Einsamkeit – ein Thema, das viele Menschen betrifft, aber selten offen angesprochen wird. Im Dietrich-Keuning-Haus in Dortmund gibt es einen Ort, der genau dies ermöglicht: das Erzählcafé. Seit mehreren Jahren lädt die Veranstaltung regelmäßig dazu ein, über das Gestern, Heute und Morgen zu sprechen, Geschichten zu teilen und zuzuhören. Jeden dritten Donnerstag im Monat öffnet das Café von 14 bis 16 Uhr seine Türen und schafft so einen Ort des Zusammenkommens.
Die erste Hürde: Über den eigenen Schatten springen
„Man muss sich erst mal überwinden,“ sagt eine der Teilnehmerinnen, die zunächst gezögert hat, überhaupt zu kommen. „Ich war immer nur in meinem Kreis,“ erklärt sie und beschreibt, dass es für sie eine große Herausforderung war, sich auf neue Menschen und Angebote einzulassen.
Gedanken wie „Was sind da für Leute? Was kommt auf mich zu?“ hätten sie lange zurückgehalten. Doch genau diese erste Überwindung sei der Schlüssel, betonen viele. „Man muss es wagen, es das erste Mal zu machen“, fasst eine Teilnehmerin die Erfahrungen vieler zusammen. ___STEADY_PAYWALL___
Für manche war die Unterstützung von Freunden oder Bekannten entscheidend. „Jemand hat mich mitgenommen, und das hat mir den ersten Schritt erleichtert.“ Sobald man sich einmal getraut habe, werde der regelmäßige Besuch jedoch schnell zu einer Selbstverständlichkeit. Oder wie es Jürgen Pomowski, einer der Teilnehmer, ausdrückte: „Man ist gemeinsam weniger einsam.“
Das oft tabuisierte Thema Einsamkeit betrifft nicht nur Ältere
Ein Blick auf die Altersstruktur der Teilnehmenden zeigt, wie vielfältig die Lebensgeschichten sind: Die meisten Anwesenden wurden zwischen 1938 und 1948 geboren. Sie gehören zu einer Generation, die nicht selten mit dem Gefühl aufgewachsen ist, „immer funktionieren zu müssen“, wie Pomowski schildert. Die Treffen im Erzählcafé bieten vielen die Möglichkeit, diese Erfahrungen zu reflektieren und mit anderen zu teilen.
Im Gespräch wird deutlich, dass Einsamkeit längst nicht nur ältere Menschen betrifft. „Es gibt auch viele junge Menschen, die einsam sind, und das finde ich wirklich erschütternd“, sagt eine Teilnehmerin nachdenklich. Sie und andere kritisieren außerdem den Einfluss der Digitalisierung: „Jede:r guckt nur noch auf sein Handy. Früher hat man mehr miteinander gesprochen, heute klammert sich jede:r an sein Gerät.“
Eine ausgelassene Atmosphäre und Gespräche über alles Mögliche
Die Stimmung im Erzählcafé ist alles andere als bedrückend. Es wird viel gelacht, lebendig diskutiert und über die unterschiedlichsten Themen gesprochen. Erinnerungen an alte Zeiten, der Umgang mit Technik, das Schulsystem früher und heute, aber auch praktische Themen wie die Bedeutung von Bargeld oder die Sorge vor Fake-Anrufen kommen zur Sprache.
„Früher gab es eine ganz andere Mentalität“, berichten einige. „Wir hatten in der Schule Angst – uns wurde auf die Finger geschlagen, und es war klar: Du musst immer funktionieren.“ Heute sei vieles freier, doch es mangele oft an Respekt. „Der gute Mittelweg ist es“, betonen viele.
Technik und Digitalisierung polarisieren die Runde. „Die Enkel richten einem alles ein,“ erzählt Jürgen Pomowski mit einem Schmunzeln, „und ich komme mir manchmal vor wie ein Auslaufmodell.“ Trotzdem sind viele offen für die neuen Möglichkeiten. „Ich habe eine Alexa zuhause,“ berichtet Hannelore Walkenhorst.
„Letztens sagte ich ihr: ,Spiel Songs von Udo Jürgens.´ Als sie immer andere Vorschläge machte, habe ich gesagt: ,Alexa, du bist doof.´ Und sie hat tatsächlich geantwortet: ,Das war nicht nett von dir.´“
Eine bereichernde Aufgabe im Rentenalter
Eine besonders inspirierende Geschichte ist die von Jürgen Pomowski, der sich mit 68 Jahren entschloss, einen Bundesfreiwilligendienst im Rentenalter zu machen. Nach dem Tod seiner Frau suchte er nach einer neuen Aufgabe.
„Ich habe mein Leben lang auf Baustellen gearbeitet“, erzählt er. „Dann kam ich ins Dietrich-Keuning-Haus, und das war die beste Entscheidung.“ Der Dienst habe ihm neue Perspektiven eröffnet und sein Leben bereichert.
„Ich war, glaube ich, der erste in meinem Alter, der ein Bufdi gemacht hat. Und ich würde es jedem empfehlen.“ 2023 wurde Jürgen mit dem „Engel der Nordstadt“ ausgezeichnet, und zu seinem 80. Geburtstag erhielt er ein Buch voller Portraits, das ihn voller Freude zurückließ. „Die Bilder sind so schön geworden.“
Eine Liebe, die Jahrzehnte überdauert hat
Auch romantische Geschichten gehören zum Erzählcafé: Ein Pärchen, das gemeinsam an den Treffen teilnimmt, erzählt von seiner ersten Verabredung am blauen Briefkasten für Luftpost in Dortmund – einem markanten Treffpunkt, der damals den Weg zur großen Liebe ebnete.
„Wir haben uns beim Tanzen kennengelernt,“ berichten Gisela und Karl Hockertz, die seit jungen Jahren verheiratet sind und regelmäßig ins Erzählcafé kommen. „Ich gehe überall mit hin,“ sagt Karl Hockertz. „Für mich ist es egal, ob hier mehr Frauen als Männer sind. Ich fühle mich hier wohl.“
Ein offenes Angebot für alle mit spannenden Plänen für die Treffen
Das Erzählcafé richtet sich an alle, die Lust und Laune haben. „Es heißt Erzählcafé, und hier sind natürlich auch junge Leute willkommen,“ betonten sowohl Jürgen Pomowski als auch Susanne Schulte, die sich ehrenamtlich für das Erzählcafé engagiert. Die offene Atmosphäre macht es leicht, ins Gespräch zu kommen und neue Kontakte zu knüpfen.
Am Ende des Nachmittags wurden Ideen gesammelt, wie das Programm des Erzählcafés weiter bereichert werden könnte. Vorträge über Themen wie Ornithologie oder digitale Sicherheit, gemeinsame Spaziergänge im Park und Diskussionsrunden zu gesellschaftlichen Themen standen auf der Wunschliste. „Wir lassen uns nicht hängen,“ betonte eine Teilnehmerin, und die anderen stimmten ihr zu.
Das nächste Erzählcafé im Dietrich-Keuning-Haus findet am 20. Februar statt. Alle Interessierten sind herzlich eingeladen, die Geschichten anderer zu hören und ihre eigenen zu teilen. Der Eintritt ist frei.
Anm.d.Red.: Haben Sie bis zum Ende gelesen? Nur zur Info: Die Nordstadtblogger arbeiten ehrenamtlich. Wir machen das gern, aber wir freuen uns auch über Unterstützung!