Klappt irgendwas bei der Erziehung der Kinder nicht, gibt es besondere Stresssituationen in der Familie – etwa, wenn die Eltern sich trennen – oder haben Kinder bzw. Jugendliche einfach nur Redebedarf oder benötigen andere Hilfen – dann gibt es, über die Stadt verteilt, Erziehungsberatungsstellen mit ihren niederschwelligen Angeboten. Seit nunmehr 70 Jahren arbeiten sie in Dortmund zur Unterstützung von Familien und/oder jungen Menschen in Not – heutzutage vorzugsweise in vielen Fällen systemisch. Mit einer kleinen Veranstaltung im Rathaus haben sich Akteure die gesellschaftliche wie kommunale Bedeutung solcher Beratungsangebote vergegenwärtigt, ohne dabei ihre etwas holprige Geschichte in den Anfängen der Republik auszublenden.
Kinder und Jugendliche nach 1945 in Dortmund: häufig orientierungslos bei ihren alleinerziehenden Müttern
So unterirdisch die ersten Jahre der Dortmunder Nachkriegszeit gewesen sein mögen, so im Wortsinne die Anfänge der Erziehungsberatung in der Stadt. In zwei Kellerräumen des Sozialamtes an der Luisenstraße, dem das Jugendamt damals zugeordnet war, begannen bereits 1948 frühe Anstrengungen um Hilfen bei jener mittlerweile in Verruf geratenen „Aufzucht“ einer Kriegsgeneration, die nach dem NS-Trauma und den Gründungsgedanken der Bundesrepublik keine mehr seien sollte.
Sondern vielmehr ein behütendes Bemühen zur Schaffung von Entfaltungsmöglichkeiten einer heranwachsenden Persönlichkeit – immerhin mutatis mutandis als erstes Grundrecht eines jeden im Grundgesetz festgeschrieben.
Doch gute Absichten allein reichen nicht, Holprigkeiten der noch zarten staatlichen Sorge um das Familienwohl beim Umgang mit den Jüngsten waren nahezu unausweichlich – wie Alfred Hennekemper, Leiter des Psychologischen Beratungsdienstes im Dortmunder Jugendamt, in seiner „Zeitreise“ durch die Geschichte der kommunalen Erziehungsberatung an mehreren Beispielen veranschaulicht.
Zunächst ging es um jene, die zuvor nie eine wirkliche Kindheit leben durften – im Drill zur Nachwuchsformung einer „Herrenrasse“ und zum willenlosen Kanonenfutter beim Versuch der Verwirklichung von totalitären Machtansprüchen. – Da blieben sie plötzlich zurück, in den Trümmern des unmenschlichen Wahns, aber ihr Herz schlug: häufig traumatisierte Kinder und Jugendliche, die jetzt vorwiegend bei alleinerziehenden Müttern aufwachsen, schlecht ernährt, desorientiert nach dem Zusammenbruch und ohne Vater an ihrer Seite, der vielleicht mehr hätte erklären können.
Dortmunder Erziehungsberatung in den ersten Stunden der Bundesrepublik nicht frei von Nazi-Vergangenheit
In einem ersten Presseartikel über die neue Einrichtung in der Luisenstraße wird unter der Überschrift „Jugendamt hilft ratlosen Eltern“ ein Psychologe namens Dr. Lehmann zitiert, der jeweils samstags für einige Stunden Beratung anbietet. Sein Duktus bedient unter anderem Stereotype, die noch einige Jahre zuvor genauso anstandslos durchgewunken worden wären wie 1948 – wenn er etwa als eine wesentliche Ursache für Erziehungsschwierigkeiten, die ihm bei seiner Tätigkeit begegnen, Verwöhnung durch Mütter, daher Verweichlichung und überhöhtes Anspruchsdenken bei Kindern ausmacht.
Die Nachfrage ist groß, es wird ein hauptamtlicher Mitarbeiter angestellt. Erster offizieller Leiter der Beratungsstelle ist seit Anfang der 50er Jahre bis 1959 der Psychologe Dr. Wilhelm Mitze. Der war, wie Alfred Hennekemper berichtet, zwischen 1937 und 1945 angestellt bei der kriminologischen Prüfstelle der Kriegsmarine. In einer heute noch erhältlichen Veröffentlichung seines Ur-Vorgängers, so Hennekemper irgendwie ernüchtert, würde die individuelle Berufswahl mit der sog. „Rassenauslese“ in einen Zusammenhang gebracht.
Nach seiner Ernennung zum Regierungsdirektor und Ministerialrat 1966 bzw. 1968 beendet Mitze seine Karriere schließlich als Leiter des Referates für Wehrpsychologie im Verteidigungsministerium der Bundesrepublik (näheres: s.u.). Keine sehr günstigen biographischen Voraussetzungen für den Chef einer Beratungsstelle, der es um Kindes- und Familienwohl bestellt ist.
Aber so war’s damals: Hauptanliegen der Alliierten ist eine BRD als antikommunistisches Bollwerk; da konnte auf die alten Eliten – gleich, ob mit oder ohne Nazi-Vergangenheit – solange schlecht verzichtet werden, wie nicht mehr zu verheimlichen war, dass sie sich im Feuereifer für des Führers Ziele etwas zu krass die Finger beschmutzt hatten.
Heute sind in Dortmund zwölf Beratungsstellen über die ganze Stadt mit über 60 MitarbeiterInnen verteilt
Etwas heller wird es mit Blick auf die Landesrichtlinien in NRW zur Erziehungsberatung von 1951, wenn dort, bedingt durch die Kriegsfolgen, von „Haltlosigkeit bei Jugendlichen, Unsicherheit und erzieherischer Hilflosigkeit der Eltern“, deren Verunsicherung, von fehlender Erziehungskraft oder -bereitschaft die Rede ist.
Einige Aspekte hätten bis heute Gültigkeit, bedeutet Friedhelm Sohn, Vorsitzender im Stadtratsausschuss für Kinder, Jugend und Familie, anstelle der kurzfristig für höhere Aufgaben gen Brüssel geschickten Stadträtin Daniela Schneckenburger.
Grundsätze des Beratungsangebotes der Stadt sind dessen Kostenfreiheit und Vertraulichkeit; die Beratung ist individuell, unbürokratisch und fachlich möglichst qualifiziert. Eingerichtet ist sie gegenwärtig in Dortmund dezentral mit zwölf Beratungsstellen – vier freier Träger und acht seitens des Jugendamtes – die sich über das gesamte Stadtgebiet mit über 60 angestellten Fachkräften verteilen.
Vier zusätzliche Stellen hätten nun über den Stadtrat in diesem Zusammenhang gesichert werden können, freut sich Friedhelm Sohn; 2019 könne hier mit der Arbeit begonnen werden. Das ist freilich kein Zufall: Das potentielle wie faktische Handlungsspektrum des staatlichen oder von Wohlfahrtsverbänden getragenen Engagements fürs Familienwohl hat sich signifikant erweitert, Schwerpunkte verschieben sich.
Neue Herausforderungen: Erweiterung des Aufgaben- und Handlungsspektrums von Beratungseinrichtungen
Als „Psychologischer Beratungsdienst“ hat der Fachbereich innerhalb des Jungendamtes neben der Beratung bei Problemlagen und Konfliktsituationen rund um Familie, Kinder und Erziehung ebenfalls die Aufgabe, für Familien und junge Menschen therapeutische Angebote und andere Hilfen bereitzustellen, sowie sich – zunehmend in jüngerer Zeit – um Prävention, zum Beispiel von Gewalt in der Schule etc. zu kümmern.
Perspektivisch müssten sich die Einrichtungen auch darauf einrichten, so Annette Frenzke-Kulbach, Leiterin des Jugendamtes in ihrem Grußwort, Trennungs- und Scheidungsberatung schwerpunktmäßiger zu behandeln. Denn die Unterstützungsplanung in der Familien-und Jugendarbeit kann die Augen vor Veränderungen im kulturellen Selbstverhältnis nicht verschließen.
Denn Narrative, welche das Weltganze erklären, dadurch Lebensentwürfe wie Einstellungen bindend strukturieren, sind – überwiegend in den nördlichen Breitengraden – passé. Der jetzt exklusiv vergötterte Marktmechanismus beansprucht jenseits der ihm eigenen Zweckrationalität keinerlei Explikationskraft, wenn er lediglich kalten Herzens bedeutet, was zu tun sei, um als freier Mensch auf Kosten anderer reicher und mächtiger zu werden.
Gibt zu denken: Situation Alleinerziehender auch heutzutage wichtiger Faktor für Erziehungsschwierigkeiten
Passende Beratungsangebote müssen auf diese neuen individuellen Freiheiten wie auf die damit verbundenen Tendenzen zur Beliebigkeit hin natürlich adaptiert werden, wenn im allgegenwärtigen Konkurrenzkampf und seinen Anforderungen das familiäre Versagen droht. Oder es an Toleranz für die damit einhergehende Tendenz zur Ambiguität lebensweltlicher Erfahrungen mangelt und sich deshalb verunsicherte Menschen, Jugendliche oder Eltern in die offenen Arme rechtspopulistischer DemagogInnen mit unterkomplex-dichotomischen Denkmustern begeben.
Daher wenig verwunderlich, dass sich nach Einschätzung von Annette Frenzke-Kulbach zukünftig beispielsweise die negativen Folgen der Digitalisierung als Gegenstand eines weiteren gewichtigen Beratungsschwerpunkts herausschälen werden.
Bislang lediglich genervte Eltern könnten hier sofort alarmiert ans juvenile UserInnen-Verhalten im Umgang mit Smartphones denken.
Neben solchen inhaltlichen Brennpunkten, lassen sich Gewichtungen in der Beratungstätigkeit nach Zahlen zu Alter und Familienstruktur anzeigen: 82 Prozent der probleminvolvierten Kinder und Jugendlichen seien zwischen 3-15 Jahre; der Anteil Postpubertierender ist also erstaunlich gering.
Zu 34 Prozent beanspruchten Haushalte von Alleinerziehenden Hilfen und waren somit gegenüber deren Anteil von 22 Prozent an allen Erziehungskonstellationen klar überrepräsentiert – was den Erklärungswert anderer Umweltparameter dergestalt relativiert, dass zumindest klar ist: die Last der Erziehung trägt sich leichter auf zwei Schultern.
Familienberatung: niederschwellig, kostenfrei, offen für junge Menschen – auch ohne Einwilligung der Eltern
Was ihr beim Kennenlernen der Dortmunder Infrastruktur aufgefallen sei, ist die Leiterin des Jugendamtes zufrieden: das sei die Vernetzung der zwölf Dortmunder Beratungsstellen untereinander. Fühlbares Resultat: gemeinsame Standards, wie etwa mit sexualisierter Gewalt in Familien umzugehen sei. – Hört sich gut an, aber gibt es hier in Dortmund etwa gegenüber den Nachbarstädten Bochum oder Essen irgendwelche Besonderheiten, weswegen eigene, unabhängige lokale Handlungskriterien vonnöten wären?
Und wofür stehen eigentlich in gut sortierten Fakultätsbibliotheken, Abteilung Klinische Psychologie, meterweise Regale, vollgestopft mit internationaler Fachliteratur zu dem Thema herum? Dort werden solche Standards kulturvariant und sensitiv gegenüber Fallkategorien wie -konstellationen empirisch gestützt mit Blick auf die Sicherung des Kindeswohls ausgewiesen.
Wie dem auch sei: wichtig ist zunächst, dass kommunale Familienberatungen überhaupt nach den Regeln der Kunst flächendeckend und bedarfsorientiert handlungsfähig sind und angeboten werden können.
Auf diese Beratungsangebote haben Hilfesuchende – im Übrigen – einen Rechtsanspruch, wie die neue Jugendamtschefin betont, die seit Sommer dieses Jahres im Amt ist – wobei die Beratung grundsätzlich kostenfrei ist. Zudem kann sie von Kindern und Jugendlichen eigenständig aufgesucht werden, ohne dass es dazu der Zustimmung ihrer Eltern bedürfte. Hierfür müssten keinerlei Anträge etc. gestellt werden – das Gebot der Niederschwelligkeit eben: in der Absicht, das Angebotsnetz für möglichst viele Rat- und Hilfesuchende nutzbar zu machen (s. die Links unten).
Beratungsangebote stehen wie das Gesundheitswesen durch Nähe zu Marktmechanismen unter Effizienzdruck
Hinzu käme Effektivität/Effizienz: 45 Prozent aller Beratungen hätten nach fünf Terminen abgeschlossen werden können, weist Annette Frenzke-Kulbach auf ein immer wichtiger werdendes Qualitätskriterium zur Evaluation von teilweise inkommensurablen, weil unteilbaren Gütern in der medizinischen, psychotherapeutischen und sozialen Versorgung hin – kurz: es geht um Ökonomisierung und Rationalisierung des Gesundheitswesens im weitesten Sinne.
Die kommen nicht von ungefähr; sie sind kein Naturprozess, sondern basieren auf politischen Entscheidungen neoliberaler Provenienz und ihrem Glauben an die allseligmachenden Kräfte der Marktmechanismen – mit dessen Folgen die Akteure alltäglich konfrontiert sind. Betroffen ist davon gleichsam auch – als Teil des Beratungsangebotes – die Psychotherapie für Familien, von der ebenso maximale Effizienz verlangt wird.
Unabhängig von einer Bewertung dieses Effizienzparadigmas, kommt speziell in Deutschland hinzu, dass hier über die Güte von psychotherapeutischen Methoden immer noch zu einem Großteil Leute bestimmen, die von Psychologie sowieso, wie von Klinischer Psychologie oder Psychotherapie in aller Regel schlicht keine oder nur wenig Ahnung haben – nämlich Mediziner.
Systemische Therapie: wie anderen Therapieformen fehlt auch hier die sozialrechtliche Anerkennung
Aus dieser absurden Lage, wo ein Schuster in quasi machtpolitischer Tradition nicht bei seinen Leisten bleiben kann, hat sich über das Psychotherapeutengesetz (PsychThG) von 1999 und die Psychotherapie-Richtlinie, letztmalig geändert 2016, eine Situation verfestigt, in der die allermeisten Formen von Psychotherapie jenseits einiger abrechnungstechnischer Finessen von den KlientInnen selbst bezahlt werden müssen.
Zu den mittelbaren Opfern traditionell-ärztlicher Allzuständigkeitsphantasien für existentielle Widerfahrnisse wie „Krankheit“ oder das Sterben und einer hinterherdackelnden Bundespolitik gehört u.a. die systemische Familientherapie, die heutzutage faktisch integraler Teil der methodischen Konzeption von Erziehungsberatung ist – der aber eine sozialrechtliche Anerkennung und damit die Möglichkeit einer Abrechnung ihrer Leistungen über die gesetzlichen Krankenkassen verwehrt bleibt.
Sie nicht nur gegenüber dieser Ignoranz zu rehabilitieren, sondern als wirksame wie humanistisch orientierte Therapieform im Einzelnen auszuzeichnen, waren Motiv und Inhalt des zentralen Veranstaltungsvortrages, mit dem Reinert Hanswille, einem ausgewiesenen Experten im Bereich der Systemischen Therapie, überzeugen konnte.
Ob der thematischen Komplexität: sowohl, was diese Therapiekonzeption selbst wie berufspolitische Anerkennungsfragen betrifft, mag hier bei weitergehendem Interesse der Hinweis auf nachfolgende Links genügen.
Weitere Informationen:
- Jugendamt der Stadt Dortmund, Psychologischer Beratungsdienst – für Fragen und Probleme aus den Bereichen Familie, Erziehung, Schule oder bei anderen persönlichen Fragestellungen , hier:
- Übersicht zu den zwölf Beratungsstellen in Dortmund, hier:
- Online-Beratung (anonym und kostenfrei) für Jugendliche, hier:
- Geschäftsbericht des Jugendamtes Dortmund 2016, hier:
- Zu Wilhelm Mitze (1912–1996), dem ersten Leiter der Dortmunder Beratungsstelle: 1937 als Psychologe an der Universität Marburg promoviert, arbeitete er von 1937 bis 1945 an der Psychologischen Prüfstelle der Kriegsmarine. Von 1947 bis 1951 war er als wissenschaftlicher Mitarbeiter der Sozialforschungsstelle an der Universität Münster in Dortmund im Bereich der Sozialpsychologie tätig. Danach wurde er Leiter der Städtischen Erziehungsberatungsstelle in Dortmund. Er arbeitete von 1959 bis 1966 als Leitender Psychologe bei der Freiwilligenannahmezentrale der Marine in Wilhelmshaven. Von 1966 bis zu seiner Pensionierung 1974 war Mitze Leiter des Referates für Wehrpsychologie im Bundesministerium der Verteidigung. Pensioniert wurde er als Ministerialrat. Quelle: Helmut E. Lück: „Mitze, Wilhelm“, in: Uwe Wolfradt u.a. (Hg.), Deutschsprachige Psychologinnen und Psychologen 1933-1945. Ein Personenlexikon. Wiesbaden 2015, S. 318f. Dort auch eine Liste seiner Veröffentlichungen.
- Lehrbuch der systemischen Therapie und Beratung. Bd. I: Das Grundlagenwissen (3. Aufl., Göttingen 2016) – Bd. II: Das störungsspezifische Wissen (6. Aufl., Göttingen 2015)
- Systemische Interventionsmethoden, hier:
- Institut für Systemische Familientherapie, Supervision und Organisationsentwicklung, hier:
- Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses über die Durchführung der Psychotherapie („Psychotherapie-Richtlinie“); zuletzt geändert durch Beschluss am 16. Juni 2016, in Kraft getreten am 16. Februar 2017), hier:
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