Von Claus Stille
Der „Talk im DKH“ ging in der Nordstadt am 22. Juni 2018 in die nächste Runde. Wegen einer parallel stattfindenden Veranstaltung diesmal nicht im Dietrich-Keuning-Haus Dortmund, sondern in der Aula des Helmholtz-Gymnasiums an der Münsterstraße. Der Direktor der Schule, Dr. Dirk Bennhardt, zeigte sich erfreut, die beliebte Gesprächsrunde in seinem Hause stattfinden lassen zu dürfen. Das diesmalige Thema: „Der Islam – eine missverstandene Religion?“ Bereits am Nachmittag, informierte der kommissarische Leiter des DKH, Levent Arslan, das Publikum, war darüber mit an die hundert SchülerInnen intensiv diskutiert worden.
Kaum ein Thema wurde in den letzten elf Jahren sooft in Talkshows „aufgerührt“ wie der Islam
Davon, dass das Thema mit ziemlicher Sicherheit kontrovers diskutiert werden würde, war auszugehen. Und zwar in doppelter Hinsicht: Bot allein schon der vielschichtig daherkommende Islam allerhand Stoff zur Diskussion, würde erst recht die Tatsache, dass zu diesem Talk mit der 1957 geborenen deutschen Muslima Rabeya Müller aus Köln eine Imamin eingeladen war, gewiss kritische Fragen aufwerfen.
Die zum Islam konvertierte Rabeya Müller bemerkte gleich zu Anfang ihres Referats kritisch, dass in zahlreiche Talkshows der letzten elf Jahre im deutschen Fernsehen kaum ein Thema – nicht selten in Verbindung mit dem Stichworten Integration oder Migration – sooft „aufgerührt“ worden sei wie der Islam. Das habe aber eben nichts mit dem Islam zu tun.
Müller sprach von einem für sie schmerzlichen Erlebnis während ihrer Studienzeit. Da sei sie einmal zu spät zu einer Vorlesung gekommen. „Da meinte der Professor, dass die Putzsachen weiter hinten wären.“ In den 1980er und 1990er Jahren allerdings habe sie durchaus miterleben dürfen, „dass sich das allmählich gelegt hat“. Irgendwie sei „der Islam zwar nicht akzeptiert in dem Sinne, aber auf Dauer war er halt einfach da.“
Mit 9/11 „war es plötzlich irgendwie so, als würde eine Welt zusammenbrechen“
Dann sei aber der 11. September gekommen. Rabeya Müller: „Da war es plötzlich irgendwie so, als würde eine Welt zusammenbrechen.“ Auch im interreligiösen Dialog, den man schon damals gepflegt habe. Damals habe sie etwas respektlos vom Tee-und-Börek-Dialog gesprochen.
Den diskutierenden Herren hätten seinerzeit die Damen Tee und Börek serviert und hinterher habe man dann festgestellt: „Es war nett, dass wir miteinander gesprochen haben.“ Nie sei es in irgendeiner Weise an die Substanz, „ans Eingemachte“, gegangen.
Nach 9/11 habe es allerdings doch Leute gegeben, „die denn interreligiösen Dialog, den Humanismus, Das-füreinander-verantwortlich-da-Sein ernst genommen hätten. Christen hätten damals Hilfe angeboten: „Wenn es euch dreckig geht und wenn ihr Angst habt – wir haben ein Ferienhäuschen, da könnt ihr ein paar Wochen untertauchen.“
Als Musliminnen gegen Gewalt demonstrieren, bricht der WDR die Berichterstattung ab
Und Müller erinnert sich an eine Demonstration vieler muslimische Frauen aus ihrem Zentrum, welche „gegen diese Gewaltakte“ der Terroristen gerichtet war. Der WDR, der filmte, habe genau in dem Moment die Kamera ausgemacht, als die Musliminnen ins Bild kamen. Müller: „Jetzt kann man von natürlich von Verschwörungstheorie reden. Aber ich glaube das fing an, sich immer weiter fortzusetzen.“
Moderator Aladin al-Mafaalani hatte eingangs davon gesprochen, was sich in unserer Gesellschaft nach 9/11 zu entwickeln begann: Eine diffuse Angst vor einer Islamisierung – bis hin zu Erscheinungen wie PEGIDA und AfD. In der islamischen Welt dagegen beklage man eine „Verwestlichung“. In Indien, wo Mafaalani weilte, gar grassiere beides.
Der Soziologe vertrat in der Diskussion dann die Ansicht, dass Muslime heute hierzulande noch nie so gut integriert seien wie heute, aber ein kleiner Teil von ihnen gleichzeitig noch nie so schlecht integriert gewesen sei. Auch sei Intellektualität noch nie so extrem gut wie heute. Rabeya Müller erklärt dazu, wir litten heute unter der verfehlten Integrationspolitik der 1980er und 1990er Jahre.
Rabeya Müller: Ein Satz wie „Der Islam gehört nicht Deutschland“ hat eine tiefe Wunde gerissen
Viele Muslime hätten die Staatsangehörigkeit und zahlten hier ihre Steuern. Dennoch stoße man sie immer wieder vor den Kopf. Und in unseren Tagen habe ein Satz wie „Der Islam gehört nicht zu Deutschland“ – „einfach eine tiefe Wunde gerissen“.
Rabeya Müller: „Was sollen dann aber meine Kinder und Enkelkinder, gebürtige deutsche Muslime, machen? Ihr ältester Sohn habe ihr einmal gesagt: „Das ist ein schmaler Grat, entweder in irgendeiner Weise zu versuchen, sich zurechtzufinden, oder sich zu radikalisieren.“
Die Imamin weiter „Er hat es als seinen persönlichen Dschihad betrachtet, sich nicht zu radikalisieren.“ Die Kinder ihres Sohnes hätten aber plötzlich mit den gleichen Vorurteilen zu tun gehabt, wie er einst. Ein Enkel der Imamin sei aus der Schule nachhause gekommen und habe berichtet: „Die sagen, ich kann nicht Deutscher sein, weil ich Muslim bin.“
„Schwäbisches Kraftwerk“ sorgt zum wiederholten Maße für köstliche Unterhaltung
Comedian Özcan Coşar klinkt sich ein und beklagt, dass man etwa seine Tochter im Kindergarten noch immer unter „die türkischen Kinder“ einordne. Als positives Beispiel führte der Künstler Finnland an. Dort, so habe er gelesen, nenne man zugezogene MigrantInnen vom ersten Tage an „Neufinnen“.
Die erfolgreichsten Gymnasien in Europa befänden sich in Finnland. Dort hätten achtzig Prozent der Kinder einen Zuwanderungshintergrund. Nebenbei bemerkt: Am Helmholtz-Gymnasium lernen 80 Prozent Muslime, wie Aladin al-Mafaalani sich erkundigt. Der Comedian wirft die Frage ein: „Wo ist das Minarett?“
Mit originellen, die Lachmuskeln der BesucherInnen strapazierenden Comedy-Beiträgen verstand Özcan Coşar, bekannt als „Schwäbisches Kraftwerk“, das Publikum zum wiederholtem Mal beim „Talk im DKH“ köstlich zu unterhalten.
Zijah Jusufovic: Wie kann man im Namen Gottes ein Kind Gottes töten?
Der gebürtige Bosnier und Künstler Zijah Jusufovic, der während des Krieges in Jugoslawien in der BRD lebte, dann wieder in die Heimat gegangen war, um wegen einer dort festgestellten Radikalisierung seiner Landleute jetzt fest hier zu leben, brachte seine Sicht auf den Islam feinfühlig und „ganz aus seiner Sicht“ zu Gehör.
„Allahu Akbar“ sei für ihn „das schönste Wort“. Heute werde das Wort jedoch von Terroristen zum Töten missbraucht. Wie könne man im Namen Gottes ein Kind Gottes töten? Algebra etwa sei im Namen dieses Gottes erfunden worden. Kaffee sei so erfunden worden. Chirurgie sei erfunden worden, um den Menschen zu helfen. „Zum Leben retten. Nicht zum Töten. Universitäten zum Weiterbilden. Nicht zum Töten.
Jedem dieser Themen hat Zijah Jusufovic ein Bild entgegengestellt. Bei Algebra etwa: „Algebra erfinden – ALLAHU AKBAR – oder töten“, darunter drei Patronen.
Die Rechten glichen in ihrem Denken nicht zuletzt dem der islamistischen Terroristen, stimmte Özcan Coşar zu. Burka-Verbote – ob man diese Bekleidung nun mag oder nicht – und dazu die ganze Hetze in den Medien vergifteten die Gesellschaft. Muslimische Jugendliche fühlten sich provoziert und reagierten nicht weniger fragwürdig. Alle müssten wir hier in Deutschland näher zusammenrücken – zusammenleben. Auch um Vorurteile auszuräumen.
Rabeya Müller: Die einen wissen zu wenig über ihre Religion …
Das Problem, das so viele ihrer muslimischen Geschwister hätten, sei, so Rabeya Müller, dass sie so hilflos Angriffen gegenüberstünden, weil „wir viel zu wenig über unsere eigene Religion wissen“. Und, dass man sich untereinander viel zu wenig auseinandersetze.
Ebenfalls dringend in Richtung Mehrheitsgesellschaft gab die Imamin zu bedenken: „Wir müssen aufhören, täglich Probleme zu theologisieren.“ Ein Verbrechen sei ein Verbrechen. Dafür gebe es ein Strafgesetzbuch. Muslime wie Nicht-Nichtmuslime müssten aufhören, sich gegenseitig als Problem zu betrachten. Es gelte Hand in Hand zu gehen. Das Grundgesetz sei gut und dahinter müssten wir alle stehen.
Gerade die dritte und vierte Generation muslimischer Jugendlicher hierzulande lebte „in einer islamischen Erziehung, die weitestgehend geprägt ist von Tradition“. Die jedoch hätten oft nichts mit der Religion zu tun, von der sie oft so gut wie keine Ahnung hätten.
… die anderen haben nie einen Blick ins Grundgesetz geworfen
Wie übrigens – bemerkte die Imamin am Rande – auch diejenigen in unserer Gesellschaft, die immer davon schwafelten, unsere Verfassung müsse geschützt werden, zumeist aber nie einen Blick ins Grundgesetz geworfen hätten.
Und junge Muslime zögen sogar von Europa aus in einen – wie sie meinen zur Verteidigung ihrer Religion und zum Schutz des Koran – Heiligen Krieg, ohne zu wissen, was im heiligen Buch der Muslime stünde.
Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Meinungen innerhalb eigener Religionsgemeinschaft
Die Imamin macht klar: „Wir haben innerislamisch einfach wirklich den Auftrag, uns auch mit unterschiedlichen Meinungen innerhalb unserer eigenen Religionsgemeinschaft auseinanderzusetzen.“
Die Ereignisse der Silvesternacht von 2015 in Köln im Hinterkopf habend, habe man anzustoßen versucht mit anderen muslimischen Gruppierungen etwas Vernünftiges über das Frauenbild im Islam zu veröffentlichen. Die hätten freilich vorwiegend aus Männern bestanden und die überhaupt kein Interesse daran. Stichwort: Ängste vor Machtverlust.
Als Müller von ihrer Gemeinde zur Imamin gewählt worden war, erzählt sie, tauchte ein Bild von ihr im Netz auf, wo Männer hinter ihr beteten und löste einen Aufschrei aus. Rabeya Müller dazu: „So als hätten wir ein Verbot von Frauen in Ämtern, als hätten wir eine Ordination, die das verbietet.“
Konsequent liberale Auslegung des Islam: Was nicht verboten ist, ist erlaubt
Just in dem Augenblick, da Rabeya Müller über Frauen als Imaminnen sprach, machten sich zwei männliche Jugendliche in der ersten Reihe eifrig Notizen, beziehungsweise studierten Texte (vermutlich aus dem Koran) auf einem Smartphone.
Warum, wurde in der Fragerunde klar: Sie forderten von Rabeya Müller, sie möge doch die Hadith (Erzählung, gesammelte Aussprüche, die dem Propheten Mohammed zugeschrieben werden) nennen, welche Frauen als Imaminnen gestatte.
Da hatten die Schüler des Immanuel-Kant-Gymnasium und des Stadtgymnasiums die Imamin zunächst gewissermaßen auf dem falschen Fuße erwischt. Ja, so Müller, diese Hadith gebe es auf Arabisch, doch im Moment habe sie die nicht griffbereit. Überdies sei es im Islam so, dass sie nicht beweisen müsse, dass etwas erlaubt, sondern ihr müsse umgekehrt nachgewiesen, dass etwas verboten sei.
Der Koran erlaubt nicht nur Imaminnen, sondern gestattet sie explizit
Moderator al-Mafaalani hatte seine liebe Not, die eifrigen Jugendlichen, die dieses Argument offenbar nicht verstanden hatten, daher weiter nachbohrten und Beweise aus dem Koran einforderten, dass es Imaminnen geben dürfe, in ihrer Hartnäckigkeit zu stoppen.
Ein kleiner Eklat. Rabeya Müller wiederum wollte es nicht hinnehmen, dass ein 15-Jähriger ihre Reputation infrage stellt. Der Schüler zog sich vorlaut auf das Recht auf „Meinungsfreiheit“ zurück.
Comedian Özcan Coşar hatte übrigens noch die entsprechende Stelle im Koran zu weiblichen Vorbetern gefunden. Die beiden jungen Muslime indes waren bereits gegangen.
Sich über andere zu erheben, wegen ihres Glaubens oder ihrer Herkunft, ist von Übel
Die Imamin gab etwas Grundlegendes zu bedenken: „Sich besser zu fühlen als jemand anderes, als ein Mensch ein anderer Hautfarbe, als ein Mensch einer anderen Religion, des anderen Geschlechts, eines anderen sozialen Status – das heißt laut Koran nach dem satanischen Prinzip zu handeln.“
In diesem Sinne denke sie, „dass es sehr viele Leute gibt, die versuchen Musliminnen und Muslime zu diskriminieren und den Islam zu diskreditieren – etwas wogegen wir uns gemeinschaftlich wehren sollten.“ Und zwar egal, ob man immer einer Meinung sei oder eben unterschiedliche Ansichten habe.
Sie kritisierte, dass manche „in den muslimischen Reihen“ immer forderten, wir müssten die Scharia einführen und so leben wie zu Zeiten des Propheten: „Ich finde das immer etwas schade, weil die Leute, die das hauptsächlich behaupten, immer im Auto kommen statt auf’m Kamel.“
Scharia, der Weg zur Quelle – erreichbar nur gegen den Strom schwimmend
Es sollte gewusst werden, dass Scharia „Der Weg zur Quelle“ heißt und eben nicht islamisches Recht, wie immer wieder gesagt würde. Rabeya Müller unterstrich und bat darum Folgendes nicht zu vergessen: „Wer mit dem Strom schwimmt, also durchaus traditionell – Mainstream – der erreicht die Quelle nie.“
Die Muslime müssten endlich aufhören, Jugendliche in eine Zwickmühle zu bringen, sich zu entscheiden: entweder „anständige“ Musliminnen und Muslime zu sein, oder in dieser verwestlichten Welt zu leben. Dafür habe der Koran in Sure 10 Yunus (Jonas) einen sehr guten Ratschlag parat: „Gott ist wütend über die, die ihren Verstand nicht benutzen.“
In der Diskussion auf dem Podium machte Rabeya Müller auch mehrfach deutlich, dass der Koran immer auch aus der Zeit seiner Entstehung heraus verstanden werden müsse. Was u.a. auch Aufrufe zur Gewalt und die Tötung von Ungläubigen – wie immer wieder von Islamkritikern ins Feld geführt – beträfe. Dies habe zu Mohammeds Zeit nur gegolten, wenn man angegriffen wurde.
Der Koranvers, der angeblich erlaubt, Frauen zu schlagen, kann anders ausgelegt werden
Als Frauenzentrum habe man auch sehr intensiv über den Koranvers 4:34 gearbeitet, „der ja“, so die Imamin, „angeblich das Schlagen von Frauen legitimiert“. Da habe es muslimische Männer gegeben, die froh wären, nicht zu einem Geschlecht gehören, das schlagen darf.
Die meisten jedoch hätten sich trotzdem geziert – „geärgert darüber, dass man Frauen nicht schlagen darf?“, interpretiert Aladin al-Mafaalani, und Imamin Müller bejaht. Schließlich könnte der Vers auch dahingehend ausgelegt werden, dass man getrennter Wege geht, wenn man sich gestritten hat und nicht mehr zusammenfindet.
In der Fragerunde machte sich eine künftige Lehrerin Sorgen, dass ein Zu viel an Integration auch Probleme aufwerfe. Als Beispiel nannte sie eine Begebenheit auf einem Dortmunder Amt.
Da hatte sich ihr gegenüber ein Mann darüber erregt, dass die Angestellte am Schalter Kopftuch trug. Würde man ihr als Lehrerin mit Migrationshintergrund etwa wegen ihrer schwarzen Haare auch mit Vorbehalten entgegentreten?
Fazit der Akteure: Nach kontroverser Diskussion hoffnungsvolle Aussichten
Trotz zuweilen kontroverser Diskussion während diesem „Talk im DKH“ wurde auf dem Podium auch der Hoffnung Ausdruck verliehen, dass nicht zuletzt hinsichtlich des diskutierten Themas „Der Islam – eine missverstandene Religion?“ in Zukunft durchaus ein positiver Trend erwartbar erscheint. So Aladin al-Mafaalani aus einem Blick in die Vergangenheit heraus schließend.
Mehr Geschichtsunterricht mahnte Imamin Rabeya Müller an. Und Comedian Özcan Coşar erwartet mehr gegenseitigen Respekt – auch wenn jemand anderer Meinung sei. Özcan Coşar erachtete es für ebenfalls wichtig auch mit AfD-Anhängern zu sprechen. Ansonsten fühlten die sich nur in ihrer Sicht bestätigt. Das Fazit von Zijah Jusufovic ist ebenfalls positiv: „Ich glaube, wir sind auf einem guten Weg.“
Weitere Informationen:
Rabeya Müller war eine der ersten Imaminnen in Deutschland. Sie ist Religionspädagogin, Islamwissenschaftlerin und Theologin. Mehrfach ausgezeichnet, u.a. Trägerin des Toleranzrings der Europäischen Akademie der Wissenschaften und Künste. Gemeinsam mit anderen AutorInnen hat sie 2008 den Europäischen Schulbuch-Award der Frankfurter Buchmesse gewonnen.