Von Paulina Bermúdez und Alexander Völkel
Vor genau einem Jahr starb der 16-jährige Geflüchtete Mouhamed Lamine Dramé in der Nordstadt durch die Schüsse aus einer Maschinenpistole der Polizei. Der junge Senegalese starb, nachdem die Betreuer:innen in seiner Wohngruppe die Polizei gerufen hatten. Sie fürchteten, dass der traumatisierte 16-Jährige sich selbst etwas antun könnte. Letztendlich starb der Geflüchtete durch das Handeln der Polizei. Reflexartig stellte sich direkt danach der NRW-Innenminister vor seine Polizeikräfte, ohne nähere Details zum Einsatz zu kennen. Dieser hat mittlerweile Anklagen gegen fünf Einsatzkräfte nach sich gezogen. Nordstadtblogger hat nachgefragt, wie Herbert Reul heute den damaligen Einsatz und seine Reaktion bewertet.
NRW-Innenminister Reul zieht Konsequenzen aus dem Fall Mouhamed
„Ein unabhängiges Gericht wird in Kürze damit beginnen, den Fall juristisch gründlich und vollständig aufzuklären. Am Ende dieses Verfahrens wird Recht gesprochen. Dazu ist unser Rechtsstaat den betroffenen Polizistinnen und Polizisten gegenüber verpflichtet, für die – wie für alle Beschuldigten – bis zu einer Verurteilung die Unschuldsvermutung streitet“, betont NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) in einer schriftlichen Stellungnahme gegenüber Nordstadtblogger.
„Klarheit zu schaffen, das sind wir aber vor allem auch den Angehörigen des Getöteten schuldig. Ich vertraue dabei auf unsere unabhängige Justiz. Unabhängig von der juristischen Bewertung, habe ich mir nach diesem Einsatz eine Vielzahl von Fragen zum operativen Einsatzablauf gestellt. Und als Lehre aus diesem Einsatz ist in der NRW-Polizei bereits einiges angestoßen und verändert worden“, so Reul weiter.
Der tragische Fall Mouhamed aus Dortmund hat damit auf Landesebene zu Veränderungen geführt – in der Aus- und Weiterbildung, im Umgang mit Menschen in psychischen Ausnahmesituationen sowie beim Tragen von Bodycams.
Die Trage- und die Einschaltpflicht der Bodycam wurden erweitert
Zwölf Einsatzkräfte der Polizei waren beim tödlich endenden Einsatz in der Nordstadt dabei. Einige der Beamt:innen trugen Bodycams, aber eingeschaltet war keine einzige. Innenminister Reul hatte dies auch am 23. März 2023 im Innenausschuss des NRW-Landtags thematisiert: „Mit Blick auf den Vorfall in Dortmund beschäftigt mich eine weitere Frage immer wieder: Warum waren die Bodycams, mit denen die Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten des Wachdienstes ausgestattet sind, nicht eingeschaltet? Wir reden da über mehr als 9.000 Geräte, die wir angeschafft haben“, so Reul.
Aber diese Frage lasse sich nicht so einfach und pauschal beantworten: „Die Juristen von Ihnen wissen das besser: Das Polizeigesetz legt die Voraussetzungen fest, wann eine Bodycam zur Aufzeichnung eingeschaltet werden kann. Aber das Ziel ist doch klar: Es muss erreicht werden, dass zumindest in den Fällen, in denen die Bodycam angeschaltet werden darf, diese auch eingeschaltet wird.“
„Als Reaktion auf diesen Polizeieinsatz wurde eine Tragepflicht der Bodycam für alle uniformierten und im operativen Außendienst eingesetzten Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten eingeführt. In diesem wurde auch darauf hingewiesen, dass mit Blick auf den hohen Rang der geschützten Rechtsgüter von Leib und Leben der eingesetzten Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten sowie Dritter ein Anschalten der Bodycam nach §15c Abs. 1 Polizeigesetz NRW bereits in einem frühen Gefahrenstadium angezeigt ist“, verdeutlicht ein Sprecher des NRW-Innenministeriums.
Eine Einschaltpflicht – wie von vielen Kritiker:innen gefordert – ist das aber noch nicht. „Das ist also eine Art Einschaltempfehlung. Das ist der Schritt, den wir jetzt gehen“, so Reul im Innenausschuss. „Und wir werden uns genau anschauen, ob das in der polizeilichen Praxis so umgesetzt wird, wie wir uns das wünschen. Wenn man sich aber vor Augen führt, dass eine laufende Aufnahme aus einer Bodycam nachweislich zur Deeskalation beiträgt, ist das aus meiner Sicht ohnehin ein großer Gewinn.“
Vielen Kritiker:innen reicht das nicht: „Wir denken, dass Bodycams nicht dazu betragen, Transparenz über polizeilichen Handeln herzustellen, was dringend notwendig ist. Sowohl der Zeitpunkt des Einschaltens als auch die Rahmung der gefilmten Situation sowie die Auswertungen obliegen der Polizei selbst“, kritisiert der Solidaritätskreis „Justice For Mouhamed“. „Das stärkt Narrative und Darstellungen der Polizei, die sich wie mehrfach angeführt durch Rassissmus, Klassissmus auszeichnen. Derzeit wird im Gegenzug darüber debattiert, das Filmen von Polizeieinsätzen gänzlich zu verbieten. Die Schieflage und einseitige Deutungshoheit wird hier offensichtlich.“
Sensibilisierung im Umgang mit Menschen in psychischen Ausnahmesituationen
Doch das war nicht die einzige Veränderung, die der Fall Mouhamed bei der Landespolizei bewirkt hat. Nach dem Polizeieinsatz vom 8. August 2022 in Dortmund wurde laut NRW-Innenministerium ein umfangreicher Analyseprozess eingeleitet.
„Es wurden deutliche konzeptionelle Veränderungen in der Fortbildung vorgenommen, mit dem Ziel, die Polizeibeamten besser auf Situationen vorzubereiten, in denen sie auf Menschen in psychischen Ausnahmesituationen treffen“, verdeutlicht ein Sprecher des NRW-Innenministeriums mit Blick auf die Weiterentwicklung der polizeilichen Fortbildung.
Zur Umsetzung dieses strategischen Ziels sei ein multimediales Drei-Stufen-Konzept erarbeitet worden. Dazu gehören die Verdopplung des Situationstrainings, Wissensvermittlung und Sensibilisierung durch einen Podcast sowie die Sensibilisierung von Führungskräften.
Zudem wurden die Dienstvorschriften ergänzt, um Einsatzkräfte für die besonderen Gefahren im Umgang mit Menschen in psychischen Ausnahmesituationen zu sensibilisieren und der Bedeutung der fremdsprachigen Kommunikation im Einsatz Rechnung zu tragen. „Für die Praxis heißt das, dass den Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten umfangreiche Unterstützungsmöglichkeiten zur Kommunikation mit fremdsprachigen Personen im Einsatz, beispielsweise eine auf den dienstlichen Smartphones implementierte Übersetzungs-App, zur Verfügung gestellt wurden“, so der Sprecher des Innenministeriums weiter.
Weitergehende Angebote wünschen sich die Dortmunder Selbstorganisationen der Migrant:innen (MSO): „Wir haben ein Konzept entwickelt, wo einige Polizisten aus der Polizeiwache Nord traumatisierte Jugendliche getroffen haben, die schlechte Erfahrungen mit Polizisten u.a. auch im Heimatland oder auf der Flucht hatten“, berichtet Fatma Karacakurtoglu von „Train Of Hope“.
Das Treffen fand zunächst in den Räumen des Vereins statt, anschließend gab es eine gemeinsam Führung durch die Polizeiwache. „Das Konzept wurde allen Polizeirevieren in Dortmund weitergeleitet und wir hoffen, das somit Vertrauen bei den Jugendlichen wiederhergestellt wird.“
Doch eine unabhängige Beschwerdestelle bleibt das Ziel der Selbstorganisationen. Unter anderem der Planerladen arbeitet an einem entsprechenden Antrag. Gemeinsam mit der Polizei arbeiten die MSO an weiteren Verbesserungsmöglichkeiten. „Aber es ist halt ein Prozess, welcher Zeit braucht, um sich zu entwickeln. So ist das eben mit Vertrauen“, so Karacakurtoglu.
Gibt es internalisierte, rassistische Vorurteile bei der Polizei?
Das Vertrauen in die Polizei ist massiv verloren gegangen. Nicht erst seit dem fatalen Polizeieinsatz vor einem Jahr gibt es viel Kritik an der Polizei. Insbesondere der Nordstadt-Wache wird Rassismus, Sexismus und Racial Profiling vorgeworfen. Ein Vorwurf: Es gibt internalisierte, rassistische Vorurteile bei der Polizei. Eine Untersuchung darüber wurde von Seiten der Innenminister immer abgelehnt.
„In Bezug auf den Einsatz am 8. August 2022 hatte ein Drittel der dabei eingesetzten Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten – nach der Definition des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge – selbst einen Migrationshintergrund. Hinweise darauf, dass die Hautfarbe des 16-Jährigen bei dem Einsatz eine Rolle gespielt haben könnte, haben sich laut Staatsanwaltschaft nicht ergeben“, heißt es dazu aus dem NRW-Innenministerium.
„Unabhängig von dem Fall sind die Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten des Landes Nordrhein-Westfalen Garanten für die Aufrechterhaltung der Inneren Sicherheit. Sie handeln bürgerorientiert, professionell und rechtsstaatlich. Ihre Integrität ist unabdingbare Voraussetzung für das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Polizei und für die Stärkung des Sicherheitsgefühls innerhalb der Bevölkerung, unabhängig von Nationalität, Glaube, politischer Überzeugung oder sexueller Orientierung“, so der Sprecher weiter.
Das Ziel: „Steigerung der demokratischen Resilienz bei der Polizei NRW“
Dennoch sei man sensibilisiert: „Im Zusammenhang mit dem Bestreben einer Steigerung der demokratischen Resilienz bei der Polizei NRW wurde nach dem Bekanntwerden mutmaßlich rechtsextremistischer Chats ein ganzheitliches Handlungskonzept zur Stärkung des rechtsstaatlichen Wertefundamentes der Polizei NRW und zur Entgegnung gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit vorgestellt“, heißt es dazu aus Düsseldorf.
Zur Erinnerung: „Resilienz ist nicht nur, wie aus der Pädagogik bekannt, die Fähigkeit von Personen, Krisensituationen und Stress zu überstehen, sondern auch ein Begriff, der für Regionen und Kommunen Verwendung findet, und hier in besonderer Weise die Anpassungsfähigkeit an neue Umweltbedingungen beschreibt und die Fähigkeit, Zukunft zu antizipieren und sich gestaltend auf sie einzustellen“, fabuliert es der deutsche Rechtswissenschaftler Emeritus Thomas Klie von der EH Freiburg. „Eine von Vertrauen geprägte Beziehungskultur“ gehöre daher zu den Grundsteinen eines widerstandsfähigen Gemeinwesens von Zivilgesellschaft und Ordnungsgewalt.
Ein Kernelement stelle ein jährliches Supervisions-Angebot dar: „Die Reflexion der persönlichen Belastungen durch den Polizeialltag soll einen wesentlichen Beitrag dazu leisten, der Entstehung unerwünschter Stereotype und Vorurteile bis hin zu extremistischen Tendenzen entgegenzuwirken. Integraler Bestandteil der umfangreichen Gesamtkonzeption sind Hintergründe, Entstehung und der Umgang mit gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit, deren Ausprägungen auch Formen des Antisemitismus und Rassismus beinhalten können“, verdeutlicht das Innenministerium gegenüber Nordstadtblogger.
Als Auswirkung der Handlungsempfehlungen verfügt das Landesamt für Aus- und Fortbildung NRW darüber hinaus seit Juni 2022 über ein Kompetenzzentrum zur Förderung der demokratischen Resilienz, das die Behörden beispielsweise bei der inhaltlichen Gestaltung des Dienstunterrichts unterstützt. „Rassistische Vorurteile spielen daher grundsätzlich bei der alltäglichen Einsatzwahrnehmung keine Rolle“, so der Sprecher des Innenministeriums.
Worte, die viele der Demonstrant:innen, die im letzten Jahr in Dortmund gegen Polizeigewalt und Rassismus auf die Straße gegangen sind, nicht glauben können – sie werden auch diese Woche weiter demonstrieren…
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Über Bodycams, demokratische Resilienz und Menschen in psychischen Ausnahmesituationen
Reader Comments
Wolfgang Richter
Wolfgang Richter
Reaktion vom 22. März 2023 – Antwort
Vor kurzem habe ich an dieser Stelle zur ideologischen Verfassung der hiesigen Polizei und ihrer gewaltförmigen Einstellung bei Rudel-Einsätzen gegen ‚Andere‘ geschrieben und Fragen gestellt. Am Skandal haben die wenig problembewusst inszenierten Pressemitteilungen, Talks usw. nichts geändert . Welche Fragen wird das Gericht wem stellen, welche Zeugen wird es vorladen, welche Urteile gegen wen wird es aussprechen? Wann und ob überhaupt.
Wolfgang Richter
Reaktion vom 17. Februar 2023
Dem Staatsanwalt ist für seinen Mut zu danken, den sinnlosen Tod des Jungen aus dem Senegal und daran beteiligte Polizei vor Gericht zu stellen. Es ist aber zu fürchten, dass der Versuch, polizeiliches Versagen zu be- und verurteilen, zu kurz greift und “Bewährungen” und “Freisprüche” produzieren wird.
Der Totschlag war eine Tat im Rudel – eine ganze Polizeiwache war engagiert und kollektiv beteiligt. Ein Einsatzleiter hat befohlen – ist ihm niemand ins Wort gefallen? Zwei Polizistinnen haben Nahkampfinstrumente eingesetzt – hat keiner ihrer Kameraden Halt gerufen? Ein Waffenträger hat geschossen – hat ihm niemand die Waffe aus der Hand gedreht?
Ein halbes Jahr wurde recherchiert, wer im Rudel mehr und wer weniger beteiligt war. Das ist gut. Aber anzuklagen ist vor allem auch die Rudelbildung selbst und ihre gedankliche und ideologische Verfassung. Polizeipräsidenten und Justizminister tragen Verantwortung, der sie nicht gewachsen sind.
Garp
Das Thema „Body-Cams“ lenkt doch nur vom eigentlichen Thema ab.
Was wäre denn anders gewesen, wenn diese Kameras eingeschaltet gewesen wären?
Ich denke nicht, dass der Polizist mit der Maschinenpistole sich anders verhalten hätte, da er sich bedroht fühlte und deshalb geschossen hat.
Nur für die Aufklärung nach der Tat ist es besser, wenn man Bilder von diesen Kameras hat. Leider machen diese Bilder die Tat nicht ungeschehen.
Das Thema ist doch: Was läuft falsch in der Ausbildung zum Polizisten?