SERIE „Ein Jahr nach dem 7. Oktober“: Im Gespräch mit Dr. Hisham Hammad

Über den Nahostkonflikt und ihre Auswirkungen auf die palästinensische Gemeinde in Dortmund

Foto: Alexander Völkel für nordstadtblogger.de

Seit dem 7. Oktober 2023, dem Überfall der terroristischen Hamas auf den Staat Israel, fühlen sich viele Palästinenser:innen hierzulande in der öffentlichen Debatte nicht mehr wahrgenommen. Zahlreiche von ihnen haben Angehörige in Gaza verloren und haben das Gefühl, dass sie ihre Erlebnisse und Empfindungen nicht mehr äußern können. Dr. Hisham Hammad ist Fachzahnarzt für Kieferorthopädie und zugleich auch Vorsitzender des Vereins „Palästinensische Gemeinde zu Dortmund e. V.“. Er wurde in Jerusalem geboren und lebt seit mehr als 40 Jahren in Deutschland. Regelmäßig hat der Fachzahnarzt Kontakt zu Freunden und Familie, von denen einige in Ramallah, andere in der Westbank und in Gaza leben. Er telefoniert mit ihnen, will wissen, was ihnen im Krieg tagtäglich widerfährt. Im Gespräch spricht der gebürtige Palästinenser über Antisemitismusvorwürfe, den Vertrauensverlust in die deutschen Medien und die Bemühungen der palästinensischen Gemeinschaft, in der öffentlichen Debatte mehr berücksichtigt zu werden.

Herr Hammad, wie geht es in Deutschland lebenden Palästinenser:innen zur Zeit?

Dr. Hisham Hammad ist Fachzahnarzt für Kieferorthopädie und zugleich auch Vorsitzender des Vereins „Palästinensische Gemeinde zu Dortmund e. V.“. Im Gespräch spricht der gebürtige Palästinenser über Antisemitismusvorwürfe, den Vertrauensverlust in die deutschen Medien und die Bemühungen der palästinensischen Gemeinschaft, in der öffentlichen Debatte mehr berücksichtigt zu werden.
Dr. Hisham Hammad. Foto: Chimène Goudjinou

Auf der einen Seite sind wir zerrissen. Wir denken an unser Land, an unsere Leute, die wir lieben. An die Familien und Freunde, an die Dörfer und Städte, aus denen wir kommen. Manchmal schaffst du es nicht zu schlafen, wenn du die Nachrichten hörst. Jederzeit musst du damit rechnen, dass einer deiner Verwandten durch das israelische Bombardement getötet wird.

Auf der anderen Seite leben wir hier in Sicherheit in Deutschland. Viele aus der ersten Generation, mittlerweile aber auch aus der zweiten, dritten und vierten Generation. Aber mittlerweile bezweifeln wir die Aufrichtigkeit dessen, was wir hier in Deutschland gelebt und gelernt haben, von Menschenrechten bis hin zur Selbstbestimmung und Meinungsfreiheit.

Wir bezweifeln es, weil es vielen Palästinenser:innen untersagt wird, gegen die Massenvernichtung durch die israelische Armee zu protestieren und diese auch als solche zu bezeichnen. Wir sind bemüht, die Palästinenser:innen hier in Deutschland – das sind über eine halbe Million – ruhig zu halten, friedlich gegen die Besatzung und gegen den Genozid zu protestieren und dabei die hiesigen Gesetze und Anordnungen einzuhalten.

Nehmen Sie seit dem 7. Oktober 2023 eine Zunahme von Anfeindungen gegen Palästinenser:innen wahr?

Ich nehme es nicht nur bei anderen wahr, ich habe es sogar persönlich erlebt – durch die Polizei. Dabei sollte die Polizei Freund und Helfer für alle Menschen in der Bundesrepublik Deutschland sein – egal welcher Herkunft, Hautfarbe, Religion und politischen Überzeugung, solange sie anderen keinen Schaden zufügen.

Nach dem Terrorangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 erließ das Bundesinnenministerium ein Verbot der Parole in allen Sprachen. Foto: Alexander Völkel für nordstadtblogger.de

Ich kann mich zum Beispiel an eine Demo in Wuppertal erinnern. Da haben wir ein Transparent vorbereitet. Wir haben ein Bild von der Stadt Dresden nach Ende des Zweiten Weltkrieges einem Bild von Gaza heute gegenübergestellt. Und da wurde ich von den Polizisten beschimpft und eingeschüchtert, das Transparent wurde einkassiert.

Wir mussten auch öfter erleben, wie auf unseren Demos bestimmte Parolen verboten werden. Zum Beispiel „From the river to the sea. Palestine will be free“. Obwohl die Polizisten und die Gesetzgeber in diesem Land ganz genau wissen, dass Gaza als Teil des Palästinensischen Staates am Mittelmeer liegt und die Westbank am Fluss. Wenn wir die Parole sagen meinen wir von der Westbank bis nach Gaza.

Wir dürfen diese Parole aber nicht benutzen, weil sie aus Sicht der Polizei und des Sicherheitsdienstes antiisraelisch ist. Somit wird uns untersagt, das zu beschreiben, was mit uns passiert, wie wir das empfinden. Das ist ein grober Verstoß gegen die Menschenrechte und die Meinungsfreiheit. 

(Anmerkung der Redaktion: Am 2. November 2023 verbot das Bundesinnenministerium die terroristische Hamas als Vereinigung in Deutschland und mit ihr bereits den ersten Satz der Parole „From the river to the sea. Palestine will be free.“ Vorher war die gesamte Parole nur in Einzelfällen strafbar. Dabei wird davon ausgegangen, dass als Fluss der Jordan und als Meer das Mittelmeer gemeint ist. Genau in dem Territorium befindet sich der Staat Israel. Der Teil „Palestine will be free“ kann dann als Aufforderung zu einer gewaltsamen Beseitigung des Staates Israels verstanden werden.)

Hat sich der Alltag der hier lebenden Palästinenser:innen seit dem 7. Oktober verändert?

Seit den ersten Monaten nach dem 7. Oktober nehmen wir negativen Veränderungen wahr. Im Geschäft, im Alltag, aber auch durch die einseitige Medienberichterstattung. Aber ich finde, dass sich die Stimmung in Deutschland – wie auch in der ganzen Welt – mittlerweile geändert hat. Viele Menschen sehen, dass die Ursache dieses Krieges die israelische Ungerechtigkeit gegen die Palästinenser:innen ist. Vor allem, wie mit den Palästinenser:innen in Gaza umgegangen wird. Dass da wirklich alles vernichtet wird.

Foto: Alexander Völkel für nordstadtblogger.de

Die Deutschen haben das dann allmählich auch mitbekommen, von nicht-deutschen Medien aus England und Amerika, wie zum Beispiel CNN. Der Vorwurf des Antisemitismus ist mittlerweile milder geworden. Viel mehr Deutsche sehen ein, dass den Palästinenser:innen ein historisches Unrecht getan wird.

Deshalb werden die Nachteile für uns hier in Deutschland immer weniger und die Sympathie immer größer. Wir fühlen uns hier in Deutschland wie Zuhause und möchten auch so behandelt werden.

Glauben Sie, dass die Lebensrealität von Palästinenser:innen in Deutschland ausreichend in der öffentlichen Debatte berücksichtigt wird?

Nein, das glaube ich nicht. Ich glaube immer noch, dass in Deutschland einseitig über die Ereignissen im Nahen Osten berichtet wird. Dabei wird der Fokus immer auf die Nachteile der israelischen Bevölkerung durch diesen Krieg gelegt, dessen Ursache aber die israelische Armee ist. Auf der anderen Seite wird das Leiden der Palästinenser:innen – die Vertreibung sowie die Zerstörung ihrer Häuser, Krankenhäuser, Kindergärten, Apotheken und Schulen – entweder verharmlost oder sogar verschwiegen.

Foto: Alexander Völkel für nordstadtblogger.de

Es wird eine einseitige Berichterstattung betrieben, die zum Nachteil vieler Palästinenser:innen in Deutschland erfolgt. Wir hoffen, dass Politik und Medien diese Einseitigkeit so schnell wie möglich überwinden und mehr Objektivität in ihre Berichterstattung einfließen lassen.

Schalte ich WDR, ZDF oder ARD ein, wird jeder Angriff der israelischen Armee in Gaza oder im Libanon mit der Terrorbekämpfung gerechtfertigt. Es wird aber nicht erwähnt, dass die israelische Armee die Palästinenser:innen seit 70 Jahren tagtäglich in ihrem Alltag schikaniert.

Was unternimmt die palästinensische Gemeinde dagegen?

Wir versuchen, die einseitige Berichterstattung zu kritisieren und zu korrigieren. Zudem bemühen wir uns, ein Sprachrohr für Gerechtigkeit im Palästina-Israel-Konflikt zu sein, indem wir eine klare Botschaft vermitteln: Wir setzen uns für eine Zweistaatenlösung ein, wie sie von den UNO-Mitgliedsstaaten beschlossen wurde.

Foto: Alexander Völkel für nordstadtblogger.de

Deshalb möchten wir weder degradiert, noch als Terroristen bezeichnet werden, sondern fordern eine objektive Berichterstattung über unser Leid und die 70 Jahre andauernder Schikane durch die Israelis. Unser Hauptziel ist es, als Gemeinde kulturelle, menschliche und soziale Brücken zwischen Deutschland und Palästina zu bauen. Auch in der Auslandsgesellschaft versuchen wir unsere Botschaft an die Deutschen und an alle Menschen aus den 80 verschiedenen Staaten, die hier in Dortmund leben, zu vermitteln.

Wir wollen Frieden und Gerechtigkeit in Palästina – nicht mehr und nicht weniger. Dabei verweigern wir nicht das Recht der anderen, das heißt, des israelischen Staates und seiner Existenz. Wir wollen nur nicht von diesem Staat unterdrückt und als Terroristen bezeichnet werden, sondern als gleichwertige Menschen auf Augenhöhe mit den Jüdinnen und Juden in Israel.

Sind Sie bereits mit dem Deutsch-Israelischen Länderkreis in Kontakt getreten?

Wir sind gesprächsbereit und haben keine Berührungsängste. Zudem würden wir uns sehr über jedes konstruktive Gespräch mit der israelischen Gemeinschaft freuen, aber auch mit der jüdischen Gemeinde. Denn wir sitzen alle im gleichen Boot, ob wir es wollen oder nicht. Wir müssen dazu beitragen, dass dieses Boot über Wasser bleibt. Wir wollen in einem Land leben, und es gibt genug Platz für uns alle – nur keinen Platz für Schikane, Vertreibung und die Massenvernichtung des palästinensischen Volkes. 

Wie stehen Sie zum Vorwurf des Antisemitismus in der aktuellen Diskussion?

Wenn ich mich gegen die Besatzung ausspreche oder auch aktiv werde, dann geschieht dies gegen die Besatzung Israels – und nicht grundsätzlich gegen Jüdinnen und Juden. Denn wir gehen respektvoll mit der jüdischen Religion um, ebenso wie mit den westlichen und muslimischen Religionen.

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Insofern empfinden wir es als Unrecht. Und immer wieder erleben wir durch die Medien und die Politik, wie oft uns Antisemitismus vorgeworfen wird. Zu Unrecht, denn wir kritisieren die brutale Politik, die in der Geschichte Israels ohnegleichen ist, und wir betreiben keine Judenfeindschaft. Das ist ein großer Unterschied.

Der Vorwurf des Antisemitismus ist für uns sogar eine Beleidigung, denn wir setzen uns dafür ein, dass Jüdinnen und Juden, Muslim:innen und Christ:innen friedlich und gleichberechtigt, auch in Palästina, leben können. Wir haben keine andere Alternative als die Zweistaatenlösung. Israel neben Palästina – aber auf Augenhöhe und ohne gegenseitige Unterdrückung oder Gewaltanwendung.


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