BackUp und Opferberatungsstelle Rheinland stellen die Jahresstatistik vor

355 erfasste Fälle: Rechte Gewalt in Nordrhein-Westfalen verbleibt auf sehr hohem Niveau

Jahresbilanz 2023 zu rechten Angriffen in NRW. Grafik: OBR und BackUp

Rechte, rassistische und antisemitische Gewalt: Die spezialisierten Beratungsstellen für Betroffene menschenfeindlicher Gewalt in NRW stellen ihre Jahresstatistik zu 2023 vor. Insgesamt erfassten die Opferberatung Rheinland (OBR) und die Betroffenenberatung BackUp 355 Fälle rechter Gewalt mit mindestens 452 direkt betroffenen Personen. Die Beratungsstellen konnten 2023 grundsätzlich die Zunahme von schweren Gewaltdelikten verzeichnen, gleichzeitig bleibt Rassismus das häufigste Tatmotiv.

Körperverletzungsdelikte machen knapp ein Viertel aus: Intensität der Gewalt nimmt zu

Mit besonderer Besorgnis müssen die spezialisierten Beratungsstellen auch für das Jahr 2023 eine Zunahme der Intensität der Gewalt registrieren. Neben dem registrierten Tötungsdelikt zeigt sich auch ein deutlicher Anstieg von gefährlichen Körperverletzungsdelikten. Diese erreichten mit insgesamt 88 Fällen im Jahr 2023 einen traurigen Höchstwert seit dem Beginn des unabhängigen Monitorings in NRW.

Insgesamt verzeichnen die Beratungsstellen einen Anstieg der gefährlichen Körperverletzung. Grafik: OBR und BackUp

Knapp ein Viertel der Gesamttaten in NRW sind somit gefährliche Körperverletzungsdelikte. Dahinter verbirgt sich nach §224 StgB Körperverlet­zungen, die durch das Beibringen von Gift oder anderen gesundheitsschädlichen Stoffen, mittels einer Waffe oder eines anderen gefährlichen Werkzeugs, mittels eines hinterlistigen Überfalls, mit anderen Beteiligten gemeinschaftlich oder mittels einer das Leben gefährdenden Behand­lung begangen werden.

Die hier beschriebene Enthemmung der Gewalt hat massive negative Auswirkungen auf die da­von Betroffenen. Durch die Intensivierung der Gewaltanwendung, z. B. durch die Verwendung von Waffen oder durch Angriffe aus einer Gruppe heraus steigt auch das Risiko erheblicher körper­licher Verletzungen und physischer Folgeschäden. Weit überdurchschnittlich verzeichneten die Beratungsstellen gefährliche Körperverletzungen innerhalb einzelner Tatmotivationen, so unter anderem bei LSBtiQA+ feindlichen Angriffen (39,3 Prozent) sowie bei sozialdarwinistisch motivierter Gewalt (72,7 Prozent).

Rassismus bleibt auch 2023 das häufigste Tatmotiv. Grafik: OBR und BackUp

Von den insgesamt 355 registrierten Gewalttaten waren 214 (60,3 Prozent) rassistisch motiviert. 44 Angriffe (12,4 Prozent) richteten sich gegen politische Gegner*innen — darunter auch Journalist:innen und politische Verantwortungsträger:innen.

Antisemitismus ist in 40 Fällen (11,3 Pro­ zent) das festgestellte Tatmotiv sowie in 28 Fällen (7,9 Prozent) LSBtiQA+ feindliche Gewalt (gegen Lesben, Schwule, Bisexuelle, trans*, inter­ und Asexuelle sowie queere Menschen — oder Menschen, denen eine solche sexuelle Orientierung oder Geschlechtsidentität zugeschrieben wird).

Darüber hinaus wurden 12 Angriffe (3,4 Prozent) aus einer sozialdarwinistischen Tatmotiva­tion heraus begangen und drei taten sind einer ableistischen Tatmotivation zuzuordnen.

Für das Jahr 2023 verzeichnen die Beratungsstellen mit 214 rassistisch motivierten Angriffen einen weiteren Anstieg im Vergleich zum Vorjahr. Über 60 Prozent der rechten Angriffe in NRW waren somit rassistisch motiviert. Die registrierten Taten umfassen einfache (77) und gefährliche (54) Körperverletzungsdelikte, Brandstiftungen (5), Bedrohungs- und Nötigungsdelikte (73), sowie massive Sachbeschädigungen (4).

Rassistische Angriffe sind auf dem Höchststand. Grafik: OBR und BackUp

In der genaueren Betrachtung der Betroffenen oder Tatumstände lässt sich kaum Homogenität erkennen. So wurden Einzelpersonen, Paare und Gruppen angegriffen, Erwachsene, Jugendliche sowie Kinder.

Und das in nahezu allen Lebensbereichen – am Arbeitsplatz, in der Schule und Universität, an Bahnhöfen und im öffentlichen Nahverkehr, in religiösen Räumen, in Restaurants und Discotheken, bei Sport­- und bei Freizeitveranstaltungen, im Kontext von Demonstrationen, auf Straßen im öffentlichen Raum oder zu Hause.

Die Täter:innen sind u.a. Nachbar:innen, Bekannte, Restaurantmitarbeitende, Mitschüler:innen, Fuß­ballfans desselben Vereins, Busfahrer:innen, Polizeibeamt:innen, Passant:innen oder gänzlich Unbekannte. Rassismus äußert sich in unterschiedlichen Erscheinungsformen und betrifft unter anderem Menschen mit Flucht- und Migrationsbiografien, Muslim:innen, Schwarze Menschen oder Sinti:zze und Rom:nja.

Fabian Reeker (OBR) fordert eine bessere Infrastruktur von Betroffenenberatungsstellen

Es wird deutlich: Rassismus ist in seinen unterschiedlichen Erscheinungsformen und Ausprägungen allgegenwär­tig und für die davon Betroffenen eine nahezu alltägliche Erfahrung. Dabei handelt es sich nicht um Einzelfälle, die auf individuellen menschenfeindlichen Einstellungsmustern beruhen. Als his­torisch gewachsene Legitimation zur Ausbeutung ist Rassismus eine alle Institutionen und Teilbereiche unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens durchdringende Form der Ausgrenzung und Abwertung, die immer noch durch politische und gesellschaftliche Strukturen toleriert und gefördert wird.

Die Botschaft war klar - der Kampf gegen Rassismus und Rechtsextremismus muss weitergehen. Foto: Leopold Achilles
Es braucht mehr Solidarität mit von Rassismus betroffenen Menschen. Leopold Achilles | Nordstadtblogger

Die rassistischen Gewalttaten, die jährlich im Monitoring der Beratungsstellen aufgeführt und ausgewertet werden, sind demnach nur die Spitze des Eisbergs und Symptom tiefgreifender gesellschaftlicher Machtverhältnisse, die durch den Abbau von sozialstaatlichen Errungenschaf­ten und das Verschärfen sozialer Ungleichheiten verfestigt und befördert werden.

Fabian Reeker von der Opferberatung Rheinland fordert in Hinblick auf den zunehmenden Rechtsruck eine bessere Infrastruktur: „Angesichts der stetigen Normalisierung und Verschärfung rassistischer Diskurse und wachsenden Zustimmungswerten für rechte Politik bedarf es dringend einer praktischen Solidarität mit den von Rassismus und rechter Gewalt betroffenen Menschen, anstatt reiner Lippenbekenntnisse. (…) So müssen beispielsweise Förderprogramme auf Bundes- und Landesebene einen langfristigen Auf- und Ausbau von spezialisierten Betroffenenberatungsstellen sicherstellen.“

Anstieg von Gewalt gegen Obdach- und Wohnungslose gipfelte in einem Tötungsdelikt

Im Jahr 2023 konnten zwölf sozialdarwinistische Gewalttaten verifiziert werden. Alle Angriffe richteten sich gegen wohnungslose Menschen, oder solche, die als wohnungslos wahrgenommen wurden. Neben einem Raubfall, zwei einfachen Körperverletzungsdelikten und acht gefährlichen Körperverletzungen, musste auch ein Todesopfer beklagt werden.

Ungewohnt ruhig sind die Nächte für die Obdachlosen in der Innenstadt. Foto: Alex Völkel
Obdachlose Menschen sind auf Hilfe angewiesen – in Dortmund sind die Schlafstellen überfüllt. Foto: Alexander Völkel für Nordstadtblogger.de

Am Abend des 25. Oktobers 2023 trifft Thorsten D. auf einer Grünfläche in Horn-Bad Meinberg auf drei Jugendliche. Nach einer unverfänglichen Unterhaltung eskaliert die Situation: Zwei der Täter prügeln auf den 47-jährigen wohnungslosen Mann ein, bis er am Boden liegt. Anschließend sticht der dritte Täter mehrfach mit einem Messer auf den am Boden liegenden ein.

Die Tat wird von den Minderjährigen gefilmt und anschließend in sozialen Netzwerken verbreitet. Laut Medienberichterstattungen sollen die 14- und 15-Jährigen in dem Tatvideo gelacht und das Opfer als P***** beleidigt haben. Thorsten D. wird am Tatort zurück gelassen und erliegt seinen Verletzungen. Die drei Jugendlichen wurden vor dem Landgericht Detmold wegen Todschlags zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt. Eine dahinterliegende Tatmotivation wurde dabei nicht herausgearbeitet.

Rückzugs- und Schutzmöglichkeiten können Angriffe auf wohnungslose Menschen verhindern

„Tötungsdelikte sind eine letzte tragische Konsequenz einer vorausgegangenen alltäglichen Abwertung wohnungsloser Menschen“, sagt Lisa Schulte von BackUp. Dahinter verbirgt sich eine Ideologie der Ungleichwertigkeit, die Menschen nach ihrem zugeschriebenen sozialen Status und vermeintlicher Nützlichkeit bewertet. Die Menschen, die in dieser Leistungslogik nicht bestehen, werden als „überflüssig“ herabgesetzt, ihnen wird der Status als „vollwertiger Mensch“ entzogen.

Wohnungslose sind auf Schlafstellen wie diese angewiesen. Leopold Achilles | Nordstadtblogger

Schulte erklärt: „Fehlende Rückzugs- und Schutzmöglichkeiten tragen erheblich dazu bei, dass Diskriminierungen und Gewalt auf der Straße zu einer allgegenwärtigen Erfahrung werden, bei der die davon betroffenen Menschen ständig sichtbar und besonders angreifbar sind.“

Auch in Dortmund kam es 2023 zu einem Angriff auf wohnungslose Personen. In der Nacht auf den 20. Mai zog eine Gruppe junger Neonazis durch die Dortmunder Innenstadt und griff unvermittelt mehrere Menschen an.

Unter anderem schubsten sie eine wohnungslose Frau gegen eine Fensterscheibe und traten auf sie ein. Die Frau schrie während des Angriffs laut auf, wodurch Passant:innen auf die Situation aufmerksam wurden. Einzelpersonen, die versuchten einzugreifen, wurden von der Gruppe aggressiv angepöbelt. Beim Verlassen des Tatortes rief einer der Täter: „Das war doch eh nur ein scheiß Junkie“.

Angriffe auf politische Gegner:innen – Neonazis hielten Person Schusswaffe an dennKopf

Im Jahr 2023 sind in 44 Fällen politische Gegner:innen das Ziel rechter Gewalttaten (2022: 50) geworden. So wurden unter anderem Aktivist:innen, Journalist:innen, politische Verantwortungsträger:innen sowie deren Parteibüros adressiert und angriffen. Die Täter:innen sind in diesen Fällen häufig in rechten Gruppierungen organisiert oder lassen ei­nen klaren Bezug zur rechten Szenen erkennen.

Ein einschlägiger Twitter Account teilte Videos und Fotos des ersten Angriffs. Screenshot Twitter März 2023

Speziell im Raum Dortmund und Bochum war eine wiederkehrende Allianz gewaltbereiter nationalistischer Männer mit deutschen als auch migran­tischen Bezügen zu beobachten, die sich in ihren Vorstellungen von Männlichkeit, Antisemitismus und Queerfeindlichkeit verbunden fühlen und in demokratischen und antifaschistischen Perso­nen und Gruppen einen gemeinsamen Feind finden konnten.

Im März wurde nachts innerhalb weniger Tage das alternative Haus- und Wohnprojekt Haldi47 in Bochum-Hamme mehrfach durch eine Gruppe Neonazis angegriffen. Neben Sachbeschädigungen, „Allahu Akbar“-Rufen, rechten Stickern und Schmierereien mit Sprühlack wurden Steine in die Fenster eines Aufenthaltsraumes geworfen.

Bei einem zweiten Angriff wurde einer Person eine Waffe (vermutlich eine Schreckschusspistole) an den Kopf gehalten und diese mit Pfefferspray verletzt. Hinzu kamen aggressive Drohungen, die im Haus anwesenden Personen umzubringen. Die Bewohner:innen befanden sich in Todesangst.

Zunahme antisemitischer Gewalttaten, vor allem seit dem Terrorangriff der Hamas auf Israel

„In Nordrhein-Westfalen verzeichnen wir einen sprunghaften Anstieg antisemitischer Gewalt nach dem terroristischen Angriff der Hamas auf Israel“, bestätigt Niklas Weitekamp von der Opferberatung Rheinland. Er ergänzt: „Jüdische Menschen in NRW sehen sich einer erhöhten Bedrohungslage ausgesetzt. Insbesondere im dynamischen Demonstrationsgeschehen haben wir eine Vielzahl von Übergriffen registriert, aber auch Angriffe im Wohnumfeld oder im öffentlichen Raum haben zugenommen.“

Im Februar tauchte beispielsweise dieses antisemitische Graffiti an der S-Bahnhaltestelle der Universität auf.
Geschichtsrevisionistisches, antisemitisches Graffiti an der S-Bahn-Haltestelle der Universität Foto: Karsten Wickern

Schon seit 2019 registrieren die Beratungsstellen eine kontinuierliche Steigerung antisemitischer Gewalt, welche 2023 eine drastische Zuspitzung erlebt. Während 2022 insgesamt 21 Taten registriert worden sind, müssen für das vergangene Jahr insgesamt 40 Gewalttaten festgestellt werden. Dies entspricht einem Anstieg von fast 100 Prozent, mit einer sprunghaften Zunahme nach dem 7. Oktober 2023. Die Angriffe umfassten massive Sachbeschädigung (1), Bedrohungen und Nötigungen (25) sowie einfache (6) und gefährliche Körperverletzungen (5).

Im Jahresbericht der Beratungsstellen heißt es: „Aufgrund dieser immensen Zunahme antisemitischer Gewalt können sich die Beratungsstellen nur der Forderung „gegen jeden Antisemitismus — nie wieder ist jetzt“ anschließen und gesamtgesellschaftliche Solidarität mit Betroffenen von Antisemitismus einfordern.“


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