sei die Neuauflage gelungen.
„Djelem Djelem“ wolle darauf aufmerksam machen und die Lebensverhältnisse für Roma in der Stadt verändern, aber auch die Vielfalt ihrer Kultur feiern, so Stüdemann. „Djelem Djelem“ ist eines der größten Roma-Festivals in Deutschland. 2017 war das Fest Preisträger des Bundeswettbewerbs „Aktiv für Toleranz und Demokratie“. Der Titel „Djelem Djelem“ bezieht sich auf die internationale Hymne der Roma. Alle Veranstaltungen des Festivals sind frei.
Auf viele mittlerweile lieb gewonnene Formate muss aber wegen Corona in diesem Jahr verzichtet werden. So wird nahezu komplett auf Referent*innen und Gäste aus anderen Ländern verzichtet. Sie kommen stattdessen in Online-Runden zu Wort. Doch auch auf Menschenmassen wird verzichtet. Daher gibt es weder das große Familienfest, kein rumänisches Theater, keine Aufführungen der Tanzgruppen des Dortmunder Vereins Romano Than und vor allem kein „Balkan Beats Festival“ auf dem Friedensplatz, wo sonst 6000 bis 7000 Gäste erwartet worden wären.
Das Programm des Siebten Roma-Kulturfestivals „Djelem Djelem“ 2020
Doch bei allen Einschränkungen – das Programm kann sich dennoch sehen lassen. Los geht es am 9. Oktober mit einem „Forum“ an der Adam’s Corner am Westpark (Möllerstr. 3): In Workshops, auf einem Markt der Möglichkeiten und in Mitmachaktionen präsentieren Partner*innen aus Bulgarien, Frankreich, Österreich, Rumänien, Italien und Deutschland die Ideen und den Stand von Inklusionsprojekten in Süd-Ost-Europa und in Dortmund. Ziel ist es, voneinander zu lernen und sich untereinander auszutauschen.
Am selben Tag (9.10., 19 Uhr) ist im Kino im Dortmunder U der Film „Über Grenzen“ zu sehen, ein Film- und Theaterprojekt mit Roma- und Nichtroma-Jugendlichen aus Dortmund und Bukarest. Unter professioneller Anleitung erzählen die Jugendlichen des Playhood Theatres aus Bukarest und in Dortmund arbeitende Jugendliche in kurzen Filmsequenzen Geschichten über ihre Lebenssituation, Zukunftsentwürfe, Lebenswiderstände, Vorurteile, Träume und Sehnsüchte.
Eigentlich wäre dies eines der Herzstücke des Festivals geworden. Doch weder die Jugendlichen aus Bukarest noch ihre Betreuer*innen konnten nach Dortmund kommen, bedauert Berthold Meyer (Theater im Depot). Die Videotagebücher, die eigentlich nur ein (kleiner) Baustein im mittlerweile auf drei Jahre angelegten Projekt sind, werden in diesem Jahr nun der zentrale Punkt. „Das ist das, was bei Corona geht“, so Meyer.
„Frauen-Empowerment“ gibt es am Samstag, 10. Oktober im Dietrich-Keuning-Haus: In einem Workshop stellen Rom*nja-Aktivistinnen dort ab 14 Uhr ihre Empowerment-Arbeit vor und berichten von Erfahrungen, Projekten, Fortschritten und Plänen. Im Workshop geht es um Austausch und Vernetzung mit Dortmunder Rom*nja für selbstbewusstes Engagement, gegen Sexismus, Rassismus und gesellschaftliche Machtverhältnisse.
Lesung, Workshop und musikalischer Abend für Jugendliche
Nicht fehlen muss in diesem Jahr die Literatur: In der Auslandsgesellschaft liest der Schriftsteller Ruždija Russo Sejdović am Montag, 12. Oktober, 19 Uhr aus seinem Buch „Der Eremit“. Die Werke des Autors und Aktivisten aus Montenegro werden mittlerweile in Deutsch verlegt – geschrieben werden sie in seiner Muttersprache. Die Lesung findet im großen Saal auf Ebene 3 statt. Planerladen und Auslandsgesellschaft laden dazu ein, berichtet Claudia Steinbach.
„Antiziganismus und Radikalisierung in der digitalen Welt“ heißt ein Workshop, der die Teilnehmer*innen am 13. Oktober im Evinger Schloss dabei unterstützt, die Bedeutung sozialer Medien für die Organisation rechter Netzwerke kennenzulernen und Strategien zur Prävention und Gegenmaßnahmen zu entwickeln. Roxanna-Lorraine Witt und Gianni Jovanovic geben praktische Tipps und berichten über die Erfahrungen im Umgang mit Hatespeech, Hass und Hetze im Netz.
Zu einem musikalischen Abend mit bulgarischen Jugendlichen lädt am 14. Oktober, 19 Uhr der Stollenpark an der Bergmannstaße. Auf der Bühne können Jugendliche mit und ohne Instrumenten beliebte Songs vortragen oder selbst komponierte Songs präsentieren. Eigentlich war dies als große Veranstaltung geplant – jetzt gibt es die Veranstaltung im „kleinstmöglichen Format“, um den Jugendlichen trotz Corona einen Raum im Festival-Programm einräumen zu können.
Online-Diskussion sowie Fachtagung zu (vor)-schulischer Förderung und Bildungsmediation
Ausschließlich online findet die Diskussion „Rom*nja in Europa“ am 14. Oktober, 18 bis 19.30 Uhr statt. In Zeiten der Corona-Pandemie hat sich die Lebenssituation für viele Rom*nja, die sowieso vielerorts systematischer Diskriminierung ausgesetzt sind, noch verschlechtert. So soll zumindest online ein Austausch möglich sein und Schlaglichter auf die sich zuspitzende Lage von Roma insbesondere in Südosteuropa geworfen werden, verdeutlicht Ricarda Ermann, Leiterin der AWO-Migrationsdienste.
Denn die ohnehin schwierige Lage für die rund zehn Millionen Roma hat sich durch Corona verschärft: Fehlende Zugänge zum Gesundheitssystem sowie Anschuldigungen, das Virus aus dem Ausland eingeschleppt zu haben, lassen Roma besonders unter der Pandemie leiden. In der Online-Diskussion werden Rom*nja-Aktivistinnen aus Rumänien, Bulgarien und weiteren Ländern in englischer Sprache über die Situation berichten.
Wie geht das deutsche Bildungssystem mit Heterogenität um? Um (vor)-schulische Förderung und Bildungsmediation geht es auf einer Fachtagung am Donnerstag, 15. Oktober im Dietrich-Keuning-Haus. Der Fokus liegt dabei auf der Auseinandersetzung mit der Bildungsbenachteiligung von Kindern aus Rom*nja-Familien und der Frage, wie diese ausgeglichen werden kann.
„So Dikhea?“ ist ein Community-Format des Roma-Filmfestivals „Ake Dikhea?“, das seit 2017 in Berlin stattfindet. Kuratiert durch den Festivalleiter Hamze Bytyçi bringt „So Dikhea?“, übersetzt „Was guckst Du?“ eine handverlesene Auswahl von Filmen von und mit Rom*nja auch nach Dortmund – darunter auch „From here“ und die 2019 als besten Film ausgezeichnete Doku „Margina“ von Ljupcho Temelkovski. Die Filme sind zwischen dem 18. und 22. Oktober jeweils um 19 Uhr im Kino im Dortmunder U zu sehen.
„Faţadă/Fassade“ – Kunstprojekt und Ausstellung zur Roma-Baukultur
Ab dem 23. Oktober zeigt der HMKV auf Ebene 3 im Dortmunder U die Ausstellung „Faţadă/Fassade“. Die Ausstellung bildet den Abschluss des Festivals und gleichzeitig den Auftakt für ein eigenes Ausstellungs- und Veranstaltungsprogramm im Dortmunder U, welches beim HMKV bis zum 21. März laufen soll.
Die Ausstellung Faţadă/Fassade baut auf dem gleichnamigen kollaborativen Kunstprojekt der Werkstatt Mallinckrodtstraße auf, das von Akteur*innen aus der Dortmunder Roma-Community zusammen mit den Künstlern Christoph Wachter und Mathias Jud und Interkultur Ruhr initiiert wurde, erklärt Jelena Löckner (HMKV).
Seit 2018 wird die Werkstatt Mallinckrodtstraße in Dortmund als Arbeits-, Forschungs- und Community-Ort betrieben, an dem gemeinsam Möglichkeiten einer positiven und selbstbestimmten Repräsentation der Roma-Community im Stadtraum erkundet werden. In der Werkstatt entstanden – nach einer Recherchereise nach Rumänien – in den letzten zwei Jahren viele von der Roma-Baukultur inspirierte Hausmodelle.
Gemeinsam wurde schließlich ein Entwurf für die Neugestaltung der Fassade eines Wohnhauses in der Dortmunder Nordstadt entwickelt, umgesetzt und im September 2019 feierlich eingeweiht. Der HMKV lädt nun das Team der Werkstatt Mallinckrodtstraße ein, zahlreiche imposante, teils raumhohe Hausmodelle, die im Rahmen des Projekts entstanden sind, ab dem 24. Oktober in der Ausstellung Faţadă/Fassade zu präsentieren.
Architekturen von Roma-Communities als Gegenentwurf zur stigmatisierten Position
Zusätzlich wird das Werkstatt-Team eine ornamentale Neugestaltung des Eingangsbereichs sowie der Ausstellungsräume des HMKV auf der Ebene 3 des Dortmunder U realisieren. Die Ausstellung verdeutlicht, wie eng Teilhabe und gesellschaftliche Anerkennung mit Bau- und Wohnformen verknüpft sind – und wie stark rassistische Zuschreibungen und Vorurteile über das vermeintlich „fahrende Volk“ bis heute wirken.
Rom*nja gehören seit Jahrhunderten zu den am stärksten von Rassismus und Marginalisierung betroffenen Gruppen in Europa. Strukturelle Benachteiligung, Ausbeutung und gewaltsame Verfolgung charakterisieren ihren Alltag: Für viele Menschen ist es nach wie vor kaum möglich, eine Basis für eine stabile Existenz zu legen, zu der Wohnraum, Bildungschancen, kulturelle Anerkennung und ein würdevolles Arbeitsverhältnis gehören.
Vor diesem Hintergrund lassen sich die Architekturen von Roma-Communities in Rumänien als Gegenentwurf zur stigmatisierten Position von Rom*nja innerhalb der rumänischen Gesellschaft verstehen: Sie sind nicht nur Manifestationen einer einzigartigen Baukultur, sondern auch Ausdruck einer Selbstermächtigung. Mit dem Bau der Häuser fordern Rom*nja in weithin sichtbarer Art und Weise einen Platz in der Gesellschaft ein.
Neue Eigenformate: Vier Podcasts auf Romanes und drei auf Deutsch zu hören
In diesem Jahr gibt es bei „Djelem Djelem“ auch was auf die Ohren: Vier Podcasts auf Romanes und teilweise auch auf Deutsch führen in verschiedene Aspekte der Kultur ein. Unter anderem geht es um die Hintergründe des „Djelem Djelem“Liedes und um die Geschichte der Roma, um ihre Verfolgung am Beispiel einer Familie.
Auch eine Gute-Nacht-Geschichte auf Romanes für Kinder steht bereit. Erstellt haben die Podcasts die Dortmunder Roma-Mediatorin Dobrila Nikolic und ihre Söhne mit Unterstützung der AWO und des Studios im Blücherbunker. Abrufbar sind die Podcasts über die Facebook-Seite von „Djelem Djelem“.
„Djelem Djelem“ wird veranstaltet von AWO Dortmund, Theater im Depot, Kulturbüro, Dietrich-Keuning-Haus, Carmen e.v. und Romano Than.
Hauptförderer ist das Kulturbüro Dortmund. Das Festival wird außerdem gefördert von Regionalverband Ruhr, Interkultur Ruhr, Soziokultur NRW und den Integrationsagenturen NRW.
Weitere Infos auch unter facebook.com/djelem.djelem.dortmund