25 Jahre SPNP – Die Nordstadt leidet unter einem Paradoxon: Es gibt viele Probleme, WEIL man hier erfolgreich arbeitet

Die MitarbeiterInnen der beteiligten Träger des Sozialpädagogischen Nordstadt-Programms.
Die MitarbeiterInnen der beteiligten Träger des Sozialpädagogischen Nordstadt-Programms.

Das „Sozialpädagogische Nordstadt-Programm“ – kurz „SPNP“ – besteht seit 25 Jahren. Was steht hinter dem sperrigen Namen, was sind die Erfolge und was die künftigen Herausforderungen? Wir haben der Jubiläumsfeier im Dietrich-Keuning-Haus einen Besuch abgestattet.

Die Jugendlichen mit ihren Lebensrealitäten stehen Mittelpunkt

Wer oder was ist denn das „SPNP“? Im Sozialpädagogischen Nordstadtprogramm sind verschiedene Träger der Jugendhilfe, die in enger Zusammenarbeit mit dem Jugendamt der Stadt Dortmund Angebote und Projekte planen und umsetzen. Mit von der Partie sind:

  • AWO – Streetwork  – Mobile Jugendarbeit
  • Die Brücke e.V. – Kriminalprävention
  • Planerladen e.V. –  Offene Jugendarbeit, Jugendbeteiligung
  • Soziales Zentrum  e.V. –  Jugend(sexual)beratung
  • Stadtteil-Schule e.V.  – Offene Jugendarbeit, Mädchenarbeit

Die dem Programm zugrunde liegenden Handlungsprinzipien sind u.a. die Orientierung an der Betroffenheit junger Menschen, die Arbeit vor allem im präventiven Bereich, die Stärkung von Potentialen, die Lebensweltorientierung und Aktivierung statt Betreuung.

Ziel ist also, die Jugendlichen mit ihren Lebensrealitäten in den Mittelpunkt zu stellen, sie zu fördern und die in ihnen schlummernden Potentiale zu aktivieren und berücksichtigen. Dies geschieht immer unter enger Kooperation aller Beteiligten.

Ein starkes Netzwerk mit vielen kompetenten Partnern in der Nordstadt

Stadträtin Daniela Schneckenburger gehörte zu den Gratulantinnen des Jubiläums.
Stadträtin Daniela Schneckenburger gehörte zu den Gratulantinnen des Jubiläums.

Das SPNP ist ein starkes Netzwerk für die Nordstadt.  Durch die enge fachliche Zusammenarbeit der Träger des Sozialpädagogischen Nordstadtprogramms und seinen vielen Kooperationspartnern – dazu gehören Schulen, Qualifizierungsträger, Fachberatungen und Jugendtreffs – erhalten die Jugendlichen bei der Entwicklung und Verwirklichung ihrer persönlichen Zielvorstellungen eine wirkungsvolle und nachhaltige Unterstützung.

Stadträtin Daniela Schneckenburger (Dezernentin für Schule, Jugend und Familie der Stadt Dortmund) freute sich, ein 25-jähriges Jubiläum begehen zu können und auf 25 Jahre Erfolgsgeschichte zurückblicken zu können. Dazu habe die Stadt einen Beitrag leisten können – fachlich wie finanziell. Rund zehn Millionen Euro eigene kommunale Mittel sind in SPNP-Projekte geflossen. Dabei ist das nur ein Teil der Mittel, die in der Nordstadt eingesetzt wurden.

Die Erfolge stehen im Gegensatz zur aktuellen und sehr intensiven medialen Debatte: „Eine Berichterstattung, die der ZEIT und ihrem Qualitätsjournalismus nicht würdig war“, befand Schneckenburger. „Das passte politisch in die Landschaft. Auch der FREITAG, Spiegel-TV und Co – das folgt alles dem gleichen Schema.“

Trotz nicht bestreitbarer Probleme gibt es viele Erfolge in der Arbeit

Mit Blick auf die Jubiläumsgäste stellte sie aber auch die nicht bestreitbaren Erfolge in den Mittelpunkt: „Sie stehen alle dafür, dass das Zusammenleben der Menschen – trotz aller sozialen Problemlagen – gelingt. Das ist Ihr Feiertag heute. Dafür gebührt Ihnen der Dank der Stadt.“

„Wir haben ein anderes Bild von diesem Stadtteil. Die Stadt hat sich nicht zurückgezogen. Die Nordstadt ist lebenswert – bei allen sich wandelnden Problemlagen, mit denen wir uns auseinandersetzen“, so die Stadträtin.

Es brauche veränderte Antworten. Die 25 Jahre seien ja auch ein Rückblick auf unterschiedliche Konzepte. „Insgesamt eine gute und eine Erfolgsgeschichte, wenn man es an den Herausforderungen misst“, so Schneckenburger.

1991 gab es die Grundsatzentscheidung des Rates für das Kooperationprojekt. Ziel war und ist es, die Lebens- und Wohnbedingungen von Kindern und Jugendlichen verbessern. Dabei gibt es sehr unterschiedliche Handlungsfelder. Streetwork, mobile Jugendarbeit, Jungen- und Mädchenarbeit, Sport, Schule etc.. Die gendersensibelble Arbeit sei Normalität worden.

Angebote, um junge Menschen bei teils schwierigen Lebenwegen zu unterstützen

Aladin El-Mafaalani, Mirza Demirovic, Klaus Bürkholz, Daniela Schneckenburger, Rainer Staubach, Veit Hohfeld.
Aladin El-Mafaalani, Mirza Demirovic, Klaus Burkholz, Daniela Schneckenburger, Reiner Staubach, Veit Hohfeld.

Fünf etablierte Jugendhilfeträger seien beteiligt und hätten erfolgreiche Projekte gemacht. Die Zahl der teilnehmenden Kinder und Jugendlichen zeige, dass sie gut angenommen würden. Es gebe eine starke Gemeinschaft für die und in der Innenstadt-Nord. Beratung, soziale Trainings, interkulturelles Miteinander. Ein Highlight sei die jährliche Inforallye mit 250 SchülerInnen aus weiterführenden Schulen, die an drei Tagen die Strukturen der Nordstadt kennenlernen.

Durch die Zusammenarbeit sei vieles auf den Weg gebracht worden für junge Menschen, um sie in ihren teils schwierigen Lebenswegen zu unterstützen. „Solche Angebote schaffen es, Potenziale zu entwickeln und Verantwortung für einander zu tragen“, so Schneckenburger. „Das Programm ist aus der Nordstadt nicht wegzudenken. Das will auch kein Mensch.“

Das SPNP sei eine etablierte Anlaufstelle, die ihre Angebote ständig weiter entwickelt – angepasst an die sich verändernden Lebenslagen. Prävention steht im Mittelpunkt, damit sich Probleme nicht verfestigen und aufwachsen. Es gehe um die Stärkung der Eigenverantwortung. „Kooperation ist da entscheidend – nicht nebeneinander, sondern gemeinsam für den Stadtteil“, so die Stadträtin.

Die Arbeit sei dabei durch aus sehr kleinräumig. Schulen seien ein ganz zentraler Kulminationspunkt für junge Menschen, um Chancen zu entwickeln und Orte, wo auch Eltern zu erreichen und einzubinden seien.

Die Nordstadt ist ein Ankunftsbezirk – typisch für Großstädte im Wandel

Insgesamt gebe es eine hohe Lebens- und Wohndynamik. „Die Nordstadt ist ein Ankunftsbezirk – typisch für Großstädte im Wandel. Hamburg – die Stadt, wo die ZEIT-Redaktion sitzt – hat das auch“, nahm Schneckenburger nochmals auf die Berichterstattung Bezug. „Ich hoffe, dass der Blick der ZEIT auch auf eigene Probleme wie in St. Georg gerichtet ist und nicht nur auf die von anderen. Ich wünsche Ihnen allen den Mut und die Leidenschaft zu behalten, auch wenn es solche Berichterstattung gibt.“

Prof. Dr. Reiner Staubach (Vorstandsmitglied Planerladen e.V.) hielt einen Rückblick auf die Arbeit der letzten 25 Jahre. Er erinnerte daran, dass es seit 1986 ein städtebauliches Nordstadtprogramm gebe. Es habe Gebäude, Plätze und Infrastruktur im Blick gehabt. „Trotz dieser Intervention wurde beobachtet – u.a. auch von der Polizei – dass es beim Zusammenleben eher problematischer wurde. Da waren Licht und Schatten – wie wir es auch heute kennen“, so Staubach.

Denn der städtebauliche Ansatz war begrenzt. Daher gab es eine ämter- und ressortübergreifende Analyse und Lösungsvorschläge. „Für mich ist das ein ganz entscheidender Punkt. Damit wurde auch die Vielfalt deutlich.“

Projektitis in der Nordstadt: „Rein in die Kartoffeln, raus aus den Kartoffeln“

Die MitarbeiterInnen der beteiligten Träger des Sozialpädagogischen Nordstadt-Programms.
Prof. Reiner Staubach für die MitarbeiterInnen der beteiligten Träger des Sozialpädagogischen Nordstadt-Programms.

Ergebnis war 1989 ein sozialpädagogisches Konzept und die Einrichtung des Verwaltungs-Arbeitskreises für die Nordstadt. Das SPNP wurde dann vom Rat als Partnerschaft zwischen öffentlicher Hand und privaten Trägern auf den Weg gebracht.

Es war eine Zeit, in der die Republikaner in der Nordstadt bis zu 17 Prozent der Stimmen erreichten. Nicht nur daher war der Handlungsbedarf groß. Zunächst gab es ein Modellprojekt. „Da drohte Projektitis. Aber das SPNP wurde weitergeführt“, sagte Staubach. Das städtebauliche Nordstadt-Programm lief als Dekadenprojekt 1996 aus. Andere Projekte kamen – Stadtteile mit besonderen Erneuerungsbedarf, Urban II, EFRE, Soziale Stadt  – die Namen und Programme wechselten.

„Rein in die Kartoffeln, raus aus den Kartoffeln“, beschrieb Staubach die Herausforderungen solcher EU-Programme. Das SPNP dagegen sei eine Konstante mit – wenn auch kleiner –  Basisfinanzierung. Damit hätten weitere öffentliche und private Mittel erschlossen werden können. Allerdings müsse er auch „Wasser in den Wein gießen – die Ressourcen wurden nicht erhöht“, bedauerte der Vorstand des Planerladens.

Nordstadt als Ankunftsstadtteil erbringt erhebliche Integrationsleistungen

Staubach lenkte den Blick auf die Herausforderung der Nordstadt als Ankunfts- und Integrationsstadtteil. „Hier werden erhebliche Integrationsleistungen erbracht, was in der ZEIT nicht gewürdigt wird.“ Aber auch nicht von der Gesamtstadt: „Schon vor 25 Jahren hat der damalige Bezirksvorsteher Alexander Fischer die Solidarität der Gesamtstadt für die Nordstadt eingefordert.“ Staubach erneuerte seine Forderung nach struktureller Ausgleichsförderung statt einer Projektitis. „Das ist den Herausforderungen nicht angemessen und geht an den Bedarfen vorbei.“

Prof. Dr. Aladin El-Mafaalani (Bildungsforscher der Fachhochschule Münster) nahm anschließend die neuen Herausforderungen an die Kinder- und Jugendarbeit der Dortmunder Nordstadt in den Blick. Er erinnerte – wie schon Staubach zuvor – an die Einladung an Heinz Buschkowsky, langjähriger Bezirksbürgermeister von Berlin-Neukölln, die Stadt Dortmund zu beraten.

Für El-Mafaalani purer Schwachsinn: Neukölln habe im Vergleich mit der Nordstadt deutlich geringere Ausländerzahlen, weniger Arbeitslose, eine niedrigere SGBII-Quote und sei für die Polizei deutlich gefährlicher als die Nordstadt. „Eigentlich sollte Buschkowsky nicht hier beraten, sondern beraten werden.“ Jemand, der nichts anderes gemacht habe, als 16 Jahre seinen Stadtteil schlecht zu reden, sei eindeutig der falsche Berater.

Statistisch gesehen ist die Nordstadt ein extremer Stadtteil

Prof. Aladin El-Mafaalani ist Bildungs- und Integrationsforscher an der FH Münster.
Prof. Aladin El-Mafaalani ist Bildungs- und Integrationsforscher an der FH Münster.

Aber die Nordstadt sei statistisch gesehen ein extremer Stadtteil. Doch anders als in anderen wachsenden Städten habe es in Dortmund für die untere Mittelschicht oder die Besserverdienenden nicht den Zwang gegeben, in der Nordstadt zu wohnen. „Ich brauche nur einen Euro mehr, um nicht in der Nordstadt zu wohnen. Deshalb gibt es die Segregation“, so der Forscher.

„Bei Einkommen, Altersstruktur, Arbeitslosigkeit und Ausländeranteil gibt es statistisch extreme Ausschläge. Wenn ein Reporter von außerhalb durch die Mallinckrodt- und die Münsterstraße läuft, dann sieht er was, was man in Hamburg nicht so ohne weiteres sieht.“

Doch das sei nur die halbe Wahrheit: „Gleichzeitig sind ganz viele andere Dinge nicht problematisch. Denn die Nordstadt müsste eigentlich die Hochburg der Gewalt und der Kriminalität sein – ist sie aber nicht. Statistisch müsste es viel schlimmer sein.“

Trotz Engagements hat sich die Sozialstruktur auf längere Sicht nicht verbessert

Doch bei allen Bemühungen, habe sich bei der Sozialstruktur auf längere Sicht nichts verbessert. Die entsprechenden Kennziffern seien hoch und ungünstig stabil. Köln-Chorweiler wäre statistisch vergleichbar. Aber die Nordstadt sei ein Innenstadt-Bezirk und es keine Hochhaus-Siedlung.

Was hat sich in der Nordstadt verändert? Früher gab es vor allem zwei große Gruppen: Die Türkei- und die Polenstämmigen. „Die nehmen einem Arbeit ab – es gibt eine soziale Kontrolle.“ Mittlerweile gebe es viel mehr unterschiedliche Gruppen – Menschen aus 180 Ländern.

Statistisch sehe man kaum Verbesserungen. Aber das liege an einem Paradoxon: In der Nordstadt hätten die Bildungsbemühungen viel bewegt. „Doch wer erfolgreich ist, wandert wieder weg. Die Früchte der Arbeit gehen im großen Ausmaß weg.“

Nordstadt verschafft vielen Menschen Aufstiegsmöglichkeiten – doch die ziehen dann weg

In Punkto Bildung habe sich die Nordstadt stärker verbessert als die Gesamtstadt. Auch bei der Arbeitsmarktintegration. „Doch viele Jugendliche gehen dann weg, wenn die Integration klappt. Bildung macht Menschen fitter, flexibler und mobiler. Hier kriegen wir keine Gentrifizierung hin“, dämpfte E-Mafaalani die Erwartungen.

„Es wäre schon super, wenn ein Teil der Aufsteiger in der Nordstadt bleibt und hier Chancen sieht. Doch dafür muss sie attraktiver sein, es muss eine geringere Fluktuation geben. „Sie muss für 25- bis 40-Jährige attraktiver werden, nicht nur bei Kitas und Schulen. Und sie brauchen Arbeitsplätze in allen Segmenten“, riet der Universitäts-Professor.

„Dafür muss man sich schlau machen, was diese Menschen gerne hätten. Daher müssen Sie sich nicht nur an Benachteiligten orientieren. Das wären die Strategien. Sie müssen die Illusion beiseite schieben, dass sich die Situation mal komplett umkehrt.“ Wenn das passiere, sei es selten strategisch beabsichtigt gewesen oder erzwungen worden.

Die Vorteile von Ankunftsgebieten seien deutlich erkennbar. Und die Nordstadt sei ein Stadtteil, in dem Innovationen und bessere Konzepte entstünden als an Universitäten. Aber von Jahrgang zu Jahrgang werde die Situation etwas schlechter.

Paradox: Es gibt Probleme nicht „obwohl“, sondern „weil“ man erfolgreich arbeit

Die Nordstadt - Informationsschrift des SPNP in den ersten Jahren.
Die Nordstadt – Informationsschrift des SPNP in den ersten Jahren.

„Mehr Erfolgreiche ziehen weg, mehr Neue kommen nach. Weil – nicht obwohl – man erfolgreich arbeitet, verbessert sich der Stadtteil nicht. Die Bildungsarbeit ist super – weiter so. Aber man müsste auch andere Sachen machen“, riet der Bildungsforscher.

Die hohe Fluktuation sei gut und schlecht. „Es zeigt, dass die Nordstadt keine Sackgasse ist. Aber auch, dass man keine Stabilität hinbekommt. Das gilt auch für die Sicherheitskräfte – binnen fünf Jahren haben sie es mit einer komplett neue Klientel zu tun“, machte E-Mafaalani deutlich.

Selbst die „alten“ Migranten nähmen wahr, dass die neue Migranten anders seien. „Das städtische Engagement muss daher hoch bleiben. Die Nordstadt ist ein Chancenraum und messbar erfolgreich – heute mehr als früher“, zog der Wissenschaftler eine Bilanz. „Aber für Veränderungen muss man an ganz anderen Stellschrauben drehen. Dafür habe ich aber kein Patentrezept“, räumte er selbstkritisch ein.

„Hier kann man viel Positives bewegen, ohne davon ausgehen zu können, dass die Nordstadt seine statistische Position in den nächsten 50 Jahren an eine andere Stelle abgibt.“

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