Trotz Coronakrise: Dortmunder Stadtrat will handlungsfähig bleiben – Diskussion dringender Themen im Hauptausschuss

Sitzung Stadtrat Dortmund, 15.11.2018: Neonazis und Rechtspopulisten hatten keine Chance. Fotos: Alexander Völkel
Bilder, die erst einmal der Vergangenheit angehören: vollversammelter Dortmunder Stadtrat. Foto (3): Alex Völkel

Außergewöhnliche „Ratssitzung“ am Donnerstag (26. März): anwesend waren neben Oberbürgermeister Ullrich Sierau und den üblichen Verdächtigen aus dem Verwaltungsvorstand in der Hauptsache politische Vertreter*innen der Fraktionen. COVID-19 hat nun auch das kommunale Spitzengremium erreicht, nachdem zuvor bereits eine Reihe planmäßiger Sitzungen von Fachausschüssen beim Stadtrat abgesagt werden mussten. – Behandelt wurde in der Notbesetzung, was keinen Aufschub duldete. Darunter allerdings ein Thema, bei dem es nach Auffassung von CDU und FDP noch erheblichen Beratungsbedarf gibt. Es geht formal um die „Digitalisierung des Radverkehrs“ in Dortmund, konkret um ein Navigations-App-Projekt, das dem Stadtsäckel etwa 170.000 Euro abfordern wird. Zu viel für zu wenig in den Augen der Kritiker*innen.

Dortmunder Stadtrat tritt wegen COVID-19 lediglich mit „reduzierter Mannschaft“ zusammen

Kommunalpolitik „in den Zeiten von Corona“: Am gestrigen Donnerstag hätte eigentlich die 45. Sitzung des Dortmunder Stadtrates stattfinden sollen. Fand sie aber nicht. Zumindest nicht in gewohnter Form. So dicht gedrängt über Stunden im Ratssaal aufeinander zu hocken, wo es nicht einmal mehr erlaubt ist, sich zum Skatabend zu treffen, wäre eben jener Verbotslogik zuwidergelaufen, mit der gegenwärtig in der Bundesrepublik massiv verfassungsmäßig garantierte Grundrechte eingeschränkt werden. Um Infektionsketten zu kappen.

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Ausnahmen kann es für relevante Entscheidungsgremien zwar geben – sind sie denn verhältnismäßig. Die Stadt hatte im Vorfeld der anstehenden Ratssitzung jedenfalls beim örtlichen Gesundheitsamt nachgefragt. Dessen Einschätzung, so Ullrich Sierau, habe dazu geführt, „dass aus Gründen des Gesundheitsschutzes die Ratssitzungen so gestaltet werden, dass im Prinzip die Ansteckungsgefahr nicht noch gefördert wird“.

Eine – zumindest vorläufig – praktikable Lösung hatte der zuständige Dortmunder Rechtsdezernent Norbert Dahmen schnell gefunden: Paragraph 60 der Gemeindeordnung erlaubt dem Hauptausschuss, wie ein Substitut für den Dringlichkeitsausschuss des Stadtrats zu wirken. Entscheidend für diesen Schritt war: dort sitzen weniger Menschen zusammen.

Auch in der Viruskrise: Städtische Institutionen müssen handlungsfähig bleiben

Die betreffenden Gremien – Hauptausschuss und Ältestenrat, die personal identisch sind – bereiten normalerweise die Ratssitzungen vor. Ihnen gehören als Entscheidungsträger neben dem Oberbürgermeister und seinen beiden Stellvertreter*innen lediglich die Fraktionsführungen aus dem Stadtrat an. Getagt wird gemeinhin einige Stunden vor den Ratssitzungen.

Abstand halten - das ist das Gebot der Stunde. Diese Forderung teilt auch das Dortmunder U.
Abstand halten – ist das Gebot der Stunde. Wie am Dortmunder U, so dem Stadtrat

Jetzt fungiert die erlesene Truppe in Dortmund als Organ für – eine Etage drüber: als Ersatz für den Stadtrat. Die Alternative zu dem Verfahren wäre gewesen, dass der OB, zwar mitunterzeichnet von einem Ratsmitglied, aber dennoch einsam Beschlüsse fasst, die dann post festum in den Rat eingebracht und dort – so oder so – sanktioniert würden.

„Mir war allerdings wichtig, dass wir auch als Rat zeigen, dass wir da sind“ – dass die städtischen Institutionen noch handlungsfähig seien, bekundet Sierau. Für ihn ein bedeutsames Signal in der gegenwärtigen Situation allgegenwärtiger Verunsicherung.

Und erläutert weiter: Zumal es noch einen Erlass aus dem Scharrenbach-Ministerium (Heimat, Kommunales, Bau und Gleichstellung) in NRW gegeben hätte; der da besagt: die kommunale Selbstverwaltung solle auch in diesen Zeiten gewährleistet werden.

Masterplan „Nachhaltige Mobilität“: Infrastruktur für umweltfreundliche Verkehrswege wird Thema

Die Stadt soll also im föderalen System dort weiterhin relativ autonom handeln können dürfen, wo keine übergeordneten Ko- und Prohibitions- oder Prophylaxe-Interessen auf dem Spiel stehen. Von denen es bekanntlich zur Genüge gibt und deren Wahrnehmung sich Land und Bund zusehends selbst zuspielen, während die Kommunen – wie mittlerweile üblich – (teils) die Zeche zahlen müssen. In Dortmund wird deswegen augenblicklich mit Ausgaben (sprich: Neuverschuldung) von an die 100 Millionen Euro zusätzlich gerechnet.

Doch auch Kleinvieh macht bekanntlich Mist. Und in diesem Fall durften die lokalen Player ran. Es ging gestern – bei der einzigen etwas länger geführten Sitzungsdiskussion im „Ersatzstadtrat“ – um vergleichsweise bescheidene ca. 170.000 Euro. Das ist die de facto diskutierte Summe, die lokal zur Annäherung an Umweltziele qua Fahrradfreundlichkeit als die veranschlagten Kosten für ein entsprechendes Projekt abzüglich einer gewissen Fördersumme fehlt. Worum geht es?

Hintergrund des darüber entstehenden Geplänkels zwischen den Vertreter*innen der Fraktionen war: aus Dortmund soll in der Tat eine „Fahrradstadt“ werden. So möchte es zumindest der ambitionierte Masterplan „Nachhaltige Mobilität“. Dazu gehört selbstverständlich umgestaltende Förderung: zur Schaffung fortdauernder Möglichkeiten individueller Bewegung ohne notorische Klimaschädlichkeit – wie beim von Verbrennungsmotoren getriebenen Individualverkehr.

Promotion einer Fahrrad-App soll vor allem relevante Daten für Radverkehrsplanung generieren

Foto: Karsten Wickern

Allerdings liegen in Dortmund für den Radverkehr nur rudimentäre Informationen über Fahrtenaufkommen und deren örtliche Verteilung vor. Solche Daten über Verkehrsmengen bilden jedoch eine wichtige Grundlage zur Evaluation notwendiger Infrastrukturmaßnahmen zur ökologischen Priorisierung umweltfreundlicher Fortbewegungsmethoden.

Mit anderen Worten: Die Stadt möchte im Prinzip wissen, wo und was für Fahrradfahrer*innen gebaut werden müsste, ums Radeln überhaupt breitflächiger wie sicher zu ermöglichen. Zu diesem Zweck sollen zukünftig Daten über eine spezielle App gesammelt werden, die idealtypisch von vielen Radfahrenden benutzt wird. Ziel ist es, valide Daten für die Radverkehrsplanung zu erhalten und so Vorrangrouten für den Pedalverkehr festlegen zu können.

Das strategische Ziel des Projekts steht und fällt ersichtlich mit dem Umfang der Teilnehmergemeinde, welche die Daten liefert. Das sind jene Menschen, die bereitwillig (genauer: durch ein in die App integriertes Anreizsystem) ihre Bewegungsprofile registrieren lassen. Was selbstverständlich datenschutzrechtliche Fragen aufwirft. Ihre diesbezüglichen Fragen seien für Die Linke & Piraten mittlerweile zufriedenstellend beantwortet worden, betont Utz Kowalewski. Daher Zustimmung seiner Fraktion.

Handeln unter Zeitdruck: wenn der Förderkorridor sich in absehbarer Zeit schließt

Doch warum überhaupt die Dringlichkeit der Debatte an diesem merkwürdigen Ort an diesem Nachmittag im Dortmunder Rathaus, wo alle durch Vernunft gezwungenermaßen auf mindestens zwei Meter Abstand voneinander sitzen?

Im Finanzausschuss am 12. März war zur „Digitalisierung des Radverkehrs“ für einige anscheinend klar geworden: es gibt noch erheblichen Beratungsbedarf. Das Gremium hatte die Vorlage zu dem App-Projekt daher ohne Empfehlung an den Ausschuss für Umwelt, Stadtgestaltung und Wohnen (AUSW) weitergeleitet.

Dessen für den 18. März geplante Sitzung aber fand wegen der Coronakrise in der letzten Woche gar nicht mehr statt. Das Projekt steckt seither mithin im Beratungsprozedere der politischen Gremien fest – ein durchaus pragmatisches Problem, wie Planungsdezernent Ludger Wilde verdeutlicht: weil die Zeit drängt.

Denn die Kosten des Vorhabens – knapp 850.000 Euro – werden zu 80 Prozent von Land und Bund gegenfinanziert. Das sind immerhin 680.000 Euro, weshalb sich der städtische Eigenanteil auf erwähnte 170.000 Euro reduziert. Dafür aber müsse kurzfristig ausgeschrieben werden, um die Mittel abzurufen, erklärt der Planungschef aus der Stadtverwaltung und warnt: ansonsten bestünde die Gefahr, aus dem vorgesehenen Förderkorridor herauszulaufen.

CDU und FDP/Bürgerliste sehen in der Sache weiteren Beratungsbedarf im Umweltausschuss

Umweltspur auf der Brackeler Straße

Doch es gibt zunächst Widerstand. Dr. Jendrik Suck spricht für die CDU. Seine Partei möchte offenbar Schnellschüsse vermeiden: „trotz der jetzigen Umstände“ hielte sie eine Diskussion im AUSW für wichtig. Fände das jetzt keine Mehrheit, „würden wir die Vorlage ablehnen“. Zumal es bereits andere App-basierte Systeme gäbe.

Weiteren – und erheblichen – Beratungsbedarf sieht auch Lars Rettstadt (FDP/Bürgerliste) und droht ebenfalls mit Ablehnung, würde nicht weiter im genannten Fachausschuss darüber diskutiert. Nicht gegen Digitalisierung sei man, doch selbst in der Stadt bereits vorhandene Schnittstellen würden nicht effektiv genutzt.

Ingrid Reuter möchte für Bündnis 90/Die Grünen korrigieren: Es ginge nicht (allein) um eine Navigations-App, sondern um weitergehende Dinge wie Verkehrszählungen, letztlich um die Förderung des Radverkehrs, ja, auch um Werbung für ihn.

Gemutmaßtes Motiv: Fördermittel abgreifen für einen guten Zweck – so what?

Mit dem Ziel, Daten zur Verkehrsplanung zu erheben, hat Rettstadt wiederum kein Problem. Im Gegenteil: das findet er unerlässlich. Wohl aber mit den dafür eingesetzten Mitteln: die erforderlichen Daten seien billiger erhältlich, zumal es in der Projektvorlage „jede Menge Dialogveranstaltungen“ gäbe, die relativ teuer seien. Alles in allem wird der FDP-Politiker den Verdacht nicht los, dass er hier eher darum ginge, „Fördermittel abzugreifen“.

„So what?“ – mögen sich die Befürworter*innen des Vorhabens (neben Grünen und Linken die SPD) dabei gedacht haben: solange es diesem einen guten Zweck dient. Utz Kowalewski bestätigt: In der Tat sei nur ein kleinerer Teil des Budgets für die Entwicklung der Fahrrad-App gedacht; der Werbeanteil spiele eine größere Rolle.

Wo es im Endeffekt um die Einhaltung von zwingenden Umweltstandards geht. Vielleicht auch angesichts der gegenwärtigen Virulenz solcher Themen möchten sich bei der nachfolgenden Abstimmung CDU und FDP dem Projekt dann doch nicht allzu kenntlich verschließen: sie enthalten sich.

Weitere Informationen:

  • Vorlage „Digitalisierung des Radverkehrs“; hier:

 

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