Deutschland ist eines der reichsten Länder der Welt. Gleichzeitig aber ist die Ungleichheit hierzulande besonders groß. Die Armutsgefährdung wächst stetig. Auch hier in Dortmund. Eine „soziale Marktwirtschaft“ sei nur noch Mythos, stellt Bundestagsabgeordneter Marco Bülow fest. Ersetzt worden sei sie durch eine „feudalen Marktwirtschaft“. Aus der Aufstiegsgesellschaft sei zunehmend eine Abstiegsgesellschaft geworden. Mit einer Sozialwende will Bülow gegensteuern und Mitstreiter*innen gewinnen. Ein Grundsatzpapier – als Entwurf – ist erarbeitet.
Vertreter*innen von Sozialverbänden, Gewerkschaften und Journalisten bei Marco Bülow zu Gast
Während eines Pressefrühstücks im Biercafé West skizzierte der Bundestagsabgeordnete Marco Bülow – seit fast 18 Jahren im Bundestag, früher für die SPD, nun seit ca. zwei Jahren partei- und fraktionslos – sein Grundsatzpapier zur #Sozialwende.
Neben der Presse waren Vertreter*innen von Sozialverbänden und Gewerkschaften eingeladen worden. Eigentlich Umweltpolitiker, erklärte Bülow, habe ihn die soziale Frage doch auch immer schon bewegt. Zumal er aus der Nordstadt stammt, dort zur Schule ging und wisse, „dass da alles reinspielt“.
Vor einiger Zeit schon hatte Marco Bülow eine „Sozialtour“ unternommen, um dort hinzuschauen, wo die Abgeordneten meist nicht hingingen und er habe so viele gesellschaftliche Brennpunkte kennengelernt. Überdies war er mit Wissenschaftlern, Gewerkschaftlern und Sozialverbänden ins Gespräch gekommen und hatte sich mit diversen Studien beschäftigt.
Die schon vor fünf Jahren erkennbar gewesene Ungleichheit hat „noch einmal deutlich zugenommen“
Nun, 2020, habe er feststellen müssen, dass sich leider alle negativen Zahlen verstärkt hätten. Bis zur Corona-Zeit habe Deutschland wirtschaftlich ganz gut dagestanden. Sehr viel Wohlstand sei generiert worden. Aber dieser Wohlstand sei bei immer weniger Menschen angekommen. Inzwischen habe die schon vor fünf Jahren zu erkennen gewesene Ungleichheit „noch einmal deutlich zugenommen“.
Bülow: „Die Reparaturmaßnahmen, die es an einigen Punkten gegeben hat, haben bei weitem nicht ausgereicht, um das, was auf der anderen Seite kaputtgeht, wiedergutzumachen.“ Der Abgeordnete nannte ein Beispiel: Etwa sechs Millionen Menschen in Deutschland hätten einen Bedarf auf eine Sozialwohnung. Es gebe aber nur 1,2 Millionen davon. Immer mehr Menschen müssten einen immer größeren Betrag ihres Einkommens für Mieten ausgeben.
Diese umfassende Negativentwicklung hat Marco Bülow dazu bewogen, ein neues Papier zu schreiben. Eingeflossen sind darin die aktuellen Zahlen und seine vielfältig gewonnen neuen Erfahrungen.
Alle sozialen Hilfseinrichtungen in Dortmund, die er besuchte, hätten ihm gesagt: die Situation verschärft sich. Immer mehr Menschen bräuchten Hilfe, weil sie allein nicht mehr klarkämen. Dazu gehörten sogar Menschen, die Arbeit haben, aber trotzdem von Armut bedroht sind. Bülow fragte sich: „Wie kann das sein, in einem der wahrscheinlich reichsten Länder der Welt?“
Alarmierende Zahlen: Die Schere zwischen Arm und Reich geht immer weiter auf
Ein Prozent der Menschen in Deutschland besitzen 35 Prozent des Vermögens. Weitere neun Prozent besitzen 32 Prozent des Vermögens. Das heißt: Zehn Prozent in unserer Gesellschaft besitzen zwei Drittel des Vermögens.
Also 90 Prozent der Menschen in unserer Gesellschaft haben nur ein Drittel oder nur die Hälfte von dem, was zehn Prozent besitzen. 50 Prozent der Menschen haben nur ein Prozent des Vermögens.
700 Milliarden Euro werden in den kommenden Jahren Jahr für Jahr vererbt! Dennoch lebt mittlerweile lebt jede*r Sechste insgesamt in Deutschland an der Armutsgrenze. Bei Kindern bundesweit ist es jedes fünfte Kind – in Dortmund gar fast jedes dritte Kind, rechnet Bülow vor.
Jeder zehnte Beschäftigte lebt an der Armutsgrenze. Außerdem arbeitet etwa jede*r Vierte arbeitet hierzulande im Niedriglohnsektor (in Europa liegt Deutschland damit an der Spitze!). Ungefähr zehn Lebensjahre verlieren Menschen durch Armut.
Statt „sozialer Marktwirtschaft“ nun eine „feudale Marktwirtschaft“, stellte der Abgeordnete knallhart fest
Marco Bülows bittere Erkenntnis: „Wir haben keine soziale Marktwirtschaft. Es ist nur ein Mythos. Die haben wir schon die ganze Zeit nicht mehr. Es ist eine feudale Marktwirtschaft, in welcher einige Großkonzerne und Unternehmen deutlich im Vorteil sind. Die in der Not gerettet werden, wie die Lufthansa.“
Bülow leuchtet jedoch partout nicht ein, warum dieses Unternehmen – das nebenbei bemerkt einen Großteil seiner Steuern auf Malta bezahlt – mit neun Milliarden Euro gerettet werde (ohne Einfluss auf die Unternehmenspolitik zu haben), während hier die ganzen Kneipen und selbstständigen Geschäfte pleite gehen und keine Chance auf Rettung haben.
Weiter sei es so, dass Kinder, die in reichen Familien geboren werden, viel größere Chancen haben als diejenigen Kinder, deren Eltern nur einen kleinen Geldbeutel haben. „Daran muss sich klar was ändern“, forderte Bülow.
Marco Bülow setzt auf Umverteilung: „Es gibt in Deutschland genug Geld“
Um etwaigen Vorwürfen vorzubeugen, machte der Bundestagsabgeordnete klar: „Es gibt in Deutschland genug Geld.“ Weshalb er keine höheren Steuern, sondern eine Umkehrung und „andere Steuern“ fordere. An sich sei das Steueraufkommen ausreichend hoch. Allerdings ungerecht verteilt. Es habe eine ziemliche Umverteilung von Unten nach Oben stattgefunden. Auch sei der Faktor Arbeit viel zu hoch besteuert.
Marco Bülow skandalisierte: In den letzten zwei Jahren sei allein der Militäretat im Bundeshaushalt um sechs Milliarden Euro erhöht worden. Der gesamte Etat für Klima und Umwelt betrage jedoch keine drei Milliarden Euro.
Ebenso findet es Bülow empörend, dass diese Große Koalition keine Zielzahlen vorgibt, um wie viel Prozent und bis wann man die Armut in Deutschland zu verringern bzw. zu begrenzen gedenke.
Armutsrenten sind „eine immer größer werdende Zeitbombe“ warnt Marco Bülow
Auch der Mindestlohn gehöre auf den Prüfstand, da er bereits zu den jetzigen Gegebenheiten zu niedrig sei. Zumal sich dieses Manko ebenfalls in der Höhe der künftigen Rente niederschlage. „Das ist eine immer größer werdende Zeitbombe“, warnte Marco Bülow.
Gegenüber der Mindestrente ist er allerdings skeptisch. Das sei wiederum nur „Reparaturbetrieb“, denn die Steuerzahler*innen zahlten ja dann diese Mindestrente. Dabei seien doch die Arbeitgeber*innen aller Branchen in der Pflicht, einen auskömmlichen Lohn zu zahlen, der den Menschen im Alter eine vernünftige Rente garantiere. Noch immer werde nicht zugegeben, dass die Riester-Rente „ein Megaschuss in den Ofen war“, empörte sich der frühere SPD-Bundestagsabgeordnete und langjährige Kritiker der Agenda 2010.
Bülows Hauptkritik an der herrschenden Politik: „Es wird immer nur herumgedoktert. Zur Not muss der Steuerzahler ran. Nie wird das ganze System infrage gestellt, Das ganze Hartz-System wird nicht infrage gestellt. Dass immer mehr Menschen immer weniger vom Wohlstand haben, wird nicht gesehen.“ Auf der anderen Seite wird ein Riesengeld gemacht und gewaltige Profite akkumuliert. „Darüber wird nicht geredet. Das muss aufgebrochen werden“, wurde Bülow deutlich.
Umwelt- und Klimapolitik mit der Sozialen Frage zusammendenken – Bülow sieht sich als „Sprachrohr“
Als ausgewiesenem Umwelt- und Klimapolitiker ist Bülow auch wichtig, dieses Thema mit der Sozialen Frage zusammen zu denken. Es müsse eine Bewegung entstehen, die da an einem Strang ziehe.
Bülow möchte, dass sich dieser Bewegung Vereine, Initiativen und Verbände anschließen, in Austausch treten und „den Druck auf die Politik, auf den Bundestag verstärken und dementsprechend handeln“. Bei dem jetzigen Konjunkturpaket, so Bülow, „hätte man das schon machen können“.
Er sieht sich „als derjenige, der Sprachrohr für diese Gruppen ist“. Schon jetzt sei er das für viele Klimagruppen, die er auch in den Bundestag einlade. Immer mehr Menschen trauten der etablierten Politik nicht mehr, wollten aber eine Stimme im Bundestag haben. Beim ihm als Parteilosen könnten sie auch sicher sein, dass er das nicht „für irgendeinen Parteizweck missbraucht“.
Viele Bundestagsabgeordnete leben in einer Blase – ihr Fokus ist nicht auf soziale Probleme gerichtet
Bülow erklärte, woher das Nichtwahrnehmen sozialer Probleme vieler Abgeordneten rühre: „84 Prozent der Bundestagsabgeordneten sind Akademiker, 16 Prozent Nichtakademiker. In der Gesellschaft ist es andersrum: Lediglich 20 Prozent der Menschen sind Akademiker.“
Als Bülow in den Bundestag kam, waren selbst in der SPD-Fraktion fast alle Abgeordneten Akademiker gewesen. Doch ihre Eltern und ihr Umfeld waren es nicht. Heute sehe das anders aus. Man kenne Probleme von Kindern aus Nicht-Akademiker-Familien überhaupt nicht, denn man komme ja mit ihnen nicht in Berührung.
Diese Bundestagsabgeordneten bekämen nichts von gravierenden sozialen Problemen mit. In Berlin lebe man unter der Reichstagskuppel und somit in einer Blase. Marco Bülow: „Die Journalisten, mit denn man es zu tun hat, die Lobbyisten, mit denen man zu tun hat und die Kollegen, mit denen man zu tun hat, haben alle ein sehr gutes Auskommen und ihr Umfeld auch.“ Weshalb deren Fokus weg von den sozialen Problemen sei.
Gewerkschaftschefin Jutta Reiter lobte Bülows Papier als „gutes Grundsatzpapier“, regte aber ein Aktionsprogramm an
Die Vorsitzende des DGB Dortmund-Hellweg, Jutta Reiter, zeigte sich in der Diskussion, was dessen Sozialwende-Papier anbetrifft, ziemlich einig mit Bülows Ansichten. Wobei sie freilich nicht alle erhobenen Forderungen rückhaltlos unterstützen wollte. Ein Bedingungsloses Grundeinkommen etwa sei keine Alternative für den DGB.
Jutta Reiter nannte Bülows Arbeit „ein gutes Grundsatzpapier“. Allerdings fehle dem DGB ein Aktionsprogramm. Schließlich sei Marco Bülow allein im Bundestag. Sie verwies weiter auf die gravierende Veränderung der Arbeitswelt hin zu einer Dienstleistungsgesellschaft, die dem DGB große Bauchschmerzen bereite.
Eine Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen in allen Branchen sei der Gewerkschaft „ganz wichtig“. Wichtige Fragen für die Gewerkschafterin: „Hat ein Mensch ein auskömmliches Einkommen zum Leben. Hat er eigentlich auch ein auskömmliches Einkommen für sein Alter?“
Reiter: „Altersarmut ist sozusagen das Problem des Mindestlohns verschoben auf die Zukunft.“
Für das Gast-Haus zählt allein die Bedürftigkeit – die Warteschlangen sprechen Bände
Gesa Harbig vom Gast-Haus bestätigte das enorme Anwachsen der Armut in der Stadt. Immer mehr bedürftige arme Menschen aller Generationen nutzten die Einrichtungen, um eine warme Dusche zu nehmen und sich mit dringend benötigter Kleidung sowie Hygienemitteln zu versorgen. Und die Stadt Dortmund frage, was das für Leute sind, dass seien ja nicht nur Obdachlose.
Für das Gast-Haus zähle aber allein die Bedürftigkeit der Menschen. Gesa Harbig: „Dabei müsste doch eigentlich der Stadt klar sein, dass es hier viele in Armut lebende Menschen gibt.“ Die Stadt aber habe gar keine Zahlen, wie viele Obdachlose es gibt. Harbig: „Die Gruppe der in Armut lebenden Menschen ist gar nicht erfasst!“
Mittlerweile gingen die Schlangen der Menschen, die nach Essenspaketen anstehen, quer durch das Unionviertel. Nach anfänglichem Verständnis der Anlieger registriere man deswegen unterdessen bereits Beschwerden.
Manfred Sträters Kritik: „Wir haben 18 Jahre in dieser Gesellschaft für Sozialabbau benutzt“
Manfred Sträter, früherer Chef der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten in Dortmund und mittlerweile in Rente, kritisierte, dass die Situation in Deutschland nicht besser geworden ist. Im Gegenteil: „Wir haben 18 Jahre in dieser Gesellschaft für Sozialabbau benutzt.“ Wenn man nun über Altersarmut rede, dann sei dies das Ergebnis der „Reformen“ aus den Jahren 2001/2002.
Sträter macht sich auch um armen Menschen für die kommende kalte Jahreszeit Sorgen . Und wenn man konstatieren müsse, dass Kinder in ganz besonderer Art und Weise betroffen seien und sie auf einmal an der Essensausgabe am Gast-Haus stehen, dann zeige das doch, dass diese Gesellschaft, die Stadt Dortmund, das Land Nordrhein-Westfalen und die Bundesrepublik an der Stelle versagt hätten. Die Lufthansa könne man retten, Kinder nicht?! Manfred Sträter: „Wir brauchen eine Sozialwende – jetzt!“ Mindestens anfangen müsse man damit hier in Dortmund.
Für Marco Bülow indes ist eines klar: „Soziale Gerechtigkeit und Klimagerechtigkeit können und müssen wir uns leisten – aber dazu müssen wir uns mit den Mächtigen, den Lobbyist*innen und den Privilegierten anlegen.“
Hier gibt es das #Sozialwende -Papier als PDF zum Download:
https://marco-buelow.de/wp-content/uploads/2020/08/sozialwende2020.pdf
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Wohnungslose brauchen mehr Schlafplätze – Bülow fordert Rats-Sondersitzung zum Thema Wohnungslosigkeit (PM)
Wohnungslose brauchen mehr Schlafplätze – Bülow fordert Rats-Sondersitzung zum Thema Wohnungslosigkeit
„Immer mehr Menschen in Dortmund haben nach Angaben der Wohnungsloseninitiativen kein Dach über dem Kopf. Nach aktuellen Zahlen sind vermutlich ca. 1.500 Dortmunder*innen wohnungslos, davon über 600 Menschen ohne Unterkunft auf der Straße. Corona hat die Situation natürlich noch verschärft. Es ist zu befürchten, dass die Lage der Wohnungslosen im Winter besonders drastisch wird. Diese Situation ist nicht hinnehmbar. Selbst im derzeitigen Kommunalwahlkampf spielt dieses Thema keine Rolle.
Ich unterstütze die Forderungen der sozialen Initiativen in Dortmund nach mehr Schlafplätzen. Aufgrund der Corona-Pandemie können Hilfsorganisationen wie das Gast-Haus nur mit einem eingeschränkten Betrieb helfen. Vor dem Gast-Haus entstehen bereits jetzt lange Schlangen, die nach Einbruch des Winters die prekäre Situation der Menschen bei Minusgraden deutlich verschlechtern werden.
Ich fordere alle Fraktionen im künftigen Dortmunder Stadtrat auf, nicht bis zum Winter zu warten, sondern sehr zügig eine Sondersitzung zum Thema Wohnungslosigkeit einzuberufen. Die Situation der Wohnungslosen muss so schnell wie möglich entschärft werden. Dies muss gleich nach der Wahl passieren.“
Weitere Informationen dazu:
Wohnen ist ein Grundrecht
Die BAG Wohnungslosenhilfe zählt im Jahr 2019 678.000 Wohnungslose in Deutschland, was einem Anstieg von 4,2 % im Vorjahresvergleich entspricht. Wohnraum darf deshalb nicht mehr Spekulationsobjekt oder Luxusgut sein. Jahrelang ist die Zahl der Sozialwohnungen zurückgefahren worden. Ich halte es deshalb für sehr wichtig, dass im Rahmen der öffentlichen Wohnungsbauprogramme jährlich bundesweit mehr als 250.000 neue Sozialwohnungen geschaffen werden
Die Stadt Dortmund kann sich an Städten wie Bielefeld orientieren, die sich das erfolgreiche housing first-Modell zum Vorbild genommen haben. Betroffene werden bei diesem Modell zum Beispiel mit einem eigenen Mietvertrag in Wohnraum untergebracht und entsprechend unterstützt.
In meinem Sozialwendepapier habe ich mich auch ausführlich mit dem Thema Wohnen und weiteren sozialen Themen beschäftigt. Das gesamte Papier finden Sie hier: https://marco-buelow.de/sozialwende/