Der 96-jährige Shoa-Überlebende Horst Selbiger erneut zu Gast an der TU

Ein Zeitzeuge des Holocausts berichtet in Dortmund: „Was bleibt, sind die Erinnerungen“

Mehr als eine Million Menschen wurden von den nazis allein in Auschwitz-Birkenau ermordet. Foto: Alex Völkel
Mehr als eine Million Menschen wurden von den Nazis allein in Auschwitz-Birkenau ermordet. Archivfoto: Alex Völkel für Nordstadtblogger.de

Der 96-jährige Holocaust-Überlebende Horst Selbiger hat erneut im Audimax der TU Dortmund von seiner Kindheit als Jude im nationalsozialistischen Deutschland erzählt. 1943 entging er in Berlin nur knapp der Deportation – mehr als 60 seiner Familienangehörigen und seine Jugendliebe Ester wurden in Auschwitz ermordet. Um seine Geschichte für folgende Generationen weiterzutragen, hat neben zahlreichen Studierenden, Beschäftigten und Gästen auch NRW-Wissenschaftsministerin Ina Brandes an der öffentlichen Lesung teilgenommen.

Der 15-jährige entging als sogenannter Halbjude im letzten Augenblick der Deportation

Horst Selbiger wurde 1928 als Sohn eines jüdischen Zahnarztes und einer christlichen Mutter in Berlin geboren. Bereits in der Grundschule wurde Selbiger, der zusammen mit seinem Bruder aufwuchs, von den anderen Kindern ausgegrenzt. Seine jüdische Mittelschule, in der er sich zum ersten Mal geborgen fühlte und sich in seine Freundin Ester verliebte, wurde 1942 geschlossen – fortan waren Selbiger und die anderen Kinder zur Zwangsarbeit verpflichtet.

Der Holocaust-Überlebende Horst Selbiger teilte seine Geschichte mit Universitätsmitgliedern und Gästen im Audimax der TU Dortmund. Foto: Martina Hengesbach/TU Dortmund

Als Ende Februar 1943 Berliner Jüd*innen aus ihren Zwangsarbeitsstätten abtransportiert wurden, fanden er und Ester sich in der Haft wieder. Die Jugendlichen schworen sich, dass der oder die Überlebende von ihren Erlebnissen erzählt. Nur Tage später wurde Ester ins Vernichtungslager Auschwitz gebracht und ermordet.

Der 15-jährige Horst Selbiger selbst entging als sogenannter Halbjude im letzten Augenblick der Deportation. „Meine Mutter war unsere Lebensretterin“, berichtete Selbiger in der Lesung. Seine christliche Mutter hatte, auch unter politischem und gesellschaftlichem Druck, zu ihrem jüdischen Ehemann und ihren zwei Söhnen gehalten. Über 60 seiner Familienangehörigen – die Älteste 86 Jahre, der Jüngste sechs Monate alt – wurden in der NS-Zeit ermordet.

In seiner Erzählung verbindet Selbiger die eigenen Erlebnisse und Esters Schicksal immer wieder mit dem ganzen Ausmaß des Verbrechens im Dritten Reich – vom Staat über die Unternehmen bis zur Gesellschaft. „Was bleibt, sind die Gedanken, die Wehmut und die unlöschbaren Erinnerungen“, sagte Selbiger. „Erst 70 Jahre nach meinem Versprechen mit Ester habe ich die Worte gefunden, um über unsere Erfahrungen zu berichten.“

„Die Eindrücke einer persönlichen Begegnung mit Überlebenden der Shoa sind unersetzlich“

An der TU Dortmund war Horst Selbiger seit 2017 bereits zum vierten Mal für eine Lesung zu Gast, die Prof. Egbert Ballhorn vom Institut für Katholische Theologie organisiert hat. Gemeinsam mit Ina Brandes, NRW-Ministerin für Kultur und Wissenschaft, freute sich Prof. Manfred Bayer, Rektor der TU Dortmund, Horst Selbiger in diesem Jahr persönlich in Dortmund zu begrüßen.

Begrüßten Horst Selbiger (vorne) im Audimax (v.l.): Prof. Manfred Bayer (Rektor der TU Dortmund), Prof. Christoph Schuck (Dekan der Fakultät Humanwissenschaften und Theologie), Ina Brandes (Ministerin für Kultur und Wissenschaft) und Prof. Egbert Ballhorn (Institut für Katholische Theologie). Foto: Martina Hengesbach/TU Dortmund

Prof. Bayer bedankte sich für die Möglichkeit, an seinem Schicksal Anteil nehmen zu dürfen und betonte: „Wir alle müssen uns geschlossen und mit Nachdruck gegen Antisemitismus jeglicher Art stellen.“

Ministerin Ina Brandes sagte: „Die Erfahrung und die Eindrücke einer persönlichen Begegnung mit Überlebenden der Shoa sind unersetzlich. Ich bin sehr dankbar, dass Horst Selbiger seine persönliche Geschichte und das große Leid, das er erfahren hat, mit Studentinnen und Studenten, Dozentinnen und Dozenten der TU Dortmund teilt. Wir sollten jede Möglichkeit nutzen, gerade jüngere Menschen mit Zeitzeugen ins Gespräch zu bringen. Das Grauen der Shoa darf niemals in Vergessenheit geraten.“

Wunsch für nachfolgende Generationen: „Macht euren Kopf frei und denkt selbst“

Auch Prof. Egbert Ballhorn und Prof. Christoph Schuck, Dekan der Fakultät Humanwissenschaften und Theologie, appellierten an die zahlreichen Besucher*innen, die Berichte von Zeitzeug*innen weiterzutragen, wenn diese nicht mehr aus eigener Hand erzählen können.

Zum Abschluss seiner Lesung trat Horst Selbiger in den Austausch mit dem Publikum. Auf die Frage, was sein Rat für die jüngeren Generationen sei, richtete sich Selbiger an alle Zuhörer*innen: „Macht euren Kopf frei und denkt selbst. Das ist meine Erwartung und mein Wunsch für die jüngere Generation. Quatscht nicht einfach eine Meinung nach. Erlebt das Leben und was in der Welt geschieht – dann denkt darüber nach. Der Kopf ist euch zum Denken gegeben, macht davon Gebrauch!“

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Reaktionen

  1. Elmar

    das nennt man repressive Toleranz.Dieser Vortrag und das Camp der Israelgegner gleichzeig in Dortmunds universitärem
    Umfeld.Möge das Juicy Beats Festival unbeschadet bleiben, anders als das Nova Festival.

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