von Klaus Winter
Der Kaufmann Max Hannemann war über Jahrzehnte als Tabakwarenfabrikant und -händler in der Stadt tätig. Das Adressbuch für 1915 nennt ihn als Inhaber einer Zigarren- und Tabakgroßhandlung mit Geschäftslokalen im Haus Hohe Straße 13 und im Eckhaus Steinplatz/Münsterstr. 18. In der Zimmerstraße 5 unterhielt er ein Lager, und dort befand sich auch seine Zigaretten- und Tabakfabrik.
Arbeiter reagierten auf Aussperrung mit Boykott
Im Mai 1910 versuchte Hannemann, seinen Arbeitern den Lohn zu kürzen. Die „Arbeiter-Zeitung“ mutmaßte, dass er durch einige Tabakfabrikanten dazu angeregt worden sei. „Herr Hannemann ist auf den Leim gehüpft und jetzt hat er nicht nur den Schaden, sondern er muß sich auch noch den Spott aller derer gefallen lassen, die den Steinplatz passieren müssen.“
Hannemann hatte mit der Lohnkürzung natürlich seine Arbeiter gegen sich aufgebracht, was schließlich dazu führte, dass er sie aussperrte. Im Gegenzug wurde sein Laden am Steinplatz boykottiert. Hannemann verscherzte es sich dann auch noch mit einem Teil seiner Kundschaft, da er gesagt haben soll: „Ich brauche die Arbeiterkundschaft nicht, und im übrigen werden ich von der Polizei geschützt.“
___STEADY_PAYWALL___
Hannemann wurde von der Polizei geschützt
„Hunderte von Menschen“ sollen sich nun abends am Steinplatz versammelt haben. Hier fielen dann auch böse Worte. „In seinem Geschäft versucht Herr Hannemann alles auf seine Arbeiter abzuwälzen und auf der Rennbahn setzt er auf ein Pferd gleich 100 Mark“, hieß es.
In der Tat genoss Hannemann in diesen Tagen Polizeischutz. Ein Kommissar begleitete ihn am Donnerstagabend, 26. Mai, nach Hause. Der Polizist war aber nicht sein einziger Begleiter. Eine Ansammlung von Menschen folgte ihnen. Auf dem Burgwall wollte die Polizei die Menge zerstreuen und setzte zu diesem Zweck auch Hunde ein. Darauf flüchteten einige in das Olympia-Theater und störten so die Aufführung.
Polizeieinsatz heizte die Stimmung zusätzlich an
Am folgenden Abend, Freitag, 27. Mai, kamen zwei berittene Polizisten auf den Steinplatz, um die johlende Menschenmenge – in erster Linie „halberwachsene Leute beiderlei Geschlechts und neugierige Bürger“ – auseinander zu treiben. Das Erscheinen der Polizei zog aber zunächst einmal weitere Schaulustige an. Gewerkschaftlich organisierte Arbeiter, so die Einschätzung der Arbeiter-Zeitung, waren nur in geringer Zahl vertreten.
Die Menge reagierte gereizt auf den Auftritt der beiden Polizisten. Die Situation schaukelte sich hoch. Gegen 10 Uhr abends kam es an der Kielstraße zu einer Eskalation, als Polizisten ihren Säbel zogen und auf Umstehende einschlugen. Ein Schuhmacher aus der Münsterstraße und ein Arbeiter aus der Kirchenstraße erlitten erhebliche Verletzungen, ein weiterer Mann wurde von einem Polizeihund gebissen.
Polizeipräsident Naumann ordnete ebenfalls gegen 10 Uhr abends die Schließung der Wirtschaften rund um den Steinplatz an. Daraufhin nahm die Menschenmenge auf der Straße noch weiter zu. Die Polizei war noch mitten in der Nacht damit beschäftigt, die Zusammenläufe aufzulösen. Am Ladenlokal von Hannemann gingen Schaufenster zu Bruch.
Polizeihunde griffen Menschen an
Am Samstagabend, 28. Mai, bemühten sich dreißig Schutzleute und sieben Berittene, Ruhe und Ordnung auf dem Steinplatz aufrecht zu erhalten. Auch Polizeihunde kamen wieder zum Einsatz. Es blieb nicht ruhig. Ein junger Mann erhielt von einem Polizeihund eine lange Bisswunde und musste mit Hilfe anderer Anwesenden zu einem Arzt gebracht werden. Der Gebissene hatte mit der Protestversammlung angeblich gar nichts zu tun, er befand sich lediglich auf einem Dienstgang.
Steine wurden nach den Polizeibeamten geworfen, und es soll sogar ein Revolverschuss gefallen sein. Wieder wurden die Wirtschaften geschlossen. Es gab Verletzte, die Knüppel- oder Säbelhiebe erhalten hatten. Die Arbeiter-Zeitung betonte, dass die organisierten Arbeiter mit den Ausschreitungen nichts zu tun hatten, kritisierte aber scharf vor allem den Einsatz der Polizeihunde: „Jedenfalls ist es geradezu ein Skandal, wenn man die Polizeihunde, die als moderne Errungenschaft gepriesen werden, auf Menschen hetzt.“
Fabrikant lenkte ein und stellte alle wieder an
Herr Hannemann lenkte im Lohnstreit mit seinen Arbeitern noch immer nicht ein und weigerte sich sogar, Verhandlungen zu führen. Einen Vermittler im Lohnstreit verwies er aus seinem Laden. Kurz darauf wurde dann aber doch eine Einigung erzielt. Der Ausschuss des Gewerkschaftskartells ließ unter dem Datum 31. Mai in der Arbeiter-Zeitung folgende Erklärung veröffentlichen: „Bei den gestern mit Herrn Hannemann gepflogenen Verhandlungen hat sich Herr Hannemann bereit erklärt, die früher gezahlten Lohnsätze wieder zu zahlen und alle bei ihm beschäftigt gewesenen Arbeiter und Arbeiterinnen wieder einzustellen. Die Differenzen sind somit beseitigt und der Boykottbeschluß aufgehoben.“
Die Arbeiter-Zeitung beschäftigte sich noch in derselben Ausgabe, in der die Entscheidung des Gewerkschaftskartells gedruckt wurde, ausführlich mit den Vorgängen der letzten Tage. Das Vorgehen der Polizei, insbesondere der Einsatz der Säbel und der Hunde wurde stark attackiert. Es wurde auch gemutmaßt, dass die Polizei mindestens einen Strohmann eingesetzt hatte, um die Menschenmenge aufzustacheln und zu Straftaten, nämlich dem Einwerfen der bis dahin unzerstörten Scheiben des Hannemanns anzustacheln.
Arbeiterzeitung kritisierte die Berichterstattung der Konkurrenz
Die Arbeiter-Zeitung kritisierte auch die Berichterstattung der konkurrierenden Zeitungen: Der Tod eines jungen Mannes, der trotz des Boykotts bei Hannemann gekauft hatte, sei eine „ausgebrütete Ente“ des Generalanzeigers. Und die Tremonia stelle sich mit ihrer Berichterstattung auf die Seite Hannemanns, weil es gegen die Arbeiterschaft geht. Die Tremonia „möchte die Vorgänge nur gar zu gerne gegen die Sozialdemokratie und freien Gewerkschaften ausschlachten.“
Die Unruhen am Steinplatz Ende Mai 1910 hatten ein gerichtliches Nachspiel. Vier Männer mussten am 4. August 1910 vor der Strafkammer erscheinen, weil sie Polizeibeamte beschimpft oder deren Anweisungen nicht Folge geleistet hatten. Sieben Polizisten und weitere Zeugen sollten durch ihre Aussagen zur Klärung beitragen.
Urteile gegen Randalierer fielen höher aus als vom Staatsanwalt gefordert
Die Angeklagten bestritten die ihnen zur Last gelegten Taten, während Polizeibeamte aussagten, an den Mundbewegungen gesehen zu haben, dass die Angeklagten auch Schimpfworte gesagt hätten. Auch nannten zwei Polizisten einen Angeklagten mit falschem Namen. Trotz dieser und anderer Merkwürdigkeiten beantragte der Staatsanwalt Geldstrafen in Höhe von 30 bis 50 Mark. Das Gericht ging über diese Forderungen deutlich hinaus, indem es Strafen zwischen 50 und 100 Mark verhängte.
Max Hannemann führte seine Tabakgroßhandlung übrigens noch in den 1930er Jahren.
Mehr zum Thema bei nordstadtblogger.de: