Aus der Ukraine berichtet Paulina Bermúdez
Eine Delegation der Stadt Dortmund besuchte erstmals die zukünftige ukrainische Partnerstadt Schytomyr im Westen der Ukraine. Der Besuch zielte darauf ab, den Dortmunder:innen das Leben im Krieg näherzubringen und die Situation vor Ort besser kennenzulernen. Um Antworten auf die Frage zu finden, wie Kinder den Kriegsalltag wahrnehmen, besuchte die Delegation einen ukrainischen Kindergarten.
Wir mussten mehrmals täglich mit den Kindern in den Luftschutzbunker“
Vilenina Hannoshyna leitet den Kindergarten „Verbychenka“ in der ukrainischen Stadt Schytomyr. Normalerweise trägt sie die Verantwortung für 120 Kinder. Doch von Normalität, wie wir sie kennen, ist der Kindergartenalltag seit Beginn des russischen Angriffskriegs im Februar 2022 weit entfernt.
„Zur Zeit haben wir etwa 70 Kinder bei uns“, erklärt Hannoshyna. Die übrigen 50 Kinder seien noch im Ausland oder bei Verwandten. Mit einem verhaltenen Lächeln merkt sie an: „Ungefähr zwanzig Kinder sind gerade in Deutschland.“ Zu Beginn des Krieges seien viele Kinder mit ihren Eltern nach Polen oder Deutschland geflohen, derzeit kämen aber immer wieder Kinder zurück, erklärt sie.
Der Kindergarten liegt in der Innenstadt der ukrainischen Großstadt. Vilenina Hannoshyna führt die Dortmunder Delegation über das Außengelände, den Spielplatz und durch die Innenräume. Und selbstverständlich auch in den Luftschutzbunker.
Schon Zweijährige wissen, was der Sirenenalarm bedeutet
„Es ist unfassbar: Ich habe zweijährige Kinder, die noch nicht sprechen können – aber wenn die Sirene ertönt, wissen sie, dass sie schnellstmöglich in den Bunker müssen“, verrät Hannoshyna mit ernster Miene.
Mittlerweile ertönt die Sirene, die vor einem möglichen Luftangriff warnen soll, nur noch nachts und ihr folgen selten tatsächliche Angriffe. Die Leiterin des Kindergartens erinnert sich aber an Zeiten, wo dies anders war: „Wir mussten mehrmals täglich mit den Kinder in den Luftschutzbunker. Jetzt ist es Sommer, da geht das alles viel schneller. Aber im Winter mussten wir die Kinder anziehen, bevor wir runter gehen konnten, damit sie sich nicht erkälten.“
Ihr persönlicher Rekord läge bei fünf Minuten, erklärt Vilenina Hannoshyna. Damit meint sie die Zeit zwischen dem ersten Vernehmen der Sirene und dem Ankunftszeitpunkt aller Kinder im Bunker. Die tatsächliche Zeit zwischen dem Start der Alarmsirene und dem Einschlagen russischer Bomben liegt in der Realität zum Teil bei unter einer Minute.
Betten, Tische, Stühle und Spielzeug sollen den Alltag im Bunker verschönern
Der fensterlose Luftschutzbunker liegt direkt unter dem Kindergarten. Um dort hin zu gelangen, müssen die Kinder und die Erzieher:innen durch den Haupteingang aus dem Gebäude raus und seitlich eine steinerne Treppe hinabsteigen.
Der Bunker ist ein rechteckiger, langer Raum mit tiefen Decken und grellem Neonlicht, das gegen die Kelleratmosphäre anzukämpfen versucht. Am Ende des Raums befinden sich zwei Toilettenkabinen. Neben Tischen, Stühlen und Betten steht den Kindern eine Vielzahl an Spielzeug zur Verfügung.
Zu Beginn habe der Raum sehr trist ausgesehen, berichtet Leiterin Hannoshyna. Daher habe sie den Entschluss gefasst, die Räumlichkeit etwas zu verschönern. „Ich habe Pinsel und Fabe genommen und selbst angefangen, die Wände zu bemalen. Wir versuchen den Kindern die Zeit hier unten so angenehm wie möglich zu machen“, erzählt sie.
Wie erleben ukrainische Kinder in Schytomyr den Kriegsalltag?
Zur Mittagszeit schlafen die Kinder im Kindergarten „Verbychenka“. Nur die älteren Kinder sind draußen auf dem Spielplatz, vier Erzieherinnen passen auf sie auf. Eines der Kinder ist die fünfjährige Ivanka. Zu Beginn des Krieges floh ihre Familie ins Nachbarland Polen. Auf die Frage, wie für sie der Aufenthalt und die Flucht waren, entgegnet Ivanka unbeeindruckt: „Normal.“
Sie erzählt, sie sei in Polen auch in den Kindergarten gegangen, an eine Sprachbarriere kann sie sich nicht erinnern. Obwohl der kurze Aufenthalt in Polen sehr angenehm gewesen sei, gäbe es keinen Ort, wie das eigene Zuhause, erzählt Ivanka.
Daher reiste die Familie nach wenigen Wochen wieder zurück nach Schytomyr. Ivanka erinnert sich an die Vorfreude: „Endlich konnte ich meine Freund:innen wiedersehen.“
Neben der Fünfjährigen sitzen ihre Kindergartenfreund:innen Nastja und Mychailo. Auf die Frage, ob sie schon einmal in den Bunker unter dem Kindergarten fliehen mussten, nicken alle drei heftig mit dem Kopf. „Da! Da!“, sagen sie energisch. „Zwei, manchmal drei Stunden müssen wir dort unten bleiben“, sagt Nastja.
Uneinig sind sich die Kinder aber in Bezug auf das eigene Empfinden. Mychailo gibt sich gelassen, er sagt, er habe keine Angst, während des Ausharrens im Bunker.
Nastja hingegen verrät: „Ich habe große Angst, wenn wir dort unten sind.“ Sie erzählt, sie habe in der Vergangenheit bereits Bombardierungen mitbekommen: „Zuhause habe ich die Raketen gehört und sogar die Explosion gespürt.“
Nastja erinnert sich vor allem an die Angst, die sie um ihre Eltern hatte: „Ich habe meiner Mama immer wieder gesagt, ,Geh nicht auf den Balkon!‘, wegen der starken Druckwelle. Danach sind wir aufs Land gezogen. Meine Eltern hatten Angst.“
Auf den Vorschlag der Erzieherinnen, gemeinsam mit den Vorschulkindern in den Bunker zu gehen, folgt eine überraschende Reaktion: Die Kinder freuen sich. Sie stürmen die Treppe hinab und werden immer wieder ermahnt, sich an dem Handgriff festzuhalten. Nach über einem Jahr Krieg, scheint sich eine eigene Dynamik unter ihnen eingestellt zu haben.
Im Luftschutzbunker angekommen, setzen sich die sieben Vorschulkinder an einen Tisch, holen wie selbstverständlich ihr Spielzeug aus den Schränken und spielen unbeschwert. Verblüffend und nachvollziehbar zu gleich: Die Kinder freuen sich auf das Spielen im Bunker, trotz ihrer Ängste und der außergewöhnlichen Kriegsrealität, in der sie seit über einem Jahr leben.
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