Welt im Wandel fortschreitender Globalisierung: demographische Verschiebungen durch Migration und Überalterung, ungleiche Entwicklungen in Ballungszentren und ländlichen Regionen, multi-ethnisch durchmischte Räume. Unter anderem mit neuen Partizipationsformen und Kooperationsmodellen könnte den Herausforderungen für Integration begegnet werden. Auch dazu wird im Rahmen eines bundesweiten Projektes eifrig geforscht. Dessen VertreterInnen trafen sich jetzt im Dietrich-Keuning-Haus (DKH). Mit dabei: ein prominenter Gast mit einer beachtenswerten Rede als Initial-Input.
Gestaltung von Zukunft in den Kommunen und Regionen: wer sind die Akteure?
Fachkonferenz „Kommunen innovativ“ in der Nordstadt: im DKH waren in dieser Woche zwei Tage Wissenschaft angesagt. Finanziert wird ein gleichnamiges Großprojekt vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF), das sich seit 2016 mit den Auswirkungen demographischer Veränderungen und entsprechend adaptierten Entwicklungsstrategien auf verschiedenen kommunalen und regionalen Ebenen beschäftigt.
Ein weites Feld, sozusagen, auf dem sich unter dem Dach der bundesweiten Fördermaßnahme immerhin 30 Teilprojekte tummeln. Es geht unter anderem um nachhaltige Kreativlösungen zur Anpassung kommunaler Infrastrukturen, um neue Finanzierungs- und Organisationsmodelle sowie verbesserte Kooperations- und Beteiligungsformen.
Das Feld einzugrenzen, macht da nicht wenig Sinn. Den lieferten die Veranstalter selbst: Demokratieförderung, partizipative Modelle, das Thema beim Kick-off-Vortrag eines besonderen Gastes am ersten Konferenztag: Gesine Schwan. In ihrer Keynote spricht sie über die „Rolle und Bedeutung von Zivilgesellschaft und Unternehmen in den Kommunen“. Kurzum: Wie kann Zukunft vor Ort von lokalen Akteuren mitgestaltet werden?
Im Zweifelsfall zwischen den Stühlen: Eckdaten eines bewegten Lebens
Gesine Schwan ist eine schillernde Frau, zweifelsohne. Es sich so richtig in einer Überzeugungsgruppe kuschelig zu machen, ist ihr offenbar nicht beschieden. Promoviert mit einer Arbeit über den polnischen Marxisten und Philosophen Leszek Kolakowski, ist die spätere Professorin für Politikwissenschaft sowohl bekennende Katholikin, Sozialdemokratin und stramme Antikommunistin.
Als Mitbegründerin des rechtskonservativen Seeheimer Kreises in der SPD verteidigt sie Anfang der 80er Jahre die atomare Aufrüstung des Westens durch den sogenannten NATO-Doppelbeschluss; fliegt nach Attacken gegen Willy Brand aus der SPD-Grundwertekommission, deren Vorsitzende sie heute ist; kandidiert zweimal vergeblich für das Amt der Bundespräsidentin gegen Horst Köhler.
Sie mag mithin streitbar sein, doch sie hat spannende Ideen, das ist bekannt. Zudem ist sie anerkannte Demokratieforscherin. Was an sich nichts heißen mag, weil Wertschätzung im akademischen Bereich nicht zwingend nach wissenschaftlicher Güte vergeben wird. Letztlich reichen Thema und Ruf: kommunale Gestaltungsmöglichkeiten in einer Gesellschaft im Wandel.
Diagnose: eine technokratische Politik ohne Konzepte ringt allein um Macht
Argumentativer Ausgangspunkt beim Vortrag, ein Wort aus der BMBF-Fördermaßnahme: „innovativ“; zum Begriff „Innovation“ diskursiv aufbereitet: betrachten möchte Gesine Schwan ihn weniger technologisch-wirtschaftlich, sondern stärker politisch, sozial, partizipatorisch orientiert. Zwei Interessen treiben sie dabei nach eigenem Bekunden um: die Erhaltung bzw. Weiterentwicklung von Demokratie sowie das Schicksal der Europäischen Union.
Erklärtes Ziel: In Globalisierungszeiten einen größeren Einfluss auf wirtschaftliche Prozesse durch politisches Handeln nehmen zu können. Ihre vorläufige Diagnose: Im Vergleich zur Zeit vor 30, 40 Jahren gäbe es auf nationaler Ebene in der Politik strukturelle Defizite. Der Grund: es fehle ihr an Output-Legitimation. Mit anderen Worten: BürgerInnen finden sich und ihre Interessen – umfassend: nicht nur materiell verstanden – in der Regierungspolitik zunehmend weniger wieder; es mangelt an Glaubwürdigkeit.
Anders als zu früheren Zeiten hätten Regierungen gegenwärtig keine politischen Konzepte mehr. Durch öffentlichen Druck seien sie vielmehr weitgehend mit Machterwerb und Machterhalt beschäftigt, so dass es an inhaltlichen Debatten mangele. Die Folge ist eine Tendenz zum technokratischen Handeln, wo dies eigentlich nach politischen Konzepten geschehen müsse.
Ein zwar von der Rednerin nicht erwähntes, aber tagespolitisch aktuelles Beispiel für diese Orientierungslosigkeit, jüngst vorgeführt in Berlin (Nahles): Koalition (Macht) nicht aufgeben, obwohl es ja so schwer fiele; stattdessen handlungsfähig (technokratisch) bleiben. Aber bestimmt nicht wegen der vielen schönen sozialdemokratischen Prinzipien, die zum wiederholten Male hintereinander den Bach runter gehen, sondern aus Angst vor dem Verlust von Pfründen bei Neuwahlen.
Diese eingefahrene Situation zu verändern, ist, Gesine Schwan zufolge, entscheidend für die Zukunft. Sonst nähme die Output-Legitimation dauerhaft Schaden.
„Stakeholder-Partizipation“: verschiedene Logiken im Aushandlungsprozess miteinander versöhnen?
Vorschlag der Politikwissenschaftlerin: Die Würde des Menschen könne zwar nur über eine repräsentative Demokratie beachtet und gesichert werden; dies aber setze eine Stakeholder-Partizipation voraus. Als Akteure macht sie mindestens die organisierte Zivilgesellschaft, Unternehmen, Wissenschaft und die Politik aus.
Damit kämen viele Erfahrungen, mehrere Logiken wie Perspektiven zusammen, über die sich besagte Stakeholder verständigen müssten. Wirtschaftliche Logik etwa steht unter ökonomischen Zwängen, ihr Blick auf Flüchtlinge sei aber gerade deshalb alles andere als völkisch geprägt.
Wichtig ist der wertkonservativen Sozialdemokratin offenbar eine intrinsische Bereitschaft, Fremdlogiken zu verstehen: die Haltung, mit der Stakeholder unter sich Aushandlungsprozesse aus Perspektivenvielfalt führten, die schließlich von einer Politik mit Konzepten zusammengeschlossen werden müssten, so Schwan.
Gegen die Gefahr von Rechts: Stärkung der Partizipation und Kooperation von Kommunen
Zweites großes Thema des Vortrags: Europa. Gefährdeter denn je, lautet hier die Diagnose der überzeugten Europäerin: gegen das andere Europa der Rechtspopulisten („altchristlich“), bräuchte es eine Stärkung der Demokratie auf europäischer Ebene. Nur so könne ihnen ihr einziges Mobilisierungssystem – Migration – wieder aus den Händen genommen werden.
Dies setze allerdings voraus, dass die Menschen auf kommunaler Ebene selbst entschieden, ob lokal Flüchtlinge aufgenommen werden oder nicht. Explizit spricht sich die Polittheoretikerin damit gegen eine Quotenregelung aus – wohl wissend, dass sie sich auch hier nicht nur Freunde machen wird.
Daher sei eine Stärkung des transnationalen Zusammenhalts eben nicht über Brüssel, sondern nur durch Partizipation und Vernetzung der Kommunen zu erreichen. Diesen Gedanken will Gesine Schwan – analog zu den demokratietheoretischen Überlegungen auf nationaler Ebene – als einen grundsätzlichen verstanden wissen, der für eine Vielzahl politischer Handlungsfelder von Bedeutung gälte.
Das heißt: über die Ebene der Flüchtlingsintegration hinausgehend, müssten sich globalisierende, müssten kommunale/regionale Gesellschaften umfassend zusammenarbeiten: von Energie bis Mobilität. Dafür gäbe es auch einen guten politikpsychologischen Grund: „Das gemeinsame Werk verbindet“, greift Schwan auf seit langem bekannte Ergebnisse der sozialpsychologischen Diskriminierungsforschung zurück.
Weil Demokratie Handeln bedeutet: ohne Zukunftszuversicht kann sie nicht gedeihen
Ihr letzter Punkt, wenn es ums Engagement vor Ort geht, und überhaupt: Der Nachkriegsfortschritt in der Bundesrepublik sei auch immer von Hoffnung getragen gewesen, die es heutzutage vielfach nicht mehr gäbe. Ohne eine gewisse Zuversicht aber könne eine Demokratie nicht gedeihen, warnt Schwan.
Und verweist in diesem Zusammenhang auf die Zeit zwischen den beiden Weltkriegen mit ihrer Weltuntergangsstimmung, die maßgeblich den Nährboden für den NS-Aufstieg abgegeben hätte. Daher, so darf geschlossen werden, lautet ihre Botschaft: hoffnungsfroh und mutig handeln, statt sich in pessimistischen Abwärtszirkeln möglicherweise dem Untergang entgegen zu drehen.
Sie wolle ja nicht sagen: „Wir schaffen das!“ – vom Schmunzeln bis herzhaften Lachern hat sie das Publikum auf ihrer Seite. Aber sie meint es ähnlich und sagt: „Das kriegen wir hin!“ – Optimismus versprühen, ja, auch Begeisterung: Wo nimmt die Frau diese Kraft her?, könnte nicht nur Mann sich fragen. Vielleicht hat sie ja neben der Bibel das Thomas-Theorem unterm Kopfkissen liegen: So wie wir die Welt sehen, so wird sie. Denn wir verändern sie immer nach unserem Bilde.
Lebendige Erfahrungen bei frühen Begegnungen im Frankreich der Nachkriegszeit
Dass sie mit ihrem scharfen Verstand die Dinge zwar nicht rosarot malen, aber dennoch mit einer Art weltständigem Frohsein wahrnehmen kann, veranschaulicht sie über frühe Erfahrungen, die ihr Stärke vermittelten: als junge Deutsche nach dem Krieg in Frankreich, mit seinen Menschen, deren Sprache sie anfangs nicht versteht; beim gemeinsamen Lernen, Tanzen, Singen, geteilter Freude über alle Grenzen hinweg: es geht.
Natürlich ist ihr Politikansatz wissenschaftlich hinterfragbar, ohne gleich mit einem weltanschaulichen Zaunpfahl zu winken. Von den demokratie- und legitimationstheoretischen Prämissen her sowieso; aber auch ihre zuweilen etwas gewöhnungsbedürftige Argumentationslogik wie die recht eigenwillige Wertung geschichtlicher Ereignisse und Entwicklungen dürften alles andere als unstrittig durchgehen.
Dennoch: da denkt jemand quer, und dazu komplex. Anregend, zum Nachdenken provozierend, den Widerspruch eingeplant, ihn fordernd. Dann können ihre Ausführungen nicht so verkehrt sein – wenn Bewegung in die Hütte kommen soll.
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