Von Susanne Schulte
Vor neun Jahren wurde der Dortmunder Mehmet Kubasik ermordet. So schleppend und undurchsichtig die Ermittlungen liefen, so wenig transparent läuft auch die Gerichtsverhandlung gegen die Angeklagten, die Mitglieder des NSU, des Nationalsozialistischen Untergrunds, in München.
Diesen Eindruck hat der Rechtsanwalt Carsten Ilius, der mit seinen Kollegen und Kolleginnen aus der Berliner Kanzlei als Nebenkläger-Anwalt die Familie Kubasik vertritt.
„Der Prozess läuft fast 200 Tage und das weg von der Öffentlichkeit.“ Was in den Medien rüberkäme, sei oberflächlich. Es fehle der innere gesellschaftliche Zusammenhang, sagte er am Samstagabend während einer Veranstaltung in den Räumen des Vereins Bezent an der Münsterstraße anlässlich des neunten Jahrestages der Ermordung von Mehmet Kubasik.
Kritik: Die Rolle des Verfassungsschutzes ist kein Thema im Prozess
Die Ermittlungen konzentrierten sich ausschließlich auf diese drei Personen: die Angeklagte Beate Zschäpe sowie Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos, die beide tot sind.
Die Rolle des Verfassungsschutzes und dessen V-Männern würde kaum zum Thema gemacht, den Nebenklägern Einsichten in Akten verweigert oder zumindest erschwert mit dem Hinweis, da würden noch weitere Ermittlungen in anderen Verfahren laufen.
Diesen Eindruck teilt er mit dem Journalisten Yücel Özdemir, der den Prozess verfolgt. „Der NSU besteht sicher nicht nur aus drei Personen. Deshalb haben wir den Generalstaatsanwalt gefragt, wer noch dahintersteckt. Ermittelt wird noch gegen zwei weitere, die sind auch angeklagt“, sagte er. Er sprach auch die mysteriösen Umstände des Todes von drei Zeugen an.
„Warum wird der Obduktionsbericht nicht veröffentlicht?“, fragte sich auch Ilias. „Das können alles natürliche Todesfälle sein. Aber das muss aufgeklärt werden.“ Immer noch bleibe die Frage offen, wie das Netzwerk funktioniert habe. Solange das nicht aufgeklärt sei, bliebe da ein Verdacht gegen die Verfassungsschutzbehörden.
Carsten Ilius: „Die SPD ist die Verhinderungspartei des Ausschusses“
Dass Nadja Lüders, die Dortmunder Politikerin und bis vor zwei Wochen Vorsitzende des NSU-Ausschusses, nicht wie angekündigt zur Veranstaltung kam, bedauerte Ilius nicht.
„Ich bin dankbar, dass sie nicht gekommen ist und dass sie zurückgetreten ist, obwohl sie Berger ‚nur’ arbeitsrechtlich vertreten hat.“ Für ihn ist die „SPD die Verhinderungspartei des Ausschusses“.
Das Fernbleiben von Lüders ließ Zeit für den Bericht eines nicht angekündigten Gastes. Wie sehr die Angehörigen der Opfer nicht nur unter der Ermordung ihrer Familienmitglieder gelitten haben und leiden, sondern auch unter der Ermittlung der Behörden, erzählte Mitat Özdemir.
Er war bis 2014 langjähriger Vorsitzender der Interessensgemeinschaft Keupstraße aus Köln. 22 Menschen wurden vor elf Jahren durch den Anschlag des NSU mit einer Nagelbombe verletzt.
Kriminalisierung der Opferfamilien: „Wir mussten damit leben, dass wir kriminell sind“
„Die Opfer wurden nicht als Zeugen befragt, sondern vernommen.“ Der Friseur sei dauernd, auch früh am Morgen, von der Kölner Polizei abgeholt worden. Diese vermutete ein Attentat mit Mafia-Hintergrund. „Man hat uns nicht geglaubt“, berichtete Mitat Özdemir.
Zudem hätten die Ermittlungen an den Geburtsorten der Opfer in der Türkei die Kölner Familien auch dort verdächtig gemacht. Sie litten unter Gerüchten und falschen Verdächtigungen – in der neuen und der alten Heimat.
Die Kölner Polizeibeamten hätten den Ladenbesitzern in der Keupstraße mit Betriebsprüfungen gedroht, wenn sie nicht auspackten. „Die größte Schuld trifft für mich die Medien“, findet Mitat Özdemir.
„Wenn der Innenminister schon nach ein paar Stunden sagt: Es ist keine politische Tat, dann müssen die Medien fragen: Warum nicht? Das hat aber niemand gemacht.“ Weder die türkischen noch die deutschen Medien.
„Wir mussten damit leben, dass wir kriminell sind, dass wir Geschäfte mit Heroin machen.“ Manche Kundinnen und Kunden seien bis heute weggeblieben.
„Niemand spricht von Rassismus, sondern von Fremdenfeindlichkeit.“
Dieser Rassismus, der auch die Ermittlungs-Verantwortlichen geleitet hat, müsste auch zentrales Thema des Prozesses sein, so Rechtsanwalt Carsten Ilius. Doch schon das Wort selbst sei nie zu hören. „Niemand spricht von Rassismus, sondern von Fremdenfeindlichkeit.“
Doch die Ermordeten, die Verletzten seien keine Fremden. Sie seien Deutsche oder lebten seit Jahrzehnten in Deutschland. „Deutschland ist auch mein Land. Ich lasse mir das nicht gefallen“, sagte auch Mitat Özdemir, der die Initiative „Keupstraße ist überall“ gründete.
Zusammen fuhren die Kölner und Kölnerinnen nach München, hörten sich die Verhandlung an. Das sollten viel mehr Menschen machen, forderte Carsten Ilius das Publikum auf. Die Stimmung im Gerichtssaal sei dann gleich eine andere, eine öffentlichere.
Mehr Informationen:
- Wer ausführlich über den Ablauf des Prozesses in München lesen möchte, geht auf die Internetseite von NSU-watch. Dort sind die Verhandlungsprotokolle nachzulesen, die NSU-watch-Mitarbeiter/innen während der Gerichtstage mitschreiben.
- Zur Veranstaltung in Dortmund wurde eingeladen von DIDF (Förderation der demokratischen Arbeiterverein) und deren Jugendorganisation, von Bezent, vom DGB, von der AWO, von AleviDo, von Bodo, von der Auslandsgesellschaft, von VMDO und vom Planerladen.
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Thorsten Hoffmann, CDU MdB
CDU-BdB Thorsten Hoffmann fordert mehr Mut gegen Rechts
Anlässlich des neunten Jahrestages des Mordes an Mehmet Kubaşık erklärt der Dortmunder Bundestagsabgeordnete Thorsten Hoffmann:
„Am 4. April jährt sich zum neunten Mal der Tag, an dem mitten unter uns der Dortmunder Mehmet Kubaşık ermordet wurde. Er war eines von mindestens zehn Opfern, das die Mörderbande NSU zwischen 2000 und 2007 kaltblütig umgebracht hat. Zehn Morde in sieben langen Jahren, geprägt von falschen Anschuldigungen und fehlgeleiteten Ermittlungen.
Als 2011 offenbar wurde, welches Verbrechen sich mitten in unserem Land abgespielt hatte, war sich die Öffentlichkeit schnell einig: So etwas darf nie wieder passieren. Nie wieder darf unser Staat auf dem rechten Auge blind sein.
Heute erleben wir in unserer Stadt fast wöchentlich rechtsextreme Aktivitäten. Mal sind es Demonstrationen und sogenannte Mahnwachen, mal gezielte Provokationen und handfeste Angriffe. So die Attacke auf den freien Journalist Marcus Arndt, der von Neonazis auf offener Straße angegriffen wurde. Besonders erschüttert hat mich dabei, dass der Reporter sein Zuhause aus Angst vor Übergriffen schon seit Jahren nur noch mit kugelsicherer Weste verlässt. Wenn in unserer Stadt Journalisten um ihr Leben fürchten müssen, dann ist endgültig eine Grenze überschritten.
Das zunehmend selbstbewusste Auftreten der extremen Rechten ist dabei nicht nur auf Dortmund beschränkt. In Tröglitz gab in diesem Monat Bürgermeister Marcus Nierth sein Amt auf, nachdem er sich von Rechtsextremen bedroht sah. Wie so oft, stand auch hier ein mutiger Mann am Ende ganz allein den Neonazis gegenüber. Das darf nicht sein. Wir dürfen keine Angst haben. Wir müssen den Nazis mutig entgegentreten. In Tröglitz genau wie in Dortmund.
Allerdings merke ich in Bürgergesprächen immer wieder: Viele Menschen wollen nicht, dass über dieses Thema gesprochen wird. Ein gängiges Argument dabei lautet, dass die Berichterstattung dem Ruf der Stadt schade. Die große Beachtung spiele den Rechten in die Karten. „Das ist doch genau, was die wollen.“ Diese Meinung respektiere ich, aber ich halte sie für falsch! Die Gewalt in unserer Stadt ist real. Wir wissen, wohin es führt, wenn wir wegschauen – gerade vor dem Hintergrund des aktuellen Jahrestags.
Deshalb: Lassen sie uns gemeinsam für unsere Werte einstehen und dafür sorgen, dass diese menschenverachtende Ideologie in Dortmund keinen Platz hat. Wir dürfen den Kampf gegen Rechts nicht den Antifaschisten überlassen, wir müssen uns den Neonazis als Demokraten entgegenstellen. Ohne Angst. Dazu möchte ich alle Dortmunderinnen und Dortmunder aufrufen. Dortmund ist bunt und weltoffen. Wir können dafür sorgen, dass dies so bleibt.“
BEZENT e.V.
Von Mauerfall bis Nagelbombe – deutsch-türkische Lesung und Diskussion mit Akteur/innen der Initiative „Keupstraße ist überall“
Am 9. Juni 2004 explodierte in der Kölner Keupstraße eine Nagelbombe, die Teil der Mordserie des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) war. Nach dem Anschlag wurde die gesamte Anwohnerschaft kriminalisiert und vom Verfassungsschutz bespitzelt. Die Opfer wurden zu Tätern gemacht, während die wirklichen Täter/innen und ihre Strukturen von den Behörden unbehelligt blieben. Die stigmatisierende These der Ermittlungsbehörden, wonach die Täter zuerst im Umfeld der Keupstraße zu suchen seien, blieb in der Öffentlichkeit weitestgehend unwidersprochen.
Rechtsextreme Anschläge und die Verfolgung der Betroffenen statt der Täter/innen stehen in einem größeren Zusammenhang rassistischen Denkens und Handelns, dem seit dem Mauerfall 1989 über hundert Menschen zum Opfer fielen. „Von Mauerfall bis Nagelbombe“ setzt die Pogrome der 1990er Jahre in Bezug zu den NSU-Anschlägen und zeigt gemeinsame Erfahrungen und Analysen von Rassismus in Deutschland.
Akteur/innen der Initiative „Keupstraße ist überall“ lesen aus dem Buch vor. Herzstück des Buches sind die Interviews mit den Betroffenen der Nagelbombe, die eindrücklich ihre Beobachtungen als Augenzeugen schildern, aber auch davon berichten, welche Tortur sie in den Jahren nach dem Anschlag erleben mussten.
Ayla Güler Saied von der Gruppe „Dostluk Sineması“ berichtet von den Gesprächen mit Betroffenen: „Die Essenz aller Interviews ist das Gefühl ‚Die wollen uns hier nicht.‘ Hier wurde sieben Jahre lang ein Klima der Verdächtigungen und des Misstrauens geschaffen.“
Das Buch „Von Mauerfall bis Nagelbombe“ wurde mit finanzieller Unterstützung der Rosa-Luxemburg-Stiftung NRW herausgegeben.
Sonntag, 19.04.2015 | 13:00 Uhr
Eintritt frei
Bezent e.V., Dortmund
Münsterstr. 56
44145 Dortmund