Nachdenklich schaut Barbara Samuel auf die verzeichneten Namen auf der Stadtbahn. Es sind die Namen von 1.973 Dortmunder Holocaust-Opfern. Johanna, Siegfried und Erna Samuel hat sie gefunden. Ihre Großeltern und ihre damals 17-jährige Tante. Sie wurden ins KZ Riga deportiert und von den Nazis ermordet. Kennengelernt hat die Dortmunder Jüdin ihre Verwandten nie. Ihr Vater war der einzige Überlebende. Ein Teil ihrer Verwandten wurde auf der Bahn „verewigt“: An sie und viele weitere Dortmunder Opfer gedenkt DSW21 mit der #WeRemember-Bahn.
Ein Großteil der 5200 Jüdinnen und Juden aus Dortmund wurde zu Opfern
Anlässlich des 80. Jahrestages der Deportation nach Auschwitz fährt künftig eine besondere Stadtbahn durch Dortmund, mit der die Erinnerung in den Alltag getragen wird. „Auf der Bahn befinden sich 1.973 namentlich bekannte ermordete Jüdinnen und Juden aus Dortmund. Das sind 1.973 individuelle Persönlichkeiten und Geschichten und ich hoffe, dass die Bahn auch viele Menschen in der heutigen Stadtgesellschaft anregt, sich mit diesen auseinander zu setzen“, betont Daniel Lörcher.
„Vor der Machtübertragung an die NSDAP lebten in Dortmund rund 5.200 Jüdinnen und Juden. Bereits im Jahr 1942 wurden in drei großen Deportationen nach Riga, Zamosc und Theresienstadt Jüdinnen und Juden aus Dortmund und dem Regierungsbezirk Arnsberg deportiert“, erinnert der Mitbegründer der „what matters gGmbH“, die sich der Arbeit gegen Rassismus, Antisemitismus und Diskriminierung verschrieben verschrieben hat.
Doch es sind nicht die einzigen Opfer: „Hinzu kommen viele Jüdinnen und Juden, denen zwar die Flucht beispielsweise in die Niederlande, nach Belgien oder Frankreich gelang, die dann aber über die antisemitische Verfolgung dort verhaftet, deportiert und ermordet wurden“, erinnert der langjährige BVB-Mitarbeiter, der zahlreiche Gedenkstättenfahrten und Bildungsangebote organisiert hat.
Vor 80 Jahren wurden hunderte Dortmunder:innen nach Auschwitz deportiert und ermordet
Der 2. März 1943 markiert einen traurigen Tag in der Geschichte der Stadt Dortmund und in der Geschichte der Dortmunder Stadtwerke. Von einem Sammellager in der Gaststätte „Deutsches Haus“ in Brackel wurden in den frühen Morgenstunden ungefähr 300 Jüdinnen und Juden aus Dortmund und Westfalen mit der Straßenbahn zum Südbahnhof gebracht.
Gemeinsam mit 200 weiteren Jüdinnen und Juden aus dem Südwesten des Reiches und dem Rheinland, die am Tag zuvor Dortmund erreicht und die Nacht am Schlachthof verbracht hatten, wurden sie in das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau deportiert.
Die meisten Dortmunder:innen aus diesem Transport wurden in den Gaskammern von Birkenau ermordet. Nur sehr wenige überlebten den Holocaust und konnten später der Nachwelt über ihr Leid berichten. Auch davon, wie sie in Straßenbahnwagen der Dortmunder Stadtwerke über den Hellweg bis zum Ostentor gefahren wurden und von dort aus das letzte Wegstück bis zum Südbahnhof zu Fuß zurücklegen mussten.
Das Ziel der Gedenkbahn: „Die Erinnerung in den Alltag tragen“
Anlässlich des 80. Jahrestages dieser Deportation von Dortmund bekennt sich DSW21 mit einer »Erinnerungsbahn« der Mitverantwortung. Unter dem Titel der vom Jüdischen Weltkongress (WJC) initiierten Kampagne #WeRemember trägt die Bahn die Namen aller namentlich bekannten 1.973 Dortmunder Jüdinnen und Juden, die im Holocaust ermordet wurden.
„Die offiziellen Gedenktage erreichen häufig nur eine bestimmte Zielgruppe. Gedenksteine wiederum sind an Orte gebunden, die man kennen muss. Diese Bahn trägt die Erinnerung in den Alltag und schafft mit dem Blick auf die Dortmunder Geschichte eine Anknüpfung an die Lebenswelt der Menschen“, sagt Harald Kraus.
„Sie kann Bürgerinnen und Bürgern den Anstoß geben, sich mit der Geschichte zu beschäftigen und sie eröffnet die Möglichkeit, weiterführende Informationen über den historischen Kontext und die deportierten Jüdinnen und Juden zu erhalten“, betont der Arbeitsdirektor von DSW21, als er sichtlich bewegt die Erinnerungsbahn vorstellt.
Zu diesem Zweck ist ein QR-Code an mehreren Stellen im Design integriert, der auf die Internetseite www.deportationen-dortmund.de führt. „Wir erleben derzeit auf vielen Ebenen, dass die Geschichte des Holocaust verzerrt und verfälscht wird. Zum Beispiel auf Demonstrationen oder im Internet. Dagegen hilft nur eine Auseinandersetzung, die anhand von ganz konkreten Beispielen die Dimension dieses schrecklichen Verbrechens vermittelt. Dazu möchten wir einen Beitrag leisten.“
Die Stadtwerke waren ein Rädchen in der Nordmaschinerie der Nazis
Dies unterstreicht der geschäftsführende Vizepräsident des Jüdischen Weltkongresses, Maram Stern: „80 Jahre nach den historischen Ereignissen stehen wir vor der Herausforderung, die Erinnerung an den Holocaust langfristig zu sichern. In einer sich verändernden Welt müssen wir dafür neue Wege gehen. Es ist gut zu sehen, dass sich ein Unternehmen wie die DSW21 als Akteur dieser zukünftigen Erinnerung sieht und mit dem Beispiel der Stadtbahn vorangeht. Ich wünsche mir mehr vergleichbare Aktivitäten.”
Hervorgehoben wird mit dem Projekt auch die Alltäglichkeit von Mittäterschaft. Der Transport der Jüdinnen und Juden in Straßenbahnwagons zeigt, wie verschiedene Personengruppen und Institutionen in den Prozess von Ausgrenzung, Verfolgung, Raub und Deportation eingebunden waren. Deswegen sind auf der Stadtbahn auch Zitate von zwei der Deportierten zu lesen.
Hans Frankenthal erinnerte sich wie folgt an den 2. März 1943: „Auf dem Brackeler Hellweg – wieder am helllichten Tag – mussten alle Juden in Straßenbahnwagen einsteigen, die sie bis zum Ostentor brachten. Von dort ging die Kolonne ungefähr einen Kilometer zu Fuß bis zum Südbahnhof.“ Und Ernst Lion berichtete: „Am nächsten Morgen wurden wir in Straßenbahnwaggons zum Südbahnhof transportiert, da der Hauptbahnhof außer Betrieb war. Dort wartete bereits ein Zug auf uns.“
Die Dortmunder Stadtwerke lassen ihre Rolle in der NS-Zeit aufarbeiten
Schilderungen, die zeigen, dass auch die Dortmunder Stadtwerke ein Rädchen im Getriebe waren: „Wir haben daher im Vorstand von DSW21 beschlossen, nicht nur diese Bahn dauerhaft fahren zu lassen“, so Harald Kraus. „Wir werden darüber hinaus einen Historiker beauftragen, die Rolle der Stadtwerke in der NS-Zeit wissenschaftlich aufzuarbeiten.“
Das Engagement für die Holocaust-Erinnerung ist für DSW21 aber nichts, das allein in die Vergangenheit ausgerichtet ist. „Ganz im Gegenteil“, so Kraus. „Aus dem Gedenken erwächst eine Verantwortung für Gegenwart und Zukunft. Seit Jahren beobachten wir zunehmenden Antisemitismus in unserer Gesellschaft. Dieser Entwicklung wollen wir mit aller Konsequenz entgegentreten! Durch Information, Aufklärung und mit klaren Vorgaben für die Unternehmenskultur.“
DSW21, DEW21/DONETZ und die Entsorgung Dortmund GmbH (EDG) haben 2021 gemeinsam mit Borussia Dortmund und dem Deutschen Fußballmuseum erstmals ein Bildungsprogramm für Auszubildende angeboten. „Von Dortmund nach Auschwitz“ ist der Titel. Zu den Modulen gehört neben der Spurensuche in Dortmund auch eine einwöchige Bildungsreise nach Oświęcim in Polen in die staatliche Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau.
Erinnerung an den Zivilisationsbruch der Shoa und die Nazi-Verbrechen
Die Teilnehmenden setzten sich zudem mit gegenwärtigen Formen des Antisemitismus, Rassismus sowie Antiziganismus auseinander und agieren innerhalb des Unternehmens nun als wichtige Multiplikatoren. Außerordentlich dankbar ist Harald Kraus, dass durch das Projekt auch ein Kontakt zur jüdischen Gemeinde in Dortmund entstand und ihre Vertreter nun in das Projekt der Stadtbahn eingebunden werden konnten.
Die Eindrücke der ersten Auflage des Bildungsprogramms waren derart nachhaltig, dass die kommunalen Unternehmen beschlossen haben, dieses Angebot auch künftigen Auszubildenden zu machen und im nächsten Schritt auf alle Beschäftigten auszuweiten. Am 13. Februar fand bereits das Auftakttreffen für das Jahr 2023 statt.
„Die Erinnerung an den Zivilisationsbruch der Shoa und die Auseinandersetzung mit den Verbrechen des Nationalsozialismus sind wichtige Beiträge zur Demokratiebildung und im Kampf gegen Antisemitismus und Rassismus“, betont Zwi Rappoport.“
„Daher begrüße ich die Initiative der Stadtwerke, ihre eigene Geschichte während der NS-Zeit aufzuarbeiten und dies mit konkreten Bildungsprojekten für ihre Mitarbeiter und dem Vorhaben einer »Erinnerungsbahn« zu verbinden“, so der Vorsitzende der jüdischen Gemeinde.
Er verwies auf eine aktuelle Studie der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung, Zukunft“, die zwar einerseits große Wissenslücken zur Zeit des Nationalsozialismus und der Judenverfolgung offenbart habe.
Doch auch positive Zeichen konnte Rappoport vermelden: 82 Prozent der jungen Leute hielten die NS-Zeit für ein wichtiges Kapitel deutscher Geschichte. Und 76 Prozent halten nichts von der Forderung, man müsse endlich einen Schlussstrich ziehen. Damit wiedersprächen die Jungen klar den Alten.
Berechtigte Sorgen vor erneut aufkeimendem Antisemitismus
Das freut auch Barbara Samuel. Ihr ist wichtig, dass vor allem junge Menschen mehr über die NS-Zeit erfahren wollen. Ein Baustein kann dabei die Gedenkbahn sein.
„Ich erhoffe mir, dass mehr Menschen auf das Thema aufmerksam werden und dass sie tiefer in die Materie einsteigen“, sagte sie mit Blick auf den QR-Code, mit dem die Menschen – vielleicht in der Bahn sitzend oder auf den nächsten Zug wartend – tiefer in das Thema einsteigen.
Die Shoa ist für sie ein prägendes Thema. Sie hat acht Konzentrationslager besucht und auch Jugendbegegnungen zum Thema organisiert. Doch mit ihrem Vater konnte sie nicht darüber sprechen. Er wurde seinerzeit in Theresienstadt befreit, ging nach Leipzig und kehrte 1950 nach Dortmund zurück.
Er war der einzige Überlebende seines Familienzweigs. Von den anderen fehlt teilweise jede Spur. Auch eine Suchanfrage beim Roten Kreuz blieb erfolglos. „Er musste seine Eltern für tot erklären lassen“, sagte Barbara Samuel mit leiser Stimme. Erfahren hat sie das aus Wiedergutmachungsakten. Viel mehr weiß sie nicht.
Zuletzt hatten die Großeltern in einem „Judenhaus“ in Dortmund-Deusen gelebt, bevor sie deportiert wurden. Geblieben sind nur einige wenige Bilder und einige Aktenvermerke. Sie finden sich im Dortmunder Gedenkbuch.
Außerdem konnte sie in Erfahrung bringen, dass ihr Onkel Dagobert, ein Berufsmusiker, mit seiner Frau nach Belgien geflohen war. Er wurde ausgebürgert und kam dort unter mysteriösen Umständen ums Leben. „Von meinen vielen Cousins und Cousinen weiß ich nichts genaues. Meine Eltern haben darüber nicht gesprochen“, bedauert sie heute. Ich habe keine Cousins oder Cousinen, wo ich hätte Kontakte aufbauen können.“
Sie hofft, dass sich das Geschehene von damals nicht wiederholt und niemand sonst mehr dieses Schicksal erfahren muss. Wie viele Jüdinnen und Juden macht sie sich wegen des immer stärker aufkeimenden Antisemitismus Gedanken. Nachdenklich blickt sie im Nieselregen daher der Gedenkbahn nach. „Ich erhoffe mir, dass diese Bahn nicht mit rassistischen und nationalsozialistischen Schmierereien verunstaltet wird und die Bahn stattdessen mehr Dortmunder Bürger für diese Geschichte interessiert.“
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Reader Comments
Ingo St.
Die Dortmunder Quellenlage ist diffus. Anderswo wird vom Gasthof Gerold am Brackeler Hellweg und 1000 Personen aus Dortmund und dem Umland des Regierungsbezirks Arnsberg geschrieben. Gegenüber der Kirche Brackel ist eine Gedenktafel. Die Fenster der Strassenbahnen sollen zugeklebt gewesen sein.
Im Buch „Die Judendeportationen aus dem Deutschen Reich 1941-1945“ von Alfred Gottwaldt und Diana Schulle ist für diesen Tag ein Zug Stuttgart-Trier-Düsseldorf-Dortmund dokumentiert, wo insgesamt 1.500 Personen am 2.März in Auschwitz angekommen waren und nur 150 den Arbeitslagern zugewiesen wurden.
An anderer Stelle wird ein SS-Führer aus seinem Gerichtsverfahren zitiert, das ihm 4 bis 6 Güterwagen für 300 Personen zur Verfügung standen.
Üblicherweise wurde in Dortmund als Sammelstelle gegenüber der Steinwache die Gaststätte „Zur Börse“ neben dem Schlachthof genutzt.
Klaus Winter
Die Idee, eine Stadtbahn als Erinnerungsbahn im Sinne der #WeRemember-Kampagne zu gestalten, finde ich toll. Und ebenso gut finde ich es, dass die Rolle der Stadtwerke in der NS-Zeit von einem Fachmann aufgearbeitet werden soll. Auf das Ergebnis bin ich schon jetzt sehr gespannt!
Es gibt allerdings auch andere städtische Betriebe, von denen ich mir eine solche Initiative wünschen würde. Warum zum Beispiel war der Vorstandsvorsitzende der Stadtsparkasse zu Dortmund im Sparkassenjubiläumsjahr 1941 Standartenführer? Warum trugen sechs von sechs ordentliche Vorstandsmitglieder und drei ihrer Stellvertreter Uniform? Nur drei Stellvertreter sind im Jubiläumsband in Zivil abgebildet – und jeder dieser drei trägt ein Abzeichen, das nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges nicht mehr so demonstrativ zur Schau gestellt wurde.