Nach einem Jahr der Verhandlungen fiel heute (12. Dezember 2024) das Urteil im Fall Mouhamed Lamine Dramé. Der Jugendliche wurde bei einem Polizeieinsatz, der ihn selbst vor einem Suizid bewahren sollte, von Kugeln aus einer Maschinenpistole der Polizei getötet. Das Landgericht Dortmund sprach nun alle fünf angeklagten Polizeibeamt:innen frei. Die Anwältin der Nebenklage kündigte an, in Berufung zu gehen.
Der 16-jährige senegalesische Geflüchtete starb vor zwei Jahren in der Nordstadt
Über mehr als dreißig Verhandlungstage erstreckte sich der Prozess um den bei einem Polizeieinsatz getöteten Jugendlichen Mouhamed Lamine Dramé. Der 16-jährige Geflüchtete hatte im August 2022 im Innenhof einer Jugendeinrichtung in der Holsteiner-Straße ein Messer auf sich selbst gerichtet, mit der Absicht, sich zu suizidieren.
Die alarmierten Beamt:innen setzen Reizgas, Taser und schlussendlich eine Maschinenpistole ein. Mouhamed Lamine Dramé erlag noch am selben Abend im Unfallklinikum Nord seinen Schussverletzungen.
Angeklagt wurden fünf der mehr als zehn am Einsatz beteiligten Polzist:innen, darunter der Schütze, der Einsatzleiter, zwei Beamt:innen, die die Taser einsetzen und die Beamtin, die das Pfefferspray versprühte. Anstiftung zu Straftaten im Amt, Körperverletzung mit Todesfolge und sogar Totschlag hatten zwischenzeitlich im Raum gestanden.
Das Gericht bewertet den tödlichen Polizeieinsatz als rechtmäßig
Vor Gericht wurde versucht, den Tatnachmittag vom 8. August 2022 zu rekonstruieren. Dazu wurden Mitarbeiter:innen der Jugendeinrichtung, in der Dramé gewohnt hatte, befragt, ebenso wie Ersthelfer:innen, Polizeibeamt:innen und weitere Zeug:innen.
Hatte Mouhamed Lamine Dramé die Beamt:innen angreifen wollen? Hatte der Sicherungsschütze aus Notwehr geschossen? Hatte der Jugendliche in einer psychischen Ausnahmesituation überhaupt wahrgenommen, was um ihn herum geschah? Hätte er einen andere Fluchtmöglichkeit gehabt? Und vor allem: War der Einsatz rechtswidrig?
Nein. Zu dem Schluss kam der Vorsitzende Richter Thomas Kelm am heutigen Nachmittag. Das Gericht sähe es als gesichert an, dass Mouhamed Lamine Dramé sich in der Nische im Innenhof der Jugendeinrichtung in einer psychischen Ausnahmesituation befunden habe, er sei „apathisch“ gewesen, hätte „bereits mit dem Leben abgeschlossen“.
Mouhamed Dramé befand sich in einer Sackgasse
Der einzige Ausweg aus dieser Nische, einer Sackgasse, sei in Richtung der Beamt:innen gewesen, erklärte Kelm. Dabei habe der Jugendliche bis zum Einsatz des Reizgases RSG8 keine Reaktionen auf Ansprechversuche und das Geschehen um ihn herum gezeigt.
Doch mit Einsatz des RSG8 habe er versucht zu fliehen – seine einzige Möglichkeit: Frontal auf die Beamt:innen zu. Dabei habe er jedoch keine Angriffsabsichten gehabt, so der Richter. „Die Kammer ist überzeugt, dass Herr Dramé keinen Angriff vorhatte, sondern aus einer bedrohlichen und schmerzhaften Situation fliehen wollte“, erklärte Kelm.
Der Jugendliche habe gar keine Zeit gehabt, um einen Angriff zu planen und es habe für ihn auch keinen Grund gegeben, die Beamt:innen anzugreifen, schlussfolgerte der Vorsitzende. Der Schütze habe jedoch, ebenso wie die anderen Beamt:innen, subjektiv eine Notwehrlage wahrgenommen, die ihn zum Handeln bewegte. Objektiv habe diese aber nicht bestanden.
Nebenklage bemängelt weiterhin die eingesetzten Mittel – Richter findet das „völlig daneben“
Verantwortlich für den Einsatz war der angeklagte Einsatzleiter. Anwältin Lisa Grüter, die die Nebenklage, also die Familie des Getöteten, vertritt, hatte den angeordneten Einsatzablauf und die Einsatzmittel immer wieder kritisiert. Mouhamed Lamine Dramé habe sich in eine statischen Lage befunden, in der ganz andere Mittel, wie ein:e Psycholog:in, ein:e Dolmetscher:in oder das SEK hätten eingesetzt werden sollen. Die Lage sei erst durch den Pfeffersprayeinsatz dynamisch geworden, da Mouhamed Dramé durch den Angriff habe fliehen wollen.
Diese Einwände hielt der vorsitzende Richter Thomas Kelm für schier absurd. Das Hinzurufen von Fachpersonal hätte zu lange gedauert, zudem hätte für die Personen eine Eigengefährdung bestanden, da sie sich dem Jugendlichen hätten nähern müssen. „Was soll ein Psychologe da, der kennt den Herrn Dramé ja gar nicht“, sagte er.
Das SEK sei auch ungeeignet, denn auch dieses Mittel hätte zu lange gedauert, das SEK sitze eben nicht den ganzen Tag herum und warte auf einen Einsatz – vor allem nicht auf einen der Eigengefährdung. Kelm erklärte in Hinblick auf die angebrachten Einwände: „Meines Erachtens nach ist das völlig daneben.“
Aus den übereinstimmende Zeug:innenaussagen ergab sich der Freispruch
Auch die vom Einsatzleiter angeordnete Aufstellung, nämlich den einzigen Fluchtweg des Jugendlichen zu versperren, könne er nicht beanstanden. Denn nur so habe eine Fremdgefährdung ausgeschlossen werden können. „Dadurch wurde gewährleistet, dass Herr Dramé nicht flieht und Dritte verletzt“, sagte er.
Damit kam das Gericht zu dem Schluss, dass die angeordneten Mittel die Mildesten und somit verhältnismäßig gewesen seien. Daraus ergab sich nicht nur für die Beamt:innen, die die Mittel eingesetzt hatten, ein Freispruch, sondern auch für den Einsatzleiter, der sie angeordnet hatte.
„Das ist nicht einfach. Auch nicht einfach zu verstehen“, sagte Thomas Kelm und sagte, die Kammer sei zwischenzeitlich auch zu anderen Schlüssen gekommen. Nun ergebe sich aus der Beweislage und den größtenteils übereinstimmenden Aussagen der Zeug:innen dieses Urteil.
Die Anwältin der Familie kündigte an in Berufung zu gehen
Er ergänzte: „Hinterher ist man immer Schlauer.“ Für die Beamt:innen heißt dies, dass sie ohne Umwege weiterhin als Polizist:innen arbeiten und verbeamtet werden können. Nach der Urteilsverkündung erhoben sich Zuschauende, hoben die Faust und riefen „Justice for Mouhamed!“. Ein Verteidiger der Angeklagten lächelte spöttisch und schüttelte den Kopf.
Sidy und Lasanna Dramé, die Brüder des Getöteten, hielten während der Urteilsverkündung die Köpfe gesenkt. Sidy zitterte, hatte Tränen in den Augen, Lasanna weinte. Nach dem Prozessabschluss verließen sie zügig das Gerichtsgebäude.
Vor dem Landgericht gab es wie an jedem Prozesstag eine Mahnwache. William Dountio vom Solidaritätskreis „Justice for Mouhamed“ hielt eine Rede. Fassungslos sagte er: „Der Richter erzählt uns heute, dass alle Alternativen unnötig gewesen wären. Mouhamed zu erschießen war das einzig Richtige.“
Dountio rang nach Worten und fragte: „Wo ist hier die Gerechtigkeit für schwarze Menschen? Uns war klar, dass wir in diesem Gerichtssaal keine Gerechtigkeit finden werden, aber es ist noch viel schlimmer ausgegangen, als wir gedacht haben.“ Die Anwältin der Familie Dramé kündigte an, in Berufung zu gehen.
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Reader Comments
Ulrich Sander
Nach diesem Freispruch ist kein Fremder mehr sicher, nicht an Leib und Leben bedroht zu sein, wenn er es mit der Polizei zu tun hat und diese sich „bedroht“ sieht. Es war der NRW-Innenminister, der Reizgas, Taser und
Maschinenpistolen den Polizisten zum schnellen Einsatz an die Hand gab. Er ist das eigentlich Problem. Zu fordern ist eine gründliche Untersuchung der Fälle, da eilig geschossen und getasert wurde.
Cornelia Wimmer
Ich dachte bis jetzt, Vorgänge und Urteile solcher Art seien typisch für die USA. – Aber nein, jetzt offenbar auch bei uns. Im Amnesty-Bericht für 2023 steht Deutschland schon jetzt nicht eben gut da: https://www.amnesty.de/informieren/amnesty-report/deutschland-2023. -Aber es geht offenbar schlimmer. Schlimmer für die Opfer, für die künftig potenziell Betroffenen, schlimmer für uns alle. Denn wir wollen in einer humanen Gesellschaft leben. Eigentlich.
Gegen Polizeigewalt – Gerechtigkeit für Mouhamed Dramé (PM Die Linke Dortmund)
Der Prozess gegen die Polizist*innen, die für die tödlichen Schüssen gegen den 16-jährigen Mouhamed Dramé verantwortlich waren, ist nun zu Ende gegangen. Mit den Freisprüchen für alle Beteiligten der Polizei wurden die geringen Forderungen der Staatsanwaltschaft sogar noch untertroffen. Die Staatsanwaltschaft hatte zumindest für den Einsatzleiter eine Bewährungsstrafe gefordert. Die Begründung für die Freisprüche: Erlaubnisbestandsirrtum. Die Polizist*innen hätten sich in dem Irrtum befunden, dass ihr handeln erlaubt wäre.
„Wir sind schockiert über dieses Urteil“, so Sonja Lemke, Kreissprecherin von die Linke Dortmund: „Dieses Urteil ist ein fatales Signal für alle Opfer von Polizeigewalt. Es kann nicht sein, das Polizist*innen sich nicht für ihr Handeln verantworten müssen – nicht mal wenn es für andere tödlich endet“.
Dabei ist der Tod Mouhameds kein Einzelfall. Zwischen 2010 und 2022 wurden 133 Menschen von der Polizei erschossen und viele davon befanden sich in psychischen Ausnahmesituationen.
Am Samstag den 14.12 wird es eine Großdemo in Dortmund zum Prozessende geben.
„Als Linke Dortmund unterstützen wir die Demonstration und rufen dazu auf, sich mit den Familienangehörigen von Mouhamed sowie allen anderen Opfern von Polizeigewalt zu solidarisieren“, so Lemke weiter.