Von Angelika Steger
Der Gartensaal des Baukunstarchivs NRW am Ostwall ist gut gefüllt, als der Vorstand des Bundes Deutscher Architekten (BDA), Dirk Becker mit seiner Begrüßung beginnt. Schlechte Luftqualität, die für das vermehrte Auftreten von Atemwegserkrankungen verantwortlich ist, der Klimawandel, der zur Überhitzung der Städte führt sind nur zwei der Herausforderungen, die für eine lebenswerte Zukunft gemeistert werden müssen. In seiner Vortragsreihe „Stadt in Bewegung: Landesreihe ökologisch mobil lebenswert“ hatte der BDA den Architekten und Stadtplaner Stefan Bendiks aus Brüssel geladen.
Vom Verkehrsraum zum öffentlichen Raum, vom Stillstand zum lebendigen Treiben
Architekten seien eben nicht nur für die Gestaltung von Gebäuden zuständig, sondern auch für das, was dazwischen liege, betont Bendiks. In seiner Heimat Belgien hat er mehrere Projekte betreut, die er an diesem Abend vorstellte. Und auch wenn vieles erfolgreich war: auch im Nachbarland war es nicht einfach, Politik und Gesellschaft davon zu überzeugen, dass Platz für Radfahrende und FußgängerInnen auch den AutofahrerInnen nützt – auch wenn diese zunächst Einschränkungen in der Verkehrsführung hinnehmen müssen.
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Wie einfach der „Verkehrsraum“, das ist ein Raum in dem sich ausschließlich Fahrzeuge befinden, zum öffentlichen Raum für Menschen werden kann, habe die Aktion „Extinction Rebellion“ am Potsdamer Platz in Berlin gezeigt. UmweltaktivistInnen hatten Sofas und Tische aufgestellt, um zu zeigen, dass der öffentliche Raum nicht nur von Autos genutzt werden kann, sondern den Menschen zur Verfügung stehen soll.
In einem „öffentlichen Raum“ kann man sich frei bewegen, weil Autos keinen Zugang haben. Begegnungen und Gespräche sind möglich, die als AutofahrerIn nicht möglich sind; die Blechwand um die FahrerInnen verhindert jegliche Kommunikation nach außen zu den anderen VerkehrsteilnehmerInnen. Bereits in den 1970er Jahren entstand der Film „L´ingorgo una storia impossible“, Bendiks zeigt bei seinem Vortrag einen kurzen Ausschnitt daraus. Die Autos stehen auf einer Landstraße im Sommer im Stau. Nichts geht mehr, die Sonne brennt vom Himmel.
Der Stau besteht bis zum nächsten Tag. Plötzlich fangen die Insassen der nun nutzlos gewordenen Autos an, miteinander zu kommunizieren, sich zu verlieben, zu streiten, miteinander zu essen, es gibt sogar eine Art Solo-Peep-Show auf dem Autodach, bis hin zur Vergewaltigung werden die passiven Menschen zu aktiv Handelnden. Dieser Film zeige, dass selbst die unwirtlichsten Verkehrsräume zu Lebensräumen werden könnten. Im Laufe des Vortrags zeigte Architekt und Stadtplaner Stefan Bendiks Projekte seines Planungsbüros „Artgineering“ aus Brüssel auf.
Neue Straße löst bei den Menschen, für die sie gebaut wurde Proteste aus
Im Jahr 2007 sollten Bendiks und sein Team an einer neu gebauten Straße eine neue Platzgestaltung planen und durchführen. Bei näherer Betrachtung bestand aber schon zuviel der Straße, die vorher eine Viehweide gewesen war.
„Viel konnte man da nicht mehr machen, außer ein großes Straßenfest, das größte Straßenfest der Niederlande“ erläutert der Referent. Unter dem Motto „Doe mee en maak doel uit van mihN 470“ (übersetzt in etwa: „Mach mit und sei ein Teil von mir“) war ein Wochenende lang die zwölf Kilometer lange Straße gesperrt für Boule-Spiel auf Sand, für Tische und Stühle, für ein kleines Schwimmbad, für einen Kindergarten.
Es gab extra „Stuarts“, die die BesucherInnen anleiteten, damit sich jeder ordentlich verhält. Alles, was Räder hatte, durfte kommen, hatte eben die Gemeinschaftsregeln zu beachten. Eine Tatsache, die im deutschen Straßenverkehr leider oft nicht beachtet wird. Insgesamt waren 5000 Leute gekommen.
Diese Aktion war ein Augenöffner dafür, dass selbst der unwirtlichste Ort lebenswert sein kann. Am Montag nach diesem Wochenende wurde die neu gebaute Straße, die eine Neubausiedlung erschließen sollte, offiziell eröffnet und der motorisierte Verkehr donnerte darüber hinweg. Die meiste Zeit des Tages stehe das Auto nur herum, betont Bendiks. Oder, wie Professor Hermann Knoflacher von der Technischen Universität Wien sagt: ein „Stehzeug“ sei das Auto.
Begriff „Raum“: wieviel Platz lassen wir uns noch, wenn fast alle ein eigenes Auto besitzen?
Sichtbar wird dieses ungleiche Platzverhältnis bei einem fiktiven Wohnungsgrundriß: Würde man in der Wohnung dem Auto soviel Platz wie im öffentlichen Raum zugestehen, könnte man sich kaum mehr durch die eigene Wohnung bewegen.
Die immer größeren Autos brauchen große Garagen, es gibt nur kleine Wohn- und Lebensräume im Haus. Das Autosymbol „Stehzeug“ wurde von Knoflacher selbst entworfen, ein Rahmen mit Absperrbändern, den ein Mensch um sich spannt wie einen überdimensionalen Hosenbund.
Damit zeigt Knoflacher seinen Studierenden und StadtplanerInnen, wieviel Platz ein Auto vom öffentlichen Raum wegnimmt – und doch nur einen Menschen transportiert. Auch als erimitierter Dozent ist er noch für die Stadtplanung aktiv.
Kein Haß auf den motorisierten Verkehr – aber Fehler in der autofreundlichen Verkehrsführung aufzeigen
„Ich beschäftige mich viel auch mit dem Radverkehr. Und da treffe ich auf Leute, die solche Straßen am liebsten hätten.“ Der Stadtplaner Bendiks deutet auf ein Schwarzweißbild, auf dem eine mehrspurige Straße mit Autos, die nur am Rand fahren dürfen und mit vereinzelten Rädern zu sehen ist. Ein umgekehrtes Verhältnis, wie es aktuell der Fall ist. Er fahre selbst auch Auto, weil er in einem abgelegenen Dorf in Belgien wohne.
Man müsse den Autofahrer mit in das neue Konzept der Verkehrsplanung einbinden, davon ist Bendiks überzeugt. Fakt ist aber, dass es zu viele Privilegien für Autos gebe. Eine andere Regelung, ob und wo Autos in Zukunft in den Städten fahren dürften, sei notwendig.
Beispiel Brüssel: Im Jahr 1970 war der Grace Place voller geparkter, stehender Autos. Dieser Platz wurde umgestaltet und entgegen der Befürchtung von Einzelhändlern am Platz ging deren Geschäft nicht zurück. Auf dem Zuiderdokken in Antwerpen hatte man den Parkplatz im Zentrum auf eine leerstehende Fläche, zwei Kilometer vom Zentrum entfernt, verlagert.
Seitdem können sich nicht-motorisierte VerkehrsteilnehmerInnen sicherer in der Stadt fortbewegen. Heute sei es wichtig, die ehemals „autogerechte Stadt“ hinter sich zu lassen und sich Gedanken zu machen, wie Menschen die Stadt wahrnehmen, wie sie den Stadtraum erleben. Denn es gibt vieles, das im Verkehrsraum von heute möglich ist. Es geht darum, den Verkehrsraum „neu zu denken“ (Stadtplanung von Kevin Lynch).
Von passiver zu aktiver Mobilität: nicht für jeden Weg ist das Auto immer notwendig
„Es ist nicht gleichzeitig ein Verkehrsmittel schlecht, während das andere gut ist.“ Davon ist der Stadtplaner Stefan Bendiks überzeugt. In den Niederlanden ersetzt das Fahrrad das Auto bei Strecken bis zu fünf Kilometern Streckenlänge.
Mit dem E-Bike erweitert sich der Radius schon um zehn Kilometer. Auch der „modal split“ , also die Nutzung von zwei Verkehrsmitteln gemeinsam, hier das Auto und das Rad, funktioniere in den Niederlanden gut.
„In den Niederlanden sind alle gleichzeitig Rad- und AuotfahrerIn. Deshalb läuft es im Straßenverkehr so entspannt ab“ betont Bendiks. Das Fahrrad sei ein „Link“ in der „multimodalen Transportkette.“ Schließlich passt ein Faltrad locker in den Kofferraum eines Autos.
Nur eine konsequente gute Verkehrspolitik und Infrastruktur schafft sichere Verkehrsräume
Für Belustigung sorgte eine Kapitelüberschrift auf der Präsentation, die zum Vortrag gezeigt wurde. „Freude am Fahren“, das kennt man doch aus der Autowerbung. Tatsächlich meint Stadt- und Raumplaner Bendiks damit aber den starken Radverkehr in den Niederlanden.
Insgesamt nehme der Radverkehr zu, während er auf dem Land abnehme. Die Schulkinder werden mit dem Auto zur Schule etc. gebracht. Auch für die Niederlande appelliert der Stadtplaner: die Radwege müssen breiter werden! In Utrecht gibt es eine Touristenattraktion: die größte Fahrradgarage der Welt. 12.000 Stellplätze hat dieses Parkhaus. Allerdings, ob man dann ihr oder sein Rad auch wieder findet?
Dieses Fahrradparkhaus zeige, dass man die Planung für den Radverkehr genauso ernst nehmen und anpacken müsse, wie man es mit dem Autoverkehr auch tue. Die „fahrradgerechte Stadt“ so planen und bauen wie die „autogerechte Stadt“, in der dann nur der Radverkehr beachtet und bevorteilt wird? Das lehnt der Stadtplaner ab, denn: „Wenn der Raum nicht gerecht verteilt wird, braucht man kein gutes Verhalten von allen VerkehrsteilnehmerInnen erwarten.“ Man muss das Auto, die AutofahrerInnen mit einbinden, ohne dass eine Seite priviligiert ist.
Stau zur Rushour in Utrecht: ungewöhnliche Anblicke
Auf dem Bild ist ein Stau in einer Stadt zu sehen. Doch es sind keine Autos, sondern viele RadfahrerInnen, die warten. Was ist da los? Radtour? Stadtführung per Rad für TouristInnen? In der Nachtegaalstraat in Utrecht warten die RadfahrerInnen an der Ampel. Allerdings nur, wenn die Polizei kontrolliert. Wer über Rot fährt, bekommt einen Strafzettel.
Das Vorurteil von AutofahrerInnen, dass RadfahrerInnen Narrenfreiheit hätten, wird hier klar widerlegt. Das auch VelofahrerInnen Fehler machen, liegt auf auf der Hand; nirgends steht geschrieben, dass sie ohne Makel seien. Das Beispiel Utrecht mache deutlich, was gute Verkehrsplanung für den Zweiradverkehr bedeutet: sicheres Fahren und gutes Ankommen am Ziel.
Dieser Stau an Fahrrädern sei der „ganz normale Wahnsinn“ im Feierabendverkehr, aber es laufe dennoch ohne Streß ab, es wird wenig geklingelt oder geschrieen, weil sich alle verhalten würden, wie man es im öffentlichen Raum eigentlich tun sollte: rücksichtsvoll. Eine Eigenschaft, die hierzulande oft verlorengegangen scheint. Radfahrende und Fußgänger können aufeinander reagieren, AutofahrerInnen, eingeschlossen in einem Blechkörper, können das nicht mehr.
„Kracht das nicht gleich? – die fahren alle gleichzeitig! Scheinbares Chaos in Groningen
Das Bild zeigt mehrere RadfahrerInnen aus der Vogelperspektive, die scheinbar ungeordnet und ohne feste Richtung auf einer Kreuzung fahren. Das Verkehrskonzept nennt sich „Rundum Grün“ , bei der die Ampelschaltung geändert wurde: alle FahrradfahrerInnen haben Grün, der Autoverkehr Rot.
„In Groningen in den Niederlanden hatte es viele Rechtsabbiegerunfälle gegeben. Seitdem „Rundum Grün“ gilt, gibt es keine Toten und auch keine Schwerverletzten mehr.“ Referent Bendiks wirkt begeistert. Ähnlich wie in Deutschland mussten ZweiradfahrerInnen zweimal warten, um links abbiegen zu können.
„Das wurde als ungerecht empfunden, deshalb hat man die Ampelschaltung „Rundum Grün“ eingeführt. Nur zu Semesterbeginn gebe es kleine Unfälle. Manch deutsche-/r AutofahrerIn würde erstaunt sein, dass er oder sie den „Rowdyradler“ hier wirklich suchen muss. Gute Verkehrsplanung sorgt für mehr Frieden auf den Straßen.
Autonomes Fahren und Elektro-Fahrzeuge: wirklich gut für die Umwelt?
Die Autoindustrie proklamiere gerne, dass Autos mit Elektromotor so sauber und gut für die Umwelt seien, das Verkehrsmittel der Zukunft. Doch Stadtplaner Bendiks winkt ab: E-Autos ohne „sauberen Strom“ sind nicht gut für die Umwelt. Der CO2-Abdruck ist genauso groß wie beim Verbrennungsmotor. Dabei wird viel Geld und Forschung in Autos investiert.
Ein Autohersteller hat sogar überelgt, die Funktion von Gebäuden in Fahrzeuge zu verlegen, auf dem Bild der Präsentation ist ein Pizzabäcker zu sehen, auch ein Paar, als ob es zuhause auf dem eigenen Sofa säße. Laut dem Referenten eine zweifelhafte Sache, weil öffentlicher Raum, in dem sich Fahrzeuge jeder Art nunmal bewegen, zu privatem Raum werde.
Das Auto würde zum privaten Raum. Kein Mensch würde wollen, dass fremde Menschen plötzlich im eigenen Wohnzimmer stünden, weil sie gerade an der Haltestelle auf den Bus, die sich auch im öffentlichen Raum befindet, warten. Autonomes Fahren gefährdet die FußgängerInnen; wer sichert ab, dass die Fahrzeuge wirklich anhalten? Wer haftet dafür, wenn jemand verletzt wird?
„Autonome Mobilität in der Stadt funktioniert nicht“, davon ist Architekt Stefan Bendiks überzeugt. „Wenn das Auto so programmiert ist, dass es immer für Fußgänger anhält, ist das nicht sexy für die Autoindustrie.“ Beim Betrachten von Autowerbung kann man diesen Eindruck durchaus teilen. Darin geht es um Geschwindigkeit, ein vermeintlich tolles Lebensgefühl, das die Männlichkeit unterstreichen und ausmachen soll. Rücksichtsvolles, sprich nicht zu schnelles Fahren ist eben nicht attraktiv, nichts, was ein „echter Mann“ macht, so der Tenor der Autoindustrie.
Werbung für das Auto und Warnung an die FußgängerInnen in früheren Jahrzehnten
Als die „autogerechte Stadt“ langsam im Aufbau begriffen war und das Auto als Fortschritt gefeiert wurde, fuhren noch Pferdefuhrwerke auf der Straße, die Fahrräder hatten noch längst nicht den Komfort von heute.
Das von Bendiks gezeigte Werbeplakat aus den 1920er/30er Jahren wirkt fast kurios, anachronistisch. „Don´t do jay walk.“ Man solle nicht wie ein Dummkopf herumlaufen und die Autos stören. Auch wenn es längst noch nicht so viele Autos gegeben hatte, macht diese Werbung eine menschenfeindliche Einstellung deutlich. Die Stadt für Autos statt für Menschen.
Es gibt ein paar Beispiele von Straßen-Umgestaltungen wie die Mariahilferstraße in Wien. Autos wurden fast komplett ausgesperrt, aus Parkplätzen wurden parkähnliche Flächen mit Sitzbänken für die Begegnung. Der Stadtplaner und Verkehrsforscher Prof. Hermann Knoflacher hatte sich mit diesem Konzept zuerst keine Freunde gemacht.
Viele EinzelhändlerInnen waren empört, weil sie um ihr Geschäft fürchteten. Doch das einzige Geschäft, das wirklich pleite ging, ist nicht wegen der autofahrenden KundInnen, die nicht mehr in diese Straße fahren können, gescheitert, sondern am Online-Handel.
Überhitzte Städte kühlen und Lebensraum schaffen durch Umgestaltung von Straßen
Städtischer Raum ist oft versiegelt, die steigenden Temperaturen durch den Klimawandel heizen die Gebäude und Straßen stark auf. Wie diese Orte gekühlt und wieder lebenswert gemacht werden können, zeigt z. B. das Projekt „space of social counter“, welches mehrere Straßen und Kreuzungen umfasste , nicht nur eine Straße.
Nur als Gesamtkonzept war es möglich, Flächen zu entsiegeln, indem man Grünflächen schafft, als kleine Rasenflächen und Pflanzenkübel. Stadtplaner Stefan Bendiks ist überzeugt, dass für jeden Umbau einfache Materialien wie Beton und Pflaster reichen.
Beispiel Brüssel: auf einen Foto der Präsentation ist ein Platz vor einer Kirche zu sehen, 1950 parkten zwei Autos. 1971 waren es schon zehn, „da ist wohl gerade eine Hochzeit in der Kirche“, meint der Referent scherzhaft. Es wurden immer mehr, bis der ganze Platz vollgeparkt war, keine Bewegung mehr möglich war. „Wir planten so um, dass es keinen Durchgangsverkehr mehr gibt.“ Eine Maßnahme, um einen Ort weniger attraktiv zum Parken zu machen.
Umgestaltung zu Freiflächen auch im „sozialen Brennpunkt“ möglich
Eine Stadt solle für alle Menschen bewohnbar sein, ganz unabhängig vom Einkommen. Im „space of social counter wurde eine Insel eingefügt und Betonblöcke installiert, damit man mit dem Auto nicht mehr auf den Platz fahren kann. „Man muss den Leuten zeigen, wie es vorher und nachher aussieht. Dann ist die Chance, dass die Umgestaltung angenommen wird, höher.“
Beim Dumont-Platz in Brüssel handelte es sich um einen sogenanten „sozialen Brennpunkt“. Als Test, ob die Bepflanzung auf dem Platz auch wirklich angenommen werden würde, haben Bendiks und sein Team in Zusammenarbeit mit den umliegenden Schulen BigBags bepflanzt.
Das hatte Signalwirkung auf die Eltern und älteren Geschwister. Es gab keine Randale oder Zerstörung wie befürchtet. Bendiks nennt das ein „Reallabor, ein „Mock up“, wie man die Menschen überzeugen kann. Auch die „Verweilinseln“ mit Teehaus werden gut angenommen, für Frauen gibt es gesondert geschützte Räume. Kinder haben den plötzlich freien Raum auf dem Platz sofort in Beschlag genommen, spielen, fahren Rad. Mit einfachen Materialien habe man auf diesem Platz in Brüssel viel erreicht.
Parkplatzregelung mit sozialer Kontrolle: Parkzeitanzeige – jedoch ohne Strafzettel
Auch wenn schon einige Projekte in Belgien und den Niederlanden gelungen sind: der Widerstand von AnwohnerInnen, EinzelhändlerInnen und AutofahrerInnen ist hoch. Als im Speckgürtel von Brüssel Parkplätze gestrichen wurden, konnten beispielsweise die zwei Kilometer zum Bäcker nicht mehr mit dem Auto erledigt werden.
VerkehrsteilnehmerInnen mit Rad oder zu Fuß hatten dagegen überall Zufahrtsrechte. EinzelhändlerInnen sorgten sich ums Geschäft. Das Parken wurde auf wenige Orte an den vier Ecken des Platzes reduziert. Eine Digitalanzeige an einer Säule neben dem Parkplatz soll für soziale Kontrolle sorgen, indem rot die überschrittene Parkzeit angezeigt wird: 15 Minuten sind erlaubt.
Die Polizei allerdings kontrolliert die Zeitüberschreitung nicht. Das Argument für diese Parkzeitbegrenzung: die EinzelhändlerInnen würden in einer Stunde vier statt eine-/n KundIn bekommen. Dennoch gab es Klagen vor Gericht und Petitionen gegen die Parkregelung. Leichter als in Deutschland ist es auch in Belgien nicht, Menschen in Autos zu einem rücksichtsvolleren Verhalten zu erziehen.
Wenn es gute Wege gibt, kommen die RadfahrerInnen und nutzen sie: Beispiel Leuven in Belgien
In Leuven sollte ein langgestreckter Parkplatz hinter dem Bahnhof umgestaltet werden. Jahrelange Diskussionen und Bürgerproteste gegen die „Radautobahn“ fanden statt, doch die Stadt gab die Weisung, es zu machen. Auf dem Bild der Präsentation sieht man, wie das Gelände nun gestaltet ist: neben dem Bahndamm verläuft die Straße mit Autos, daneben ist eine Parklandschaft entstanden.
Der Aushub, der beim Umbau entstand, wurde wieder verwendet und daraus Hügel geformt. Auf der höher gelegenen Straße, die als Versorgungsstraße (z.B. für die Müllabfuhr) dient, wird der Radverkehr geleitet. In den Nebenstraßen wurden Einbahnstraßen eingerichtet, wohl deshalb gibt es kaum mehr Durchgangsverkehr.
„Wer hier nun fährt, ist AnwohnerIn“, ist sich Stadtplaner Bendiks sicher. 2009 wurde mit der Umgestaltung begonnen, 2019 wurde es fertig. Auch in Leuven war ein langer Atem und viel Geduld gefragt.
„Radfahren wird normal. Bessere Radwege konditionieren alle VerkehrsteilnehmerInnen. Wenn der Raum nicht gerecht verteilt ist, kann man kein anständiges Verhalten erwarten“, ist das Fazit des Verkehrs- und Stadtplaners Bendiks. Alle in seinem Vortrag genannten Beispiele zeigen: ohne eine komfortable Infrastruktur, die nicht nur für das Auto gebaut ist, hat alles in der Stadtplanung keinen Sinn.
Knackpunkt bei jeder nicht-autofreundlichen Verkehrsplanung: die Politik überzeugen.
In der Diskussion nach Stefan Bendiks´ Vortrag wurde klar, wie schwierig es ist, mit noch so guten Ideen PolitikerInnen zu überzeugen. In Leuven sei das nicht so schwierig gewesen, weil der Bürgermeister ein Sozialist war, der im Stadtrat keine große Diskussion zuließ, als es um den Beschluß ging. Er hätte nur eine Bedingung gestellt: Ein Jahr vor der Wahl müsse das Projekt fertig sein. „Man muss das Projekt den Leuten zuerst zeigen, sonst glauben sie es nicht.“
Menschen zu überzeugen ist immer schwieriger als gegen etwas zu sein. Der Bürgermeister muss ein positives Feedback bekommen, Timing und die Koordination müssen stimmen. Auch die negativen Kommentare in den sozialen Medien muss man kontern. „Und zeigen, wie es vorher und nachher aussieht, dann glauben die Leute, auch Politiker eher an dein Projekt“, weiß Bendiks zu berichten.
Und was ist mit dem „ruhenden Verkehr?“ Stadtplaner und Referent des Abends Stefan Bendiks: „Ich glaube, Autos werden bald verschwinden. Aber das kann man den PolitkerInnen nicht sagen. In Brüssel hat man außerdem keine Zeit für Studien vorab, da heißt es dann Mach es!
Die Autowerkstatt am neuen Park neben dem Bahnhof wird bald verschwinden, zwei neue Fahrradläden sind schon da. Und auf einem Parkplatz in der Versorgungsstraße steht nun ein Lastenrad. Das kommt mir vor wie eine Trophäe.“ Er sieht begeistert aus. Eines darf man wohl nie aufgeben: die eigenen Ideen für eine lebenswerte Stadt. Auch gegen viele Widerstände wie Petionen oder Klagen. Es bleibt zu hoffen, dass hier im Ruhrgebiet bald vieles wie der Ruhrschnellweg Eins endlich in kompletter Länge realisiert wird.
Zu Leben und Werdegang des Architekten und Stadtplaners Stefan Bendiks
Stefan Bendiks, geborgen 1971 in Kulmbach, ist Architket und Stadtplaner. Er hat das Planungsbüro Artgineering mit Sitz in Brüssel mitbegründet. Er plant und gestaltet Entwürfe für komplexe städtische Anforderungen mit großem Interesse an der Mobilität. Er hat dabei vor allem das Potenzial des Radverkehrs für eine gute Verkehrs- und Stadtplanung im Fokus.
Mit verschiedenen Forschungsarbeiten und Projekten definiert er das Verhältnis von Mobilität, Raum und Stadtentwicklung neu.Er hat an der Technischen Universität Karlsruhe Architektur studiert und an verschiedenen Hochschulen Europas, darunter an der Akademie der bildenden Künste, gelehrt.
Er ist Autor des Handbuchs „Cycling Infrastructure“ und der Studie „Fietsland“, die im Auftrag des niederländischen Ministeriums für Infrastruktur und Umwelt durchgeführt wurde. Sein neues Buch „traffic space public space“ erscheint am 24. Oktober 2019.
Weitere Informationen:
- Seite des Planungsbüros Artgineering hier.
- Informationen des Wiener Verkehrsplaners Prof. Hermann Knoflacher hier.
- Informationen zu Rechtsabbieger-Unfällen hier.
- Zahlen über Verkehrstote, inklusive RadfahrerInnen vom Statistischen Bundesamt hier.
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