„No justice, no peace, fight the police!“ skandierten wütende Menschen vor der Polizeiwache Dortmund- Nord. Etwa drei Monate ist es her, dass der Tod des sechzehnjährigen Senegalesen Mouhamed D. bundesweit für Entsetzen sorgte und die Debatte um die Frage der Verhältnismäßigkeit von Polizeieinsätzen neu entfachte. Am kommenden Samstag, den 19. November 2022, hat das Solidaritätsbündnis „Justice4Mouhamed“ bundesweit zu einer Demonstration in Gedenken an alle Opfer von Polizeigewalt aufgerufen.
Widersprüche im Fall Mouhamed D. – wachsender Vertrauensverlust in die Polizei?
Am 8. August 2022 war Mouhamed D. – ein unbegleiteter, minderjähriger Geflüchteter aus dem Senegal – im Innenhof einer Jugendeinrichtung im Dortmunder Norden durch Schüsse aus einer Maschinenpistole der Dortmunder Polizei getötet worden. Den anwesenden zwölf Beamt:innen gelang es nicht, den traumatisierten Jugendlichen, der mit einem Messer bewaffnet suizidale Absichten verfolgte, zu überwältigen – trotz des Einsatzes von Pfefferspray und Elektroimpulsgeräten (Taser).
Die anfänglichen Zweifel an der Verhältnismäßigkeit des Einsatzes verdichteten sich in den vergangenen Monaten immer mehr. Polizeiwissenschaftler Rafael Behr sagte im WDR5-Stadtgespräch bereits einen Monat nach dem Einsatz, er erkenne typische Strukturen in Bezug auf die gegebene Einsatzlage. Zum Einen weiche die Erstmeldung der Polizei erheblich von dem ab, was sich später sukzessive herausstellte. So hätten sich erste Meldungen, wonach die Polizist:innen aus Notwehr handelten, bereits weiter ausdifferenziert. Schwierigkeiten bei der Rekonstruktion des Einsatzes hatte es gegeben, da die Körperkameras („Bodycams“) der Beamt:innen kein Videomaterial aufgezeichnet hatten.
Basierend auf Tonaufnahmen des Einsatzes sollen die tödlichen Schüsse laut einem Bericht für den Rechtsausschuss des Landtags 0,717 Sekunden nach „einem wahrnehmbaren Tasergeräusch“ gefallen sein. Dies bedeute, dass unmittelbar nach Einsatz des Elektroschockers, der einem Menschen bereits stärkste Schmerzen zuführe und kurzfristig außer Gefecht setzte, geschossen wurde, so das Solidaritätsbündnis „Justice4Mouhamed“.
Vorwürfe von „Racial Profiling“, Polizeigewalt und die Forderung nach einer unabhängigen Kontrollinstanz
„Wir betrachten den Tod von Mouhamed nicht als tragisches Einzelschicksal, sondern exemplarisch für strukturelle Polizeigewalt“, erklärt Sarah Claßmann, Aktivistin im Solidaritätsbündnis. Mit der Kampagne „Es gibt 1000 Mouhameds. Sie verdienen Gerechtigkeit!“ fordert „Justice4Mouhamed“ nicht nur die Aufklärung des Mordes an Mouhamed D., sondern auch eine Aufklärung weiterer Polizeieinsätze, bei denen Menschen zu Tode gekommen sind.
William Dountio, Veranstalter der Gegenproteste, Teil des Solidaritätsbündnisses und selbst eine Person of Colour (PoC), wies im Stadtgespräch darauf hin, dass es sich um ein Problem handele, dass nicht erst am 8. August 2022 begonnen habe. Viel mehr sei es ein alltäglicher Horror, ein ständiger Angstzustand. Menschen aus der Dortmunder Community der „People of Colour“ würden sich nicht vor die Tür trauen – aus Angst vor grundlosen Kontrollen, Schikanen, verbalen und physischen Malträtierungen seitens der Polizei, berichtete Dountio.
Als Grund dafür, dass die Polizei vielen Menschen nicht die versprochene Sicherheit biete und Polizeieinsätze gewaltvoll verliefen, sieht das Bündnis rassistische Strukturen, fehlende Deeskalationsstrategien im Umgang mit psychisch erkrankten Personen, Ableismus und Sexismus.
Eine Person-of-Colour-Lehrerin äußerte in Bezug auf „Racial Profiling”, dass sie verstehe, dass Messer Polizist:innen enorm triggerten, jedoch bringe man Messer als Waffe mit schwarzen und mit arabisch gelesenen Männern in Verbindung – aufgrund von diesem strukturellen Problem sei dem Polizisten „die Sicherung durchgebrannt“ und er habe Mouhamed D. erschossen.
Organisator:innen fordern sofortige Schließung der Wache Nord
Im Zuge der ersten Proteste gab es vermehrt Aktionen zum Austausch, wie beispielsweise der Radiorunde, an dem auch Polizeipräsident Gregor Lange teilnahm. Deutlich wurde: der Vertrauensverlust in die Dortmunder Polizei – vor allem im Norden – ist groß.
„Wir fordern die Abschaffung der Polizeiwache Nord, da bereits seit Jahren über rassistische und sexistische Gewalt aus der Nordstadt Community berichtet wird. Betroffene erzählen von unverhältnismäßigen Behandlungen, einhergehend mit verbaler und physischer Gewalt, die in der im hinteren Bereich liegenden Gewahrsamszellen ausgeübt wird“, teilte „Justice4Mouhamed“ auf Anfrage von Nordstadtblogger.de mit.
Konkret bezieht sich das Bündnis dabei auf Schilderungen von Betroffenen während der Mahnwachen und auf Vorfälle, die bereits in der Vergangenheit publik geworden waren. Im Juni diesen Jahres berichtete der WDR über zwei Frauen, die unabhängig voneinander schwere Vorwürfe gegen denselben Polizeibeamten der „Wache Nord“ erhoben.
Beide Frauen sollen von dem Beschuldigten widerholt geschlagen und als „Fotze“ beleidigt worden sein – im Beisein von anderen Beamt:innen. Neben Prellungen am Körper und im Gesicht wurde bei einer der beiden Frauen auch ein Bruch des Bodens der linken Augenhöhle festgestellt. Der Satz „Halt mal den Ball flach, ich habe kein Problem damit, auch Frauen zu schlagen, Fotze”, soll im Rahmen der polizeilichen Maßnahmen gegen eine der beiden Frauen gefallen sein.
Die Polizei kann keine Probleme in der Wache Nord erkennen
„Gerade in den Tagen nach der Ermordung Mouhameds begannen Bewohner:innen der Nordstadt in persönlichen Gesprächen von diversen gewaltsamen Übergriffen durch Beamt:innen der Wache Nord zu berichten. Besonders zivile Kräfte (…) gehen dabei besonders hart zu Werk. Diese, zumeist jungen Polizist:innen, scheinen teils regelrecht Jagd auf junge Menschen zu machen. Es war schockierend, wie virulent diese Erzählungen „auf der Straße“ sind – gerade im Block rund um den Tatort in der Missundestrasse.“, berichtet zudem ein Mitglied aus dem Solidaritätskreis, das im Viertel lebt.
„Grundsätzlich wird der Wachbereich Nord mit seinen besonderen Aufgaben und den daraus resultierenden Belastungen immer wieder sehr intensiv betrachtet. In diesem Rahmen hat das Polizeipräsidium Dortmund mit einer Dienstgruppe aus der Wache Nord freiwillig an einer Erhebung der Stabsstelle „Rechtsextremistische Tendenzen in der Polizei NRW“ des Ministeriums des Inneren NRW teilgenommen. Hinweise auf problematisches Verhalten von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern hat das PP Dortmund nach Abschluss dieser teilnehmenden Beobachtung nicht erhalten“, entgegnete die Polizei Dortmund auf Anfrage von Nordstadtblogger.de.
Zudem habe ein aktuelles Controlling der eingegangenen Beschwerden „keine Auffälligkeiten im Wachbereich Nord in Bezug auf gewaltsames Handeln von Einsatzkräften gezeigt, weder verbal noch physisch.“ Ergänzend gebe es kontinuierliche, berhördenweite Prüfungen und Bewertungen, wenn Beamt:innen „überproportional oft an Widerstandshandlungen beteiligt oder davon betroffen waren“. Auffälligkeiten würden dann zum Anlass von Personalmaßnahmen genommen.
„In seinen Werten steht das Polizeipräsidium Dortmund für Vielfalt und Diversität. Viele Mitarbeitende, gerade aus dem Bereich der Polizeiwache Nord, haben einen Migrationshintergrund. Darüber hinaus bietet das PP Dortmund seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in unterschiedlichen Fortbildungen, Dienstunterrichten oder sonstigen Veranstaltungen, wie zum Beispiel dem Tag der Werteorientierung eine fortlaufende Sensibilisierung zu Themen wie Alltags- und institutioneller Rassismus/Diskriminierung und interkultureller Kompetenz“, betont die Dortmunder Polizei.
Solidarische Demonstration in Dortmund: Gedenken an Mouhamed D.
Die Demonstration findet am 19. November um 13.30 Uhr statt. Startpunkt sind die Katharinentreppen gegenüber des Dortmunder Hauptbahnhofs. Enden soll der Protest auf dem Friedensplatz in der Innenstadt.
„Unsere Solidarität und Unterstützung gilt allen Angehörigen, welche Menschen in Polizeieinsätzen verloren haben und allen Betroffenen von Polizeigewalt, vor allem Opfern von anti-Schwarzer und rassistischer, misogyner, sexistischer, homo- und transfeindlicher, ableistischer, klassistischer Diskriminierung“, teilt das Solidaritätsbündnis auf seiner Website mit.
Auf Instagram äußerte William Dountio über den Kanal des Bündnisses, „Justice4Mouhamed“ wünsche sich eine deeskalierende Demonstration, die ein friedliches Gedenken ermöglicht. Die Organisator:innen wiesen diesbezüglich darauf hin, dass die Demonstration ein sicherer Ort (safe space) für Betroffene von Polizeigewalt sein soll.
Am Vorabend der Demonstration findet außerdem eine Veranstaltung mit dem Titel „Die Abschaffung der Staatsgewalt – Abolitionismus“ im neuen Nordpol um 18 Uhr statt. (Anm.d.Red.: Abolitionismus (von englisch abolition von lateinisch abolitio „Abschaffung“, „Aufhebung“) bezeichnet eine Bewegung zur Abschaffung der Sklaverei.) Gemeinsam mit Vanessa E. Thompson (Queen’s University, Canada) und Daniel Loick (Universität Amsterdam) soll nach Vorstellung des gemeinsamen Buches darüber diskutiert werden, welche Konzepte von ziviler und emanzipatorischer Sicherheit in der Nordstadt – anstelle der Polizei – eingesetzt werden könnten. Während der Demonstration am Samstag hat der Nordpol geöffnet und auf Nachfrage wird eine Kinderbetreuung angeboten.
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