Aus der Ukraine berichtet Paulina Bermúdez
Der russische Angriffskrieg drängt seit Anfang 2022 einen Großteil der ukrainischen Bevölkerung zur Flucht. Auch in Dortmunds zukünftiger Partnerstadt Schytomyr leben ukrainische Binnengeflüchtete. Wie sieht ihr Alltag aus? Wo sind sie untergebracht? Und wie schafft es eine Stadt, die selbst mit dem andauernden Kriegszustand konfrontiert ist, diese Herausforderung zu meistern?
Zwei Drittel der ukrainischen Bevölkerung seit Kriegsbeginn auf der Flucht
Seit Beginn des russischen Angriffskriegs im Februar 2022 befinden sich mehr als zwei Drittel der ukrainischen Bevölkerung auf der Flucht, wobei die „UNO Flüchtlingshilfe“ (Link dazu am Ende) die Zahl der Binnengeflüchteten derzeit auf über fünf Millionen Personen schätzt.
Mehr als 8,2 Millionen Ukrainer:innen leben derzeit in europäischen Ländern als Geflüchtete. Laut der Organisation bleiben genauere Zahlen aufgrund der wenigen Grenzkontrollen schwer zu ermitteln. In der EU registriert seien jedoch 5,1 Millionen Ukrainer:innen.
Besonders gravierend seien laut der Hilfsorganisation die Folgen des Krieges für die Infrastruktur: Verwüstungen und Zerstörungen führten dazu, dass die Grundbedürfnisse der Ukrainer:innen nicht erfüllt würden. Dazu zählt die „UNO Flüchtlingshilfe“ die Versorgung mit Lebensmitteln, Wasser und Medikamenten. Rund 17,6 Millionen Ukrainer:innen seien laut der Hilfsorganisation derzeit auf humanitäre Hilfe angewiesen. Statistischen Schätzungen zufolge leben derzeit etwa 36,6 Millionen Menschen in der Ukraine.
Mehr als 12.000 Binnenvertriebene beherbergt die Stadt Schytomyr
Der andauernde Krieg trieb 13.395 Binnenvertriebene in die Stadt Schytomyr (Stand 1. Juli 2023). Dabei handelt es sich um 3.459 Kinder, von denen 25 körperliche oder geistige Einschränkungen haben. Zur Zeit erreichen täglich zwischen sieben und zehn binnenvertriebene Personen die Stadt Schytomyr. In Zusammenhang mit jüngsten Kriegsereignissen stieg die Zahl der ankommenden Binnengeflüchteten aus Cherson, Mykolaiv und Zaporizhia stark an.
Für Ukrainer:innen, die aus aktiven Kriegsgebieten oder besetzten Gebieten nach Schytomyr fliehen, bietet die Abteilung für Sozialpolitik des Stadtrats von Schytomyr in den Räumlichkeiten des „transparent office“ ein umfassendes Sortiment sozialer Dienste an. Dazu zählt das Registrieren der Person, Unterstützung bei der Beantragung staatlicher Sozialhilfe und die Bereitstellung humanitärer Hilfen.
Konkret heißt dies, dass die Person in die Informationsdatenbank Binnenvertriebener aufgenommen wird und eine Meldebescheinigung erlangt. Zudem unterstützt die Abteilung für Sozialpolitik der Stadt Schytomyr die Person dabei, „Unterbringungshilfe“ zu beantragen. Diese beläuft sich auf 3.000 ukrainische Hrywnja (UAH) für Menschen mit Behinderungen und Kinder (73 Euro) und 2.000 UAH für andere Personen (48 Euro). Bei Bedarf erhält die binnenvertriebene Person zudem eine Beratung und Aufklärung über die Nutzung ihrer Rechte und Möglichkeiten als Binnenvertriebene.
Sichere, permanente Unterkünfte als Grundlage erfolgreicher Integration
Der Großteil der Binnenvertriebenen, die in Schytomyr registriert sind, lebt nach Angaben der Stadt bei Verwandten oder in angemieteten Räumlichkeiten. Die Stadt Schytomyr verfügt aber auch über eine Unterkunft mit einer Kapazität von 44 Personen, in der Binnenvertrieben zunächst für einen Monat unterkommen können. In der Zeit können sie sich einen festen Wohnsitz anmieten und einen Job suchen.
Ziel des Stadtrats ist es jedoch, die Binnenvertriebenen schnellstmöglich in die Stadtgesellschaft zu integrieren. Um dies zu erreichen sei es wichtig, den Geflüchteten ein dauerhaftes Zuhause bieten zu können, informiert die Stadt. Problematisch gestalte sich dies derzeit jedoch, da es im Gemeinschaftseigentum der städtischen Territorialgemeinschaft nur eine äußerst begrenzte Anzahl an Gebäuden gebe, in denen es möglich ist, Binnenvertriebene für einen langen Zeitraum unterzubringen.
Um diese Situation zu ändern plant der Stadtrat ein Projekt auf einem sechseinhalb Hektar großen Grundstück. Dort sollen 150 Häuser gebaut werden. Jedes der Holzhäuser soll Platz für vier bis sechs Personen bieten. Derzeit gibt es nur einige wenige Häuser und Apartments, die aus Mitteln verschiedener Organisationen und öffentlicher Gelder finanziert wurden und für Binnenvertriebene als dauerhafte Unterkunft dienen.
Besuch in Unterkunft für Binnengeflüchtete in Schytomyr
Vor einer dieser wenigen Unterkünfte steht die Leiterin der Abteilung für Soziales Olha Yurchenko. Sie kennt die vier Familien, die dort leben und freut sich über die neue, permanente Unterkunft. Diese liegt im Ergeschoss eines Mehrfamilienhauses.
Der Geruch frischer Renovierungsarbeiten hängt noch leicht in der Luft. Die Eingangstür, die über vier Treppenstufen von der Straße aus zu erreichen ist, führt in einen kleinen Wohnbereich, der offen an den Flur angrenzt. Von dem langen Flur gehen einzelne Zimmer für die Bewohner:innen ab, ebenso wie gemeinschaftliche Sanitäranlagen und eine große Wohnküche mit einer Spielecke für die dort lebenden Kinder. In den Zimmern, die alle teilmöbiliert sind, finden sich nur wenige persönliche Gegenstände.
Die Einrichtung ist einfach, aber hochmodern. Der Aufbau und das Konzept der Unterkunft erinnern an eine Wohngemeinschaft. Im riesigen Innenhof des Häuserblocks gibt es einen Fußballplatz, einen kleinen Spielplatz, Bänke und Grünflächen. Dort spielen auch die Kinder aus den umliegenden Häusern. Der Innenhof lädt zum Austauschen und Kennenlernen ein.
Zwischen dem Willen anzukommen und schmerzhaften Erinnerungen
Eine Bewohnerin der Unterkunft ist die 21-Jährige Katia. Sie kommt aus der Stadt Cherson im Süden der Ukraine. Jüngst stand die Stadt im Fokus vieler Medienberichte, da in der Region ein Staudamm durch die russische Föderation zerstört worden war. Die Folgen für die Zivilbevölkerung: Gravierend.
Die Führung des Europarats sieht in den Angriffen auf die zivile und kritische Infrastruktur von Seiten Russlands einen Verstoß gegen das humanitäre Völkerrecht. Auch auf Katias Leben hat die Zerstörung des Staudamms einen direkten Einfluss: Ihre Eltern und Schwiegereltern hatten nicht die Möglichkeit ebenfalls zu fliehen und leben weiterhin im Kriegsgebiet. „Ich habe große Angst um meine Familie“, sagt Katia.
Auf dem Arm hält die junge Frau ihre Tochter. Fünf Monate lebte Katia mit ihrer Tochter Nikol in Cherson auf durch russische Truppen besetztem Gebiet. Zunächst sei sie mit ihrer Familie von der Stadt aufs Land gezogen, in der Hoffnung, dort sicherer zu sein, erzählt Katia. „Nikol war noch sehr klein. Wir hatten am Anfang keine Angst, weil wir keine russischen Soldaten sehen konnten. Als dann Bomben fielen bekam meine Tochter große Angst“, erzählt die junge Mutter. Für sie sei dies ein Wendepunkt gewesen: Sie beschloss, ihr Zuhause hinter sich zu lassen.
Alleine und mit einem acht Monate alten Baby begab sich Katia dann auf die Flucht. Um Schytomyr zu erreichen, musste die junge Mutter eine weite Reise auf sich nehmen: Zunächst über die Krim, anschließend über Litauen und Polen gelang es ihr, in den westlichen Teil der Ukraine zu gelangen. Hier in Schytomyr fühle sie sich nun sicher, verrät sie mit einem verhaltenen Lächeln. Auf die Frage, ob der Vater ihrer Tochter Soldat sei, reagiert Katia emotional. Mit Tränen in den Augen schüttelt sie bloß den Kopf. „Darüber kann ich nicht sprechen“, sagt sie. Ihre glasigen Augen und der traurige Blick lassen nur erahnen, wie schwer es ihr fällt, an ihren Partner zu denken.
Teenager inmitten des Krieges und die nicht schwindende Hoffnung auf eine gute Zukunft
Auch die 17-Jährige Darya lebt mit ihrer Pflegefamilie in der Unterkunft für Binnenvertriebene. Sie kommt aus Charkiw, der zweitgrößten ukrainischen Stadt im Osten des Landes, unweit der ukrainisch-russischen Grenze. Die Umgebung der Millionenstadt war monatelang besetzt. Noch immer gehen fast täglich russische Raketen auf die Stadt nieder.
„Bomben fielen neben unserem Haus nieder, die Fenster zerbarsten“, erinnert sich Darya. Sie habe ihr Zuhause jedoch trotz der akuten Gefahr nicht verlassen wollen. Ihre Pflegeeltern hingegen hätten sich schnell zur Flucht entschieden, erzählt die Jugendliche. So verließ die Familie mit der damals 15-jährigen Darya ihre Heimatstadt Charkiw im Mai 2022.
Mitnehmen von Zuhause konnte sie lediglich einen kleinen Rucksack. Fotos ihrer verstorbenen, leiblichen Eltern waren ihr wichtigstes Gepäckstück. Darya gibt zu: „Ich hatte Angst, dass die Erinnerungen an meine Eltern mit dem Verlassen meiner Heimatstadt sterben würde. Ich hatte das Gefühl alles zu verlieren.“ Die Entscheidung zu fliehen, sei rückblickend jedoch die Richtige gewesen, findet sie heute: Eine Woche nach Verlassen der Stadt, sei das Haus der Familie durch den Krieg gänzlich zerstört worden.
„Ich kann mich an eine Situation erinnern, in der russische Soldaten auf unser Auto schossen“, erzählt die Jugendliche. Auf die Frage, wie sie sich gefühlt habe, erwidert sie, unbeschreiblich große Angst empfunden zu haben. Während der Flucht habe sie allerdings auch Kämpfe zwischen russischen und ukrainischen Truppen gesehen. „Es gibt viele Dinge, die im Fernsehen nicht gezeigt werden, wie Massaker und Massenerschießungen“, stellt sie mit ernster Miene fest.
Drei Tage habe die Flucht gedauert, berichtet Darya. Immer wieder habe die Familie Umwege nehmen müssen. „Erst fuhren wir mit einem Auto und ließen es stehen. Dann ging es weiter mit dem Zug, anschließend mit dem Bus“, erzählt sie. In Schytomyr fühle sie sich nun endlich einhundertprozentig sicher, sagt sie lächelnd. Sie berichtet, soeben das Abitur bestanden zu haben und im kommenden Semester Informatik studieren zu wollen. „Ich hoffe auf eine gute Zukunft“, sagt Darya zuversichtlich und lächelt.
Mehr Informationen:
- Link zur Flüchtlingshilfe
- Link zu Statistischen Schätzungen
- Link zur Erklärung des Europarates
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