Interview mit Verfassungsschutz-Chef Thomas Haldenwang

Zunahme von Rechtsextremismusfällen in Sicherheitsbehörden und bei Bundeswehr erwartet

Neonazi-Aufmarsch zum Nationalen Antikriegstag in Dorstfeld 2007 - einer der Anlässe für den Aktionsplan. Archivbild: Alex Völkel
Die Polizei muss Neonazis die Stirn bieten – aber es gibt viele Verdachts- und Rechtsextremismusfälle in den Behörden. Foto: Alexander Völkel für nordstadtblogger.de

„Rechtsextremismus ist derzeit die größte Bedrohung unserer Demokratie“ – so steht es im Koalitionsvertrag der Ampelparteien. Besonders heikel: Rechtsextremisten in Sicherheitsbehörden. Laut dem letzten Lagebericht des Bundesamts für Verfassungsschutz (BfV) gab es im Erhebungszeitraum knapp 380 Verdachtsfälle bei den Sicherheitsbehörden. Im Frühjahr 2022 wird es eine Fortschreibung geben. „Von einer Reduzierung der Fälle gehe ich nicht aus“, sagt der Verfassungsschutzpräsident Thomas Haldenwang im Interview mit Sven Lilienström, Gründer der Initiative Gesichter der Demokratie. Im Gegenteil: Der 61-Jährige rechnet mit einer Zunahme von Rechtsextremismusfällen in Sicherheitsbehörden und bei der Bundeswehr.

Herr Haldenwang, Sie sind seit drei Jahren Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz. Welchen Stellenwert haben Demokratie und demokratische Werte für Sie ganz persönlich?

In einer Demokratie zu leben, bedeutet für mich nicht nur Gewaltenteilung und freie Wahlen, sondern auch Teil einer pluralistischen Gesellschaft zu sein, in der niemand aufgrund seiner geografischen oder sozialen Herkunft, seines Geschlechts oder seiner Religionszugehörigkeit diskriminiert wird. Demokratische Werte wie beispielsweise Meinungs-, Versammlungs- und Pressefreiheit sind dabei der Kompass für ein friedliches Miteinander.

Wir leben aktuell in der stabilsten und sichersten Demokratie, die es in Deutschland je gegeben hat. Dass dies keinesfalls selbstverständlich ist, zeigt ein Blick in andere Länder der Welt. Umso wichtiger ist es, dass wir in Deutschland für unsere pluralistische Gesellschaftsform einstehen, sie respektieren und durch staatliche Strukturen stärken und schützen.

Verfassungsschutz und Demokratie: Am 7. November 2020 feierte das Bundesamt für Verfassungsschutz sein 70-jähriges Bestehen. Mal ganz naiv gefragt: Warum brauchen wir den Verfassungsschutz überhaupt?

BfS-Chef Thomas Haldenwang im Interview mit Sven Lilienström, Gründer der Initiative Gesichter der Demokratie.
BfS-Chef Thomas Haldenwang im Interview mit Sven Lilienström, Gründer der Initiative Gesichter der Demokratie. Foto: Bundesamt für Verfassungsschutz

In der Geschichte unseres Landes haben wir mehrfach erlebt, wie extremistische Strukturen unsere Demokratie verachtet, bekämpft und letztlich das staatliche System zerstört und in verheerende Kriege geführt haben. Das Bundesamt für Verfassungsschutz wurde gegründet, um als Frühwarnsystem Bestrebungen gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung in unserem Land zu erkennen und daran mitzuwirken, dass so etwas nie wieder passiert.

Der Verfassungsschutz wird bereits dann tätig, wenn die Polizei noch nicht zuständig ist. Er betreibt wichtige Vorfeldaufklärung und ist deshalb unerlässlich für den Schutz unseres demokratischen Gemeinwesens. Die Mitarbeitenden des Bundesamts für Verfassungsschutz arbeiten seit über 70 Jahren engagiert daran, dass die Menschen in unserem Land ihr Leben in Freiheit und Sicherheit gestalten können.

Stichwort „Quellen-Telekommunikationsüberwachung“: Der Autor und SZ-Kolumnist Prof. Dr. Heribert Prantl hat kürzlich die gestiegenen Kompetenzen des BfV kritisiert. Mehr Überwachung – muss das sein?

In erster Linie geht es nicht um die Frage nach mehr Überwachung, sondern nach neuen Werkzeugen, die uns an die Hand gegeben werden, um unseren gesetzlichen Auftrag in einer sich stetig wandelnden und stärker digitalisierten Welt erfüllen zu können. Der Schutz unserer Verfassung wird immer komplexer. Wir haben es mittlerweile nicht mehr nur mit Bedrohungen in der Realwelt, sondern auch im Cyberraum zu tun.

Zudem nutzen Extremisten und Terroristen vermehrt digitale Medien zur Kommunikation und Vernetzung. Auch wir müssen mit der Zeit gehen. Es hilft uns wenig, ein Festnetztelefon abzuhören oder Briefe abzufangen, wenn Terroristen ihren Anschlag über einen Messenger-Dienst planen. Wir müssen dort sein, wo unsere „Kundschaft“ aktiv ist.

In der Bundeswehr haben rechtsextremistische Aktivitäten zugenommen. Sie nannten die Lage „besorgniserregend“. Hat die Bundeswehr ein strukturelles Problem mit Rechtsextremismus? Was tun dagegen?

Nach der Abschaffung der Wehrpflicht muss die Bundeswehr um Rekrut:innen werben.
Nach der Abschaffung der Wehrpflicht muss die Bundeswehr um Rekrut:innen werben. Foto: Alexander Völkel für Nordstadtblogger.de

Die größte Bedrohung für die Sicherheit und Demokratie in Deutschland geht weiterhin vom Rechtsextremismus aus. In letzter Zeit wurden auch Fälle in Sicherheitsbehörden und bei der Bundeswehr bekannt, die auf eine Haltung der handelnden Mitarbeitenden jenseits der freiheitlichen demokratischen Grundordnung hindeuten.

Gerade von diesen Personen kann eine besondere Gefahr ausgehen, da sie über sensible Informationen verfügen, eine besondere Ausbildung haben oder Waffenträger sind. Bereits im Jahr 2020 haben wir deshalb unseren ersten Lagebericht zu Rechtsextremisten in Sicherheitsbehörden vorgestellt. Im Frühjahr 2022 wird es eine Fortschreibung geben.

Von einer Reduzierung der Fälle gehe ich dabei nicht aus. Im Gegenteil: Durch unsere Arbeit hat eine intensive Sensibilisierung in den Behörden, der Vorgesetzten und der Kollegenschaft stattgefunden. Entsprechende Fälle können dadurch besser und schneller aufgedeckt werden.

Mittlerweile wirbt eine rechte Plattform mit einer Art Siegel und dem Slogan „100 Prozent garantiert vom Verfassungsschutz beobachtet“ Die Beobachtung durch den Verfassungsschutz als Gütesiegel? Wie kann das sein?

Die Bundesregierung und die Öffentlichkeit haben ein berechtigtes Interesse an einem umfassenden Bild zur Sicherheitslage, dass auch mit Hilfe des Verfassungsschutzes gebildet wird. Es ist eine unserer Aufgaben, die Bevölkerung – soweit dies unsere Geheimhaltungserfordernisse erlauben – über unsere Arbeit zu informieren. Dies tun wir regelmäßig durch die Teilnahme an Veranstaltungen und durch unsere Berichtsformate aber auch über unsere Presse- und Kommunikationsstellen.

Warum eine Beobachtung durch den Verfassungsschutz und damit das eigene verfassungsfeindliche Handeln in bestimmten Kreisen offenbar mittlerweile als eine Art Gütesiegel verstanden wird, erklärt sich mir nicht. Es zeigt jedoch insbesondere eines: Die Arbeit des Verfassungsschutzes ist präsent und wird in der Öffentlichkeit wahrgenommen.

Das BfV konzentriert sich natürlich nicht nur auf Rechtsextremismus. Welches der insgesamt neun „Themenfelder“ ist derzeit mit den meisten, welches mit den geringsten Ressourcen ausgestattet und warum?

#SayTheirNames: Kundgebung zur Erinnerung der Toten des Terroranschlags von Hanau. Klaus Hartmann | Nordstadtblogger

Die Bedrohungen für unsere freiheitliche demokratische Grundordnung verändern sich mit der Zeit und können sehr dynamisch sein. Während des Ost-West-Konflikts standen beispielsweise andere Akteure im Mittelpunkt unserer Arbeit als nach den Anschlägen des 11. September 2001 oder nach den rechtsterroristischen Morden in Kassel, Halle und Hanau.

Sobald es eine neue oder veränderte Bedrohungslage gibt, versuchen wir, unsere vorhandenen Kräfte neu zu bündeln und Arbeitsschwerpunkte zu justieren. Das ermöglicht uns, lageangepasst alle Themenfelder gleichermaßen zu bearbeiten. Wachsen Bedrohungslagen an oder kommen neue hinzu, heißt das aber auch, dass wir unsere personellen und finanziellen Ressourcen anpassen. Bei der Einstellung neuer Mitarbeitender legen wir Wert darauf, dies divers zu tun und ein Abbild der Gesellschaft zu bleiben.

Herr Haldenwang, unsere siebte Frage ist immer eine persönliche: Über Ihr Privatleben ist wenig bekannt – wahrscheinlich aus gutem Grund. Dennoch interessiert uns: Was machen Sie in Ihrer Freizeit am liebsten?

Ich glaube was das angeht, unterscheide ich mich wenig von anderen Menschen. Ein besonders ausgefallenes Hobby betreibe ich nicht. Meine Freizeit verbringe ich gerne mit der Familie und Freunden, ich lese gerne Bücher und ab und zu findet man mich in der kalten Jahreszeit auch auf der Skipiste.


Das Interview ist zuerst auf der Seite der Initiative Gesichter der Demokratie erscheinen.

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