NSU-Komplex bleibt unaufgeklärt – Rechtsanwalt der Witwe von Mehmet Kubaşık über die Gefahr von Rechts

Am 4. April 2006 wurde der Dortmunder Mehmet Kubaşık von rechtsextremen Gewalttätern in seinem Kiosk an der Mallinckrodtstraße heimtückisch ermordet. Foto: Klaus Hartmann/Archiv

Gastbeitrag vom Bündnis „Tag der Solidarität – Kein Schlussstrich“

2006 wurde der bei vielen beliebte Kioskbetreiber Mehmet Kubaşık von Neonazis des „Nationalsozialistischen Untergrundes“ (NSU) auf der Dortmunder Mallinckrodtstraße erschossen. Am 4. April 2020 jährte sich dieser Mord nun zum 14. Mal. Seit 2012 gedenkt das Bündnis „Tag der Solidarität – Kein Schlussstrich!“ an diesem Tag Mehmet Kubaşık und allen Opfern rassistischen und rechten Terrors. Das Bündnis unterstützt die Familie in ihrer Forderung nach Aufklärung des NSU-Komplexes. Carsten Ilius, Rechtsanwalt der Hinterbliebenen Ehefrau des Ermordeten, Elif Kubaşık, hat sich zu einem Interview bereit erklärt. Ilius lebt in Berlin und arbeitet im Bereich des Straf- und Migrationsrecht. Das Interview führte Ali Şirin, der im Bündnis „Tag der Solidarität – Kein Schlussstrich“ in Dortmund aktiv ist.

Der NSU war nicht zu dritt: viele Fragen blieben im NSU-Prozess unbeantwortet

Dieses Jahr mussten die Gedenkdemonstration und die vielen geplanten Veranstaltungen im März und April aufgrund der Covid-19- Situation abgesagt werden. Darunter die Podiumsdiskussion zum Themenkomplex „NSU 2.0 und struktureller Rassismus“ mit Seda Başay-Yıldız, der Rechtsanwältin von Adile Șimşek. ___STEADY_PAYWALL___

Der NSU zog eine Spur des Terrors durch die BRD. Foto: Klaus Hartmann/Archiv

Außerdem Katharina König-Preuss, Abgeordnete (Die Linke) im Landtag Thüringen – sie gehörte den NSU-Untersuchungsausschüssen des Thüringer Landtags an und trug wesentlich zur Aufklärung von Hintergründen der Entstehung und der Taten des NSU bei; und dem Rechtsanwalt Carsten Ilius. 

Der NSU-Prozess lief von 2013 bis 2018 in München. Viele der prozessual berechtigten Fragen der Angehörigen der Mordopfer und der Opfer der Bombenanschläge blieben unbeantwortet.

Viele der Terrorhelfer*innen von damals sind nicht ermittelt worden oder bleiben zumindest unbestraft. Bemühungen das weitere NSU Netzwerk jenseits der Angeklagten ernsthaft aufzudecken, gab und gibt es nicht. Im Gegenteil: Verbindungen des mutmaßlichen Mörders Walter Lübckes führen zum Kasseler Umfeld des NSU. 

Todesdrohungen gegen Seda Başay-Yıldız unter dem Label NSU 2.0 zeigen wie motivierend das Netzwerk gewirkt hat und kommen offenbar aus den Reihen der Frankfurter Polizei. Die fehlende Bereitschaft zur Ausermittlung des NSU Netzwerkes zog fatale Auswirkungen mit sich und markiert die Gefahr, die von gegenwärtig bestehenden Nazistrukturen in Deutschland ausgeht.

Interview mit Rechtsanwalt Carsten Ilius

Herr Ilius, wie bewerten Sie den Ausgang des NSU-Prozesses? Welche neuen Erkenntnisse hat er hervorgebracht?

Gedenken an den Mord an Mehmet Kubasik. Anwalt der Familie Kubasik: Berliner Rechtsanwalt Carsten Ilius
Berliner Rechtsanwalt Carsten Ilius Foto: Klaus Hartmann/Archiv

Beides muss man, wie ich denke, klar auseinanderhalten. Der Prozess hat in Verbindung mit den Recherchen von Journalist*innen, Antifarecherchen und den Erkenntnissen vor allem des ersten Untersuchungsausschusses im Bundestag sowie des Untersuchungsausschusses in Thüringen die Kenntnisse über den NSU wesentlich erweitert. 

Es ist klar geworden, dass der NSU eben kein Trio sondern ein Netzwerk war. Es ist klargeworden, dass der NSU ohne dieses weitgespannte Netzwerk und deren Unterstützung in Bezug auf die anfängliche Finanzierung, die Beschaffung von Waffen und Informationen, von Wohnungen und anderer Infrastruktur weder so lange im „Untergrund“ hätte agieren, noch die Morde und Bombenanschläge begehen können.

Darüber hinaus ist deutlich geworden in welcher Verdichtung staatliche Sicherheitsbehörden, in nachvollziehbarer Weise, zumindest bis zum Beginn der Zwickauer Zeit, im unmittelbaren Umfeld von Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe über Informant*innen verfügten. Darüber hinaus ist auch ein weiterer Bombenanschlag in Nürnberg erst im Verfahren durch Carsten Schultze bekannt geworden.

Allerdings hat dann das Gericht an einem bestimmten Punkt im Wesentlichen die  Bemühungen der Nebenklage um auch prozessual gebotene weitere Aufklärung vereitelt und abgewiesen. So sind auch unsere Anträge zur Aufklärung der Unterstützung des NSU aus der örtlichen Dortmunder Naziszene mit einer aus unserer Sicht nicht nachvollziehbaren Begründung abgelehnt.

Die DemonstrantInnen glauben nicht, dass das Netzwerk nur aus dem Trio bestand. Foto: Leopold Achilles
Die DemonstrantInnen glauben nicht, dass das Netzwerk nur aus dem Trio bestand. Foto: Leopold Achilles

In großem Gegensatz dazu steht das bereits im mündlichen Urteil zusammengefasste Ergebnis des Gerichts. In der mündlichen Urteilsverkündung ist das Netzwerk mit einem Mal wieder zum „Trio“ geschrumpft ohne das irgendwie klar geworden wäre, wie das Gericht zu diesem Schluss gekommen sein will. 

Von den staatlichen Sicherheitsbehörden, insbesondere den Verfassungsschutzbehörden und der Frage ihres Wissens über den NSU war in der mündlichen Urteilsbegründung überhaupt gar nicht die Rede; die Angehörigen sind während der mündlichen Urteilsbegründung nicht einmal angesprochen und in ihrem Leid gewürdigt worden, welches ja doch auch wesentlich durch staatliches Verhalten gesteigert wurde. 

Es fehlte im Übrigen auch vollkommen an der Erwähnung der strukturell rassistischen Ermittlungen, die ja durchaus relevant für das Urteil waren, da diese rassistischen Ermittlungen durch das bewusste Schweigen des NSU zu den Taten ja bewusst mit ausgelöst und gefördert worden waren. Schließlich machten die niedrigen Strafen für die Angeklagten Eminger und Wohlleben auch fassungslos. 

Und wie ist die Sicht von Elif Kubaşık?

Gedenken am 12. Todestag von Mehmet Kubasik
Witwe Elif Kubaşık. Foto: Klaus Hartmann/Archiv

Elif Kubaşık hätte sich natürlich bereits während des Prozesses sehr viel mehr Antworten gewünscht, etwa  zur Frage einer Unterstützung des NSU in Dortmund, auf die viele Indizien hindeuten, oder zur Frage staatlichen Wissens bezüglich des NSU vor 2011.

Für sie war die mündliche Urteilsbegründung dann aber ein Schock. Richtigerweise hat sie nach etwa 2/3 der Urteilsbegründung den Saal verlassen, weil sie sich das nicht weiter anhören wollte.

Die Begründung mit den oben benannten Bestandteilen war für sie unerträglich und hat auch dazu geführt, dass sie faktisch am Tag des Urteils mit diesem Gericht abgeschlossen hat. 

Wurden alle Helfer*innen/Täter*innen im NSU-Umfeld angeklagt bzw. ermittelt?

Nein, weder – noch, und zwar bei weitem nicht. Selbst die wenigen noch geführten Ermittlungsverfahren werden wohl in absehbarer Zeit eingestellt werden. Das Netzwerk und seine Mitglieder werden weitestgehend unbeschadet durch die strafrechtlichen „Ermittlungen“ bleiben. Das ist eine Katastrohe für die Angehörigen der Mordopfer und die Anschlagsopfer und in Bezug auf die davon ausgehende Signalwirkung an die Naziszene. 

Warum werden die Akten zum NSU-Komplex nicht freigegeben? 

Strukturell ist von den Sicherheitsbehörden in all der Zeit versucht worden, den Zugang zu staatlichem Wissen zum NSU so weit wie möglich zu beschränken. Das ist zugleich ein Kern des Problems der mangelhaften und in Teilen ganz unterbliebenen strafrechtlichen „Aufklärung“. 

So hat auch die Bundesanwaltschaft während des Verfahrens vor dem Oberlandesgericht München versucht, so weit wie möglich die Verfassungsschutzbehörden und deren Wissen aus dem Verfahren herauszuhalten. Es gibt kein Interesse an einer transparenten Aufarbeitung staatlichen Wissens über den NSU. 

Dr. Walter Lübcke wurde ermordet. Foto: RP Kassel​

Die Recherchen zum Mord an dem Politiker Walter Lübcke am 2. Juni 2019 in Istha nahe Kassel habengezeigt, dass der Täter aus dem NSU-Umfeld stammt. Die Terroranschläge in Halle im Oktober 2019 sowie Hanau im Februar 2020 und die Gefahr von Prepper-Gruppen wie Nordkreuz, die Waffen und Munition horten, um sich für einen Bürgerkrieg aufzurüsten, zeigen die Gefährlichkeit von Rechtsextremisten. 

Wird Ihrer Meinung nach die rechte Gefahr durch die Sicherheitsbehörden unterschätzt? 

Offensichtlicher Weise wird auf Bundesebene konsequenter gegen die Bildung rechter terroristischer Vereinigungen vorgegangen. Allerdings ist in der Breite in Deutschland leider weiterhin kein konsequentes Vorgehen erkennbar.

Wie bewerten sie die Arbeit der Initiativen, die mit Demos und Gedenkveranstaltungen an die Opfer des NSU-Terrors erinnern und Forderungen an die Politik stellen, den NSU-Komplex aufzuklären?

Ich halte es für sehr wichtig, auf diese Art und Weise an die Opfer zu erinnern und damit zugleich weiter darauf zu verweisen, dass keine ausreichende Aufklärung der Taten und NSU Strukturen erfolgt ist. Wir haben darüber hinaus weiterhin die Hoffnung, mit der Zeit weitere Puzzleteile in Bezug auf den NSU zusammensetzen zu können. Dafür braucht es diese Aufmerksamkeit ebenfalls.

Nunmehr ist auch das schriftliche Urteil veröffentlicht worden. Wie ist Ihre Reaktion darauf?

Ali Şirin führte das Gespräch mit Carsten Ilius. Foto: Klaus Hartmann/Archiv

Die schriftliche Urteilsbegründung hat den verheerenden Eindruck der mündlichen Begründung noch einmal vertieft. Es gibt auch auf über 3.000 Seiten weiter kein Wort vom Verfassungsschutz im Urteil, es wird durchgehend die Triothese entgegen allen Erkenntnissen aus dem Verfahren hochgehalten, das Leid der Familien der Opfer als Folge der Taten findet keinerlei Erwähnung.

Wut und Fassungslosigkeit hat bei mir die Tatsache erzeugt, dass die Opfer im Urteil mit extremer Kälte genau so beschrieben werden, wie sie vom NSU gesehen wurden. So heißt es im Urteil „Aufgrund der durch sein Aussehen naheliegenden südländischen Abstammung gehörte Mehmet Kubaşık zu der von den drei Personen ausländerfeindlich-rassistisch definierten Opfergruppe“. In identischer Weise sind im Urteil alle aus rassistischen Motiven ermordeten Opfer beschrieben.

Elif Kubaşık hat in einer eigenen Stellungnahme nach dem schriftlichen Urteil deutlich gemacht, dass das Urteil keine Gerechtigkeit für sie gebracht hat, dass es letztendlich auf sie so wirkte, als sei ihr Mann für das Gericht nur eine Nummer gewesen, als ob es ihre Fragen nicht gegeben habe. Das ist alles sehr, sehr bitter.

Herr Ilius, vielen Dank für das Interview.

 

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