Zeig’ mir Deine Eltern: dort steht, wer Du bist! – Anstelle der katholischen Arbeitertöchter trifft es heute muslimische Söhne

Einblicke in den Moscheealltag bekamen die Teilnehmenden beim Mittagsgebet.
Moscheealltag in Dortmund – junge Männer beim Mittagsgebet in der Nordstadt. Archivfoto: Alex Völkel

Eigentlich überrascht es nicht: weil muslimische Jungen in konservativ-religiös geprägten Familien früh wie kleine Könige behandelt werden, fällt es ihnen häufig schwer, als Jugendliche in der Gesellschaft anzukommen. Zwar darf und kann „Integration“, recht verstanden, nicht in bis zur Unkenntlichkeit nivellierender Assimilation bestehen, doch die Grundregeln eines friedlichen Zusammenlebens gelten für alle gleichermaßen – auch für sie, für junge Muslime. Was im Einzellfall schon einer Majestätsbeleidigung gleichkommen könnte. So bleiben viele solcher jungen Männer mit türkischen oder arabischen Wurzeln hier immer fremd. Sie uns und wir ihnen. Sie sind „desintegriert“, wie es im Titel des jüngst erschienenen Buches des Dortmunder FH-Professors Ahmet Toprak heißt. Verantwortlich für solche Fehlentwicklungen macht der Erziehungswissenschaftler – neben üblichen Verdächtigen wie systematischer Diskriminierung – auch und insbesondere solche Elternhäuser von muslimischen MigrantInnen, in denen stark traditionsgebundene Rollenzuweisungen den Alltag formen.

Über scheinbar banale Erkenntnisse und befürchtete Steilvorlagen für den Rechtspopulismus

Soweit, so gut. Was aber ist an dieser Erkenntnis so erstaunlich, als dass sie in einer Monographie auf gut über 200 Seiten ausgebreitet werden müsste? Letzten Endes – nichts, könnte eine vorschnelle Antwort lauten. Gäbe es da nicht ein paar kleine Details. Der ausgewiesene Integrationsexperte hat seine Abhandlung nicht umsonst in einem eher populärwissenschaftlichen Stil verfasst. Als Sachbuch richtet es sich primär nicht an KollegInnen vom Fach, sondern an ein breiteres Publikum und möchte gesellschaftlich Wirkung entfalten.

Prof. Ahmet Toprak bei Vorstellung seines Buches an der Fachhochschule Dortmund. Foto (3): Thomas Engel

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Was sich auch daran zeigt, dass im abschließenden dritten Teil Handlungsempfehlungen ausgesprochen werden – von wegen Elfenbeinturm oder Wolkenkuckucksheim: es soll was praktisch werden, weil’s Handlungsbedarf gibt.

Träfe es nämlich zu, dass sich durch die Lektüre der Erkenntnisgewinn wirklich in Grenzen hielte, warum dann offene Türen einrennen? Zumindest das Banale sollte doch inmitten der Gesellschaft angekommen sein und ließe die erneute Aufbereitung des Themas als ziemlich überflüssig erscheinen. Wichtig wird hier ein weiterer Umstand.

Kürzlich, im Interview mit einem bekannten Online-Portal, stellt ein Kollege Ahmet Toprak die rhetorische und im Grunde ziemlich unverschämte Frage: Ob er sich dessen bewusst sei, dass sein Buch all jenen eine Steilvorlage liefere, die sagten: „Die Türken bzw. Araber wollen sich doch gar nicht anpassen. Und wer sich nicht anpassen will, soll gehen!“? Abgesehen vom fast belehrenden Ton, der einem Professor mit deutschen Wurzeln sicher erspart geblieben wäre, geht es also vordergründig um ein sensibles, politisch brisantes Thema.

Die beste Versicherung gegen den Rechtspopulismus ist offene Diskursivität

Verhindert ein konservativ-religiöses Elternhaus die Integrationschancen? Foto: Alex Völkel
Vermindert ein konservativ-religiöses Elternhaus Integrationschancen beträchtlich? Foto (5): Alex Völkel

Angenommen, erstens, dem wäre so: Warum sollte es einen Wissenschaftler bekümmern, wer die Ergebnisse seiner Forschung und in welcher Absicht politisch ausschlachten könnte? Schließlich geht’s hier nicht um deren militärische Verwertbarkeit. Was nicht bedeutet, dass Fremdenfeindlichkeit, gruppenbezogene Menschenverachtung und Rassismus nicht schon scheußlich genug wären. Denen allerdings ist nicht durch Schweigen beizukommen, im Gegenteil.

Sondern nur durch demokratische, offene Diskursivität. Zu diesem Zweck empfiehlt es sich, zweitens, die relevanten Fakten vorbehaltlos und transparent auf den Tisch zu legen. Damit alle wissen können, wovon die Rede ist: im interessierten Gespräch darüber, welches Maß an Integration wir berechtigterweise von allen, die in diesem Staat leben, erwarten können, und was wir umgekehrt als eine tolerante Gesellschaft gar nicht erwarten dürfen.

Drittens kann es nur auf diese Weise gelingen, vorhandene Integrationshindernisse mit politischen Mitteln und vernünftig zu beseitigen. Statt Gefahr zu laufen, das Thema rechter Demagogie und damit den Ängsten oder ideologischen Verbohrtheiten jener Bürgerinnen zu überlassen, die dafür empfänglich sind. – Es folgt: Wie wenig überraschend die Thesen von Ahmet Toprak zu den Folgen muslimisch-traditionalistischer Primärsozialisation in ihrem Kern auch sein mögen, es gibt allein schon deshalb gute Gründe, sie der weiteren Öffentlichkeit ans Herz zu legen. Doch das ist nicht alles.

Deutsche Nachkriegselite erfolgreich in Abwehr basaler Gerechtigkeitsansprüche

Die klassischen Integrationskiller sind Armut und Bildungsmangel, zumindest in modern-säkularen Gesellschaften, perpetuiert in Verbund mit struktureller Diskriminierung. Hier lag daher bislang bei (an Veränderung) interessierter wissenschaftlicher Expertise das Augenmerk. Und dies gerade in einem Staat wie der Bundesrepublik nicht zu Unrecht. Denn in kaum einem anderen demokratischen Land sitzen Eliten so fest im Sattel.

Und es steht zu befürchten, dass sich an der relativen Undurchlässigkeit sozialer Hierarchien hierzulande auch in Zukunft nichts ändern wird. Solange jedenfalls, wie sich StaatsbürgerInnen wie eh und je mehrheitlich jene politischen Rahmenbedingungen aufschwatzen lassen, die dem Unrechtssystem ungleicher Chancen als Bestandsgarantie gelten können.

Dazu gehört insbesondere das einmalig frühe, nach dem 4. Schuljahr ansetzende Selektionssystem in den staatlichen Schulen. „Die Kinder kommen in eine Kaste“, betont Ahmet Toprak im Gespräch. Auf diese Weise werden Benachteiligungen aus bildungsarmen Familien zementiert, was letztendlich nur der elitären Reproduktion dient. Deren zweites unentbehrliches Standbein ist die erfolgreiche Fortschreibung der deutlichen Ungleichverteilung von Reichtum, wie beispielsweise im Erbsteuerrecht der Bundesrepublik, das für die Begünstigten nicht Leistung, sondern allein die Stunde glücklicher Geburt belohnt.

Erfolg von Integrationsbemühungen bleibt an eine Verbesserung sozialer Lagen gebunden

Auf dem Außengelände des Museums könnte der Hoesch-Bungalow aufgestellt werden. Foto: Alex Völkel
Bergbau, Eisen- und Stahlindustrie waren über Jahrzehnte auch der Zugang zum Arbeitsmarkt – und somit Integrationsmedien.

Der deutschen Nachkriegselite ist es auf diese Weise bis in die Gegenwart erfolgreich gelungen, ihre Privilegien gegen legitime Ansprüchen nach Gerechtigkeit weitestgehend zu schützen. Die Reichen werden immer reicher, die Kluft zur Armut insbesondere auch zur Bildungsarmut vertieft sich und die Aussichten für Menschen aus deprivilegierten sozialen Lagen heraus, die sich darin trollenden Teufelskreise zu durchbrechen, sind stabil gering.

Fragen nach den Bedingungen für gelingende Integration werden und müssen deshalb unweigerlich den scharfen Blick auf makrosoziale Strukturen wie die Folgen verschiedener Armutsformen mit sich führen. – Was Ahmet Toprak mit seinem Buch nun unternimmt, ist der Versuch, diese Perspektive um einen zwar bekannten, aber vielleicht nicht ohne Grund unterschätzten Aspekt zu erweitern. Der Gesichtspunkt, unter dem er sich seinem eigentlichen Thema – Integrationshindernissen – nähert, wird deshalb nicht überall auf Begeisterung stoßen. Denn er nimmt sich gelegentlich quasi wie eine Verschlusssache behandelter Narrative an.

Die erzählen erst einmal gar nichts von der alltäglichen sozialen Ausgrenzung bestimmter Minderheiten, die Integration verhindert. Nichts über konservative, bis an die Ränder des Völkischen reichende Integrationsforderungen, die auf vollständige Adaption bzw. Assimilation zielen und gleichsam auf „Einnordung“ hinauslaufen, zumindest rein äußerlich: indem nichts mehr von den besonderen kulturellen Herkünften der so „Integrierten“ an ihrem Verhalten sichtbar bleibt. Nach dem Motto: Nur ein Deutscher ist ein guter Türke.

Auch Kultur und Religion können neben Armut und Unbildung notorische „Integrationskiller“ sein

Nein, diesmal ist vielmehr die Rede von den speziellen „Leichen im Keller“ eines Teils derjenigen, deren Integration von der Mehrheitsgesellschaft ausdrücklich gewollt ist, von jungen MitbürgerInnen muslimischen Glaubens. Und sich dort als wenig erfolgreich erweist: „Männlich, muslimisch, desintegriert“, lauten Titel wie Gegenstand der Überlegungen im neuen Buch des Wissenschaftlers von der FH mit kurdischen Wurzeln und türkischem Pass.

Der also, gleichwohl heute als Professor sicher nicht „desintegriert“, auch aus biographischen Gründen wissen muss, wovon er spricht. Und von sich selbst freilich sagt, er sei alles andere als „vollständig integriert“. – Näherhin geht es um jene muslimischen Jugendlichen, die in der öffentlichen Wahrnehmung leider nur dann auftauchen, „wenn sie als Gewalttäter oder frauenverachtende Machos in Erscheinung treten“, schreibt er im Vorwort. – Für die politische Linke in gewisser Weise ein Giftschrankthema.

Sicher, dort, mit dem Anspruch auf freie Assoziationsbildung, herrscht einerseits große Klarheit: solche dissozialen Verhaltensweisen, einschließlich der dahintersteckenden Attitüden, gleich von wem – die gehen gar nicht. Doch es gibt in der Linken ebenso eine andere Sorge. Wird das Thema relativ zu anderen – wie der Diskriminierung von Minderheiten – zu sehr strapaziert, könnten die Mühlen der Rechten und deren krudes Weltbild bedient werden. Was Wachsamkeit erfordert, um zu verhindern, dass der „Feind des Feindes“ einem nicht unmerklich zu nahe rückt.

Bildungsforschung für institutionalisierte Chancengleichheit marginalisierter Gruppen

Der geläufige Rechtfertigungsmodus xenophober, kulturrassistischer Einstellungssysteme ist der, dass bei (vielen) Muslimen eine gleichsam „natürliche“ Unfähigkeit zur Integration vorläge, die aus einem Antagonismus herrühre: aus der nicht zu überwindenden Unvereinbarkeit bestimmter Kulturen, Stichwort „Abendland“.

Kundgebung gegen Islamophobie an der Reinoldikirche in diesem Jahr. Foto: Leopold Achilles.

Werden Kulturen gleichsam als ahistorische Wesenheiten gedacht und kann wegen ihrer Hermetik ein guter Türke oder Araber schon nicht zum Deutschen werden, dann soll er sich gefälligst vom Acker machen – so die einfältige Schwarz-Weiß-Metrik des geläufigen Protofaschismus der Gegenwart.

Nun steht Ahmet Toprak nicht gerade im Verdacht, hier irgendwelche Sympathien zu hegen, das wäre absurd. Sondern hat sich in der Absicht, integrative Kräfte zu stärken, seit Jahren (unter anderem) als Bildungsforscher für die Chancengleichheit von sozialen Gruppen stark gemacht, die von rechtslastigen Denkweisen an die gesellschaftlichen Ränder gedrängt werden, einschließlich die muslimischer MigrantInnen.

Dafür aber braucht es einen offenen, differenzierten Blick auf deren spezifische Problemlagen, ohne Schönfärberei, motiviert durch Abwehrreaktionen gegenüber völkischen und anderen Ausgrenzungsstrategien. Mit möglicherweise resultierenden Blindstellen in einem Erkenntnisinteresse, das bei Ursachen und Möglichkeiten von Veränderung liegt: als die Beseitigung diskriminatorischer Verhältnisse – dabei aber besagte „Leichen“ der Unterdrückten selbst vergisst.

Mikrokosmos zwischen Traditionalismus und Religion, Autorität, Macht und nackter Gewalt

Das hat Folgen: bei den ausgeblendeten Themen, auf die sich Ahmet Toprak nun einlässt, wird xenophoben Denkmustern die Definitionsmacht von Begriffen und Inhalten überlassen. Sein Buch ist insofern ein Beitrag zur Wiedererlangung von Diskursmacht und politischer Selbstvergewisserung, wo es nottut. Wenn inmitten dieser Gesellschaft „desintegrierte“ Jugendliche mangels Identifikations- und Orientierungsmöglichkeiten zum extremistischen Islamismus als Salafisten oder als glühende Erdogan-Anhänger zum türkischen Nationalismus abwandern und so zu Terror-Sympathisanten werden.

Ohne Ausbildung stehen die Chancen auf dem heutigen Arbeitsmarkt schlecht. Fehlende soziale Teilhabe und Integrationsdefizite sind die Folge.

Junge Männer, die hier eigentlich nie ankamen, sich nie integrieren konnten, weil sie für sich keinen „Mittelweg“ fanden. Kein individuell erarbeitetes, stabiles und identitätssicherndes Minimum an Balance zwischen verschiedenen Welten. In der Spannung zwischen den Erwartungen ihrer stärker traditionsgeprägten Herkunftskultur, internalisiert durch Sozialisation, und den hierzulande allgemeinverbindlichen Normen, die einen Umgang miteinander regeln sollen, der auf gegenseitiger Anerkennung personaler Vielfalt beruht.

Wesentliche Ursachen des Fremdbleibens – darin liegen Wagnis wie Fruchtbarkeit des Entwurfs – findet der Erziehungswissenschaftler also in den Herkunftsfamilien der jugendlichen Muslime. In den stereotypen Bildern über Geschlechterrollen des muslimischen Konservatismus in der Bundesrepublik.

In den sozialen Zwängen, die darin alltäglich transportiert werden; in einem hierarchisch angeordneten, familiären Mikrokosmos zwischen Traditionalismus und Religion – sich gegenüber einer als feindlich wahrgenommenen, säkularen Umwelt abschottend – als Ort der Erziehung zwischen alter Autorität, Macht und (ggf.) nackter Gewalt. – Da kann so manches schief laufen.

Metamorphose der Arbeitertochter vom Lande zum Sohn von MigrantInnen in der Großstadt

Die etwas aufmacherische Triade im Buchtitel „Männlich, muslimisch, desintegriert“ wurde seitens des Econ Verlages wohl eher wegen erhoffter Verkaufserlöse gewählt, denn dass sie inhaltlich begründet wäre. Weil die Jugendlichen, von denen darin die Rede ist, ja eigentlich nie integriert waren, und, der Argumentation des Autors folgend, dazu auch wenig oder nur verminderte Chancen besitzen.

Salafisten-Demonstration in Dortmund
Salafisten-Demo in Dortmund – sichtbarstes Zeichen fürs Nicht-Angekommensein. Archivbild

Zudem wird mit dem „Dreiklang“ – wie Ahmet Toprak es nennt – eine Kombination von drei Prädiktoren ausgezeichnet, die relativ deprivilegierte Startvoraussetzungen ins Leben voraussagen, vor allem durch über traditionelle Rollenverständnisse strukturell angelegte Bildungsbenachteiligung.

Das Faktorenbündel komplettiert sich dadurch, dass besagte Problemgruppe von notorisch Regeln brechenden, muslimischen Jugendlichen zumeist einem großstädtischen Milieu entstammen.

Historisch lösen sie gewissermaßen ein vom bundesdeutschen Nachkriegssoziologen Ralf Dahrendorf beschriebenes Phänomen ab. Der hatte in der schichtenspezifischen Sozialisationsforschung der sechziger Jahre unter dem Titel „Bildung ist Bürgerrecht“ mit dem berühmten „katholischen Arbeitermädchen vom Lande“ ebenso eine Schnittmenge dreier Prädiktoren für potentielle Bildungsbenachteiligung ausgemacht. Daran anknüpfend, diagnostizierte der Gießener Soziologe Rainer Geißler bereits 2005 eine „Metamorphose der Arbeitertochter zum Migrantensohn“. – Was ist nun los mit ihm?

Erklärungen zur typischen Lerngeschichte von Problem-Jugendlichen ohne Rechtfertigung

Viele junge Männer dieses Genres haben ein Problem. Dessen Ursachen von Toprak in den ersten beiden Abschnitten seines Buches dargelegt werden – „deskriptiv, nicht empirisch“, „mit vielen biographischen Elementen“ und „ohne verallgemeinern zu wollen“: wie und mit welchen Folgen jene traditionellen Erziehungsmuster konkret auf die Kinder, Mädchen wie Jungen wirken. Und die sind teils durchaus paradox, für Jungen auch stark ambivalent. – Eine Zwiespältigkeit, der auch die lesenswerte Darstellung selbst nicht vollständig entkommt, vielleicht gar nicht entkommen kann und soll.

Ahmet Toprak: als Buchautor gefragt.

Denn sie hat einerseits explikativen Charakter, indem innerfamiliäre Mechanismen über die Anordnung verschiedener Rollenzuweisungen beschrieben werden, die grob wie chronisch handlungsformende Kraftfelder wirken.

Auch muslimische Jungen sind in den darauf abhebenden Erziehungsmustern – bei häufig abwesenden oder schwachen Vätern vermittelt vor allem über omnipräsente Mütter – von Anfang an Opfer, werden sie unter Umständen später auch zu (dann in der Regel hilflosen) Tätern.

Insofern mahnt der Dekan an der Dortmunder FH implizit ein Verständnis an: für einen Typus lerngeschichtlicher Hintergründe bei muslimischen Problemjugendlichen, der schwerlich in der ignoranten Behauptung aufgehen kann, sie stünden sich nur selbst im Weg. Ohne dabei allerdings deren Verhaltensweisen irgendwie zu rechtfertigen. Indem er andererseits betont, dass eine „unabdingbare Voraussetzung“ für Integrationserfolge die „Vermeidung der Opferrolle“ sei – selbst „wenn die Integrationsangebote und sozialen Rahmenbedingungen nicht immer optimal sind“.

Wie als Gesellschaft reagieren? – Korrekturen konservativer Erziehungspraxen

Tanzfolk 2014 am Dietrich-Keuning-Haus. Folklore aus der Türkei
Tanzfolk am Dietrich-Keuning-Haus. Erziehung ist mehr als nur Folklore. Foto: Klaus Hartmann

Stattdessen fordert er eine erzieherische Praxis mit einer Haltungseinnahme, die Orientierung liefert und klare Grenzen setzt, zugleich aber deutlich macht: „Du bist mir wichtig; ich kümmere mich, bin für Dich da!“ Vermittelt wird den Jugendlichen auf diese Weise zum einen Wertschätzung und Verlässlichkeit.

Bei ihnen wiederum geht es entscheidend um etwas, was in dem hierarchisch strukturierten und von Geschlechterrollenstereotypen geprägten Beziehungsgeflecht des Elternhauses häufig zu kurz gekommen ist: um die Ausbildung sozialer Kompetenzen in einem gleichberechtigten Umgang miteinander.

Solche Grenzziehungen sind aus Sicht einer liberalen Gesellschaft, in der Freiheit auch immer die des Anderen ist, im Hinblick auf Akzeptanz und Akzeptabilität von selbstherrlich gerichteten Verhaltensweisen junger Muslime in urbanen Räumen ein notwendiges Korrektiv. Sie müssen sich, soll Integration überhaupt möglich sein, auf jene frühen erzieherischen Versäumnisse richten, die für stärker religiös, daher autoritär orientierte Familien (mehr oder weniger) bezeichnend sind.

Mit ihren starren Rollenbildern, in denen individuelle Selbstbestimmung wenig bis gar keinen Platz hat. Allein den heranwachsenden Jungen wird so manches nachgesehen, sie „dürfen über die Stränge schlagen, ohne dass sie dafür die Konsequenzen zu spüren bekommen“, schreibt Ahmet Toprak – und genau darin liegt das Problem.

Stets von der Familie in Schutz genommen, ob in der Schule oder anderen Bildungseinrichtungen, lernen sie nicht, Verantwortung für sich und ihr eigenes Handeln zu übernehmen.

Relativ zu Jungen profitieren Mädchen im Bildungsbereich von ihrer klassischen Rolle

Das führt zu einer ausgesprochenen Ambivalenz, die viele überfordert. Denn parallel dazu wird von ihnen erwartet, sich zu entwickeln, zu reifen: später die Familie zu repräsentieren, zu beschützen, zu ernähren. Was bei potentiellen Bildungsverlierern ohne gründliche Ausbildung – bei türkischstämmigen Schülern etwa liegt die Quote von Schulabgängen ohne Abschluss weit über dem Durchschnitt – in einer komplexen Welt schwierig wird.

An der Steinstraße in der Nordstadt ist der gemeinsame „Integration Point“ von Jobcenter und Arbeitsagentur.Das Paradox: Muslimischen Mädchen, ausgestattet mit weitaus weniger Freiheiten als ihre Brüder und frühzeitig auf ihre zukünftige Rolle als Mutter vorbereitet, gelingt es eher, einen Ausbildungsabschluss zu erreichen. In diesem Sinne profitieren sie vom klassischen Rollenverständnis, das von ihnen früh Disziplin und Bescheidenheit verlangt, einen stärkeren Verzicht auf Individualität fordert.

Für Ahmet Toprak können solche durch Unfreiheit erzwungenen Prädispositionen zur besseren Erlangung von Bildung allerdings keine Option darstellen. Benennt er kompromisslos die „Gleichbehandlung der Jungen und Mädchen in der Erziehung“ als Integrationsvoraussetzung, scheint er illusionslos, was dagegen die Möglichkeiten von Selbstverwirklichung in religiös geprägten Lebenswelten betrifft. Sonst schöbe er hier als Zusatzbedingung nicht unumwunden ein: „Geringe bzw. keine religiöse Erziehung in der Familie“.

Weitere Informationen:

  • Ahmet Toprak: „Muslimisch, männlich, desintegriert. Was bei der Erziehung muslimischer Jungen schiefläuft“, erschienen im Econ Verlag.
  • „Muslimisch, männlich, desintegriert“ – Professor Ahmet Toprak über Erziehung muslimischer Jungen. Ein Interview von Denis Huber (25.10.2019); hier:
  • Zur Bildungsbenachteiligung in der Bundesrepublik; hier:

 

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  1. Stadt- und Landesbibliothek (Pressemitteilung)

    „Muslimisch, männlich, desintegriert“: Ahmet Toprak bei der interkulturellen Lesung in der Stadt- und Landesbibliothek

    „Muslimisch, männlich, desintegriert“: Was bei der Erziehung muslimischer Jungen schiefläuft, darüber schreibt Ahmet Toprak in seinem aktuellen gleichnamigen Buch. Am Freitag, 21. Februar, 19.30 Uhr stellt der Fachhochschul-Professor (FH Dortmund) es im Studio B der Stadt- und Landesbibliothek (Max-von-der-Grün-Platz 1-3) vor. Der Eintritt kostet 3 Euro.

    Jungen aus türkischen und arabischen Familien brechen öfter die Schule ab, werden häufiger arbeitslos und gewalttätig. Zudem sind sie oft anfällig für religiöse oder nationalistische Radikalisierung. Ist das alles mit dem Bildungsniveau der Eltern und gesellschaftlicher Ausgrenzung zu erklären? Dem Erziehungswissenschaftler Ahmet Toprak zufolge gründet das Problem der neuen Bildungsverlierer nicht nur in einer verfehlten Integrationspolitik. Ausgehend von seiner Forschung, seinen Erfahrungen als Sozialarbeiter und seiner eigenen Biographie belegt er, dass der gesellschaftliche Misserfolg der Jungen in erster Linie an der Erziehung im Elternhaus liegt. Analytisch stark und unterstützt mit Fallbeispielen zeigt Toprak die Gründe und macht unmissverständlich klar, was sich ändern muss, damit Integration funktionieren kann.

    Eine Kooperationsveranstaltung der Freunde der Stadt- und Landesbibliothek Dortmund e.V. und der Stadt- und Landesbibliothek.

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