Zwei Stunden lang wurde im Dietrich-Keuning-Haus über ein brandaktuelles Thema debattiert: kritische Polizeieinsätze. Mehmet Daimagüler, Rechtsanwalt und Antiziganismus-Beauftragter der Bundesregierung, der die kritische Rolle im Talk mit dem SPD-Bundestagsabgeordneten und ehemaligem Vorsitzenden des Bundes deutscher Kriminalbeamter Sebastian Fiedler übernommen hätte, musste kurzfristig absagen – so sprang Moderator und Soziologe Aladin El-Mafaalani ein. Ziel war es, möglichst distanziert die Rolle, Funktion und Perspektive der Polizei zu beleuchten. Musikalische Begleitung gab es von Ester Festus.
Erdrückende Stimmung im vollen Saal – Schweigeminute für Mouhamed D.
Zu Beginn der Veranstaltung forderte Stadtdirektor Jörg Stüdemann die anwesenden Zuhörer:innen dazu auf, an einer Schweigeminute für Mouhamed D. teilzunehmen. Der volle Saal erhob sich.
Stüdemann betonte, man wolle in dem Gespräch auf die polizeiliche Arbeit eingehen, nicht um ein Ermittlungsergebnis vorwegzunehmen. Der Tod des jungen Geflüchteten habe aber in der Stadt etwas ausgelöst – Kinder, Jugendlichen und junge Erwachsene diskutierten über die Frage, ob sie selbst auch Opfer eines – so vermuteten – rassistischen Übergriffs werden könnten.
Am vergangenen Freitag fand bereits ein „U27-Talk“ im DKH statt, der sich mit derselben Thematik beschäftigt hatte. Über 100 Kinder und Jugendliche hatten daran teilgenommen. Es sei ein bedrückendes, wichtiges Gespräch gewesen, betonte Stüdemann. In eben diese Reihe von Gesprächsformaten gehöre auch die Veranstaltung „Talk im DKH über kritische Polizeieinsätze“.
Wahrgenommene Häufung von tödlichen Polizeieinsätzen – 2022 im statistischen Rahmen
„Der Anlass ist eine wahrgenommene Häufung von Todesfällen bei beziehungsweise durch Polizeieinsätze“, begann El-Mafaalani das Talk-Format. Neben dem tödlichen Polizeieinsatz vom 8. August, bei dem ein junger Geflüchteter in Dortmund durch Schüsse aus einer Maschinenpistole der Polizei tödlich verletzt wurde, sei es auch in andere Städten zu Toten durch Polizeieinsätze gekommen.
Vorwegstellen wolle er, dass es sich um eine Wahrnehmung handele. Grund dafür sei, dass die Aufmerksamkeit sich auf bestimmte Themen richte und man daher dass Gefühl bekäme, Vorfälle würden sich mehren. Viele schwere Straftaten beispielsweise seien in den vergangenen Jahren stark rückläufig. Dadurch, dass viel darüber berichtet würde, hätten wir gleichwohl das Gefühl, es würde zunehmen.
El-Mafaalani nennt eine Studie des Statistischen Bundesamtes, nach der in den vergangenen zehn Jahren jährlich zwischen sieben bis sechzehn Todesopfer durch Schusswaffengebrauch der Polizei zu verzeichnen seien. Aus dieser Perspektive bewege sich das Jahr 2022 noch im statistischen Rahmen. Hinzu kämen noch Todesopfer in Polizeigewahrsam – hier gäbe es jedoch keine offiziellen Zahlen. Die Organisation „Death in Custody“ käme in den vergangenen 30 Jahren zu 181 Toten in Polizeigewahrsam.
Zu diesen etwa 20 jährlichen Todesopfern durch Schusswaffen oder in Gewahrsam der Polizei gäbe es nun verschiedene mögliche Perspektiven. So könne man sagen, der Wert wirke ganz anders, wenn man sich vergegenwärtigt, dass es deutschlandweit über 250.000 Polizeibeamt:innen gebe.
Man könne auch sagen, dass die Werte im Vergleich zu anderen Ländern nicht außergewöhnlich hoch seien. Es gäbe Staaten, in denen einzelne Polizeieinsätze zu mehr Todesopfern führten. Dabei handele es sich jedoch um Staaten, mit denen man sich normalerweise nicht vergleiche.
William Dountio, Veranstalter der Protestaktionen, betonte im Anschluss an den Talk: „Sechs bis siebzehn Tote sind sechs bis siebzehn Tote zu viel.“ Zudem gäbe es Menschen, die nicht durch Polizeieinsätze ums Leben kämen, aber diskriminiert und schikaniert würden.
Die Institution Polizei als Gewaltmonopol des Staates
Klar betonen müsse man gleichzeitig, dass die Institution Polizei im Rahmen des Gewaltmonopols des Staates agiere und wie keine andere Institution in Deutschland Gewalt ausübe, die Grundrechte von Menschen zumindest zeitweise außer Kraft setzen könne und dies auch tue, so El-Mafaalani.
Die Todesfälle durch Polzist:innen müsse man zudem im Zusammenhang mit dem sehen, was man in den vergangenen Jahren beispielsweise zu rechtsextremen Chatgruppen bei der Polizei erfahren habe. Dadurch stehe die Frage im Raum, ob bestimmte Menschen, wie PoC’s (People of Colour), Migrant:innen oder psychisch kranke Menschen, stärker gefährdet seien Opfer von Polizeigewalt zu werden. Im Falle von Mouhamed D. seien all diese Dinge zusammengekommen.
Der Soziologe führte die derzeit bekannten Kontroversen des Polizeieinsatzes vom 8. August an und stellte seinem Gegenüber Sebastian Fiedler die Frage: „Ist hier irgendwas richtig gelaufen?“. Der Bundestagsabgeordnete äußerte, sein Wissensstand zu dem konkreten Fall basiere auch nur auf der aktuellen Berichterstattung. „Freundlich formuliert ist jedoch mehr schief gelaufen, als man am Anfang angenommen hatte.“ Er betonte, er sei nicht mehr Sprachrohr der Polizei und der Rollenwechsel sei ihm sehr wichtig.
Der Einsatz von Maschinenpistolen und die Frage nach der Verhältnismäßigkeit
Oberstaatsanwalt Dombert hatte die Maschinenpistole, mit der Mouhamed D. erschossen wurde, am Tag nach dem tödlichen Vorfall im Gespräch mit Nordstadtblogger als „schweres Kriegsgerät“ bezeichnet. Mittlerweile steht fest, dass jeder Streifenwagen über zwei Maschinenpistolen verfügt – dieser gegebene Zustand hatte besonders für Unverständnis und Kritik gesorgt.
„Ehrlicherweise, ob das jetzt eine kürzere oder längere Waffe gewesen ist, spielt weder im Ergebnis, noch sonst irgendwie eine große Rolle“,sagte Sebastian Fiedler. Doch den Einsatz selbst bewertete er kritisch: „Es ist mehr schief gelaufen, als man am Anfang dachte – und das ist noch freundlich formuliert.“
Grund der Mitführung der Maschinenpistolen sei in erster Linie die prinzipiell bessere Treffsicherheit. Zum Training der Polizei gehöre aber auch, dass alles, was man tue, wenn man Gewalt anwende, verhältnismäßig sei. Konkret bedeute das die Anwendung des geringsten, mildesten Mittels, das zum Erfolg führt.
Das wichtigste im Fall von Mouhamed D. sei jedoch die Frage nach anderen Optionen: „War die Gefahr wirklich so groß, dass man dachte, er stößt sich in der nächsten Sekunde das Messer in den Bauch?“, gab Fiedler zu bedenken. In bestimmten Situationen sei es hilfreich, das Geschehen zunächst einzufrieren, um Unterstützung anzufordern – Im Fall von Mouhamed D. beispielsweise das Dortmunder SEK. Dieses habe gerade im Fall einer Messersituation andere Möglichkeiten, wie den Distanzstock.
Schwieriger Umgang mit psychisch kranken Menschen
„Ich hätte gedacht, dass zumindest die Mehrzahl von denen (die durch Polizist:innen ums Leben kommen) doch wahrscheinlich schwer kriminelle Personen sind, die Schwerwiegendes getan haben“, sagte Aladin El-Mafaalani.
Kriminologen, die den Hintergrund der Getöteten ermittelt hätten, seien hingegen zu dem Schluss gekommen, dass mindestens 50 Prozent der Menschen, die durch die Polizei zu Tode kamen, psychisch krank gewesen seien oder sich in Ausnahmesituationen befunden hätten.
Das sei ganz logisch, fand Fiedler. Menschen, die an bestimmten psychischen Erkrankungen litten oder sich in Ausnahmesituationen befänden, könnten keine Abwägungsprozesse mehr machen oder die Situation rational einschätzen. Besonders Schwerkriminelle würden zudem anders festgenommen, durch speziell geschulte Spezialeinheiten, wie das SEK. Die Zugriffe seien zusätzlich meist auf lange Hand geplant.
Diese Umstände würden die Festnahmen deutlich sicherer für alle Beteiligten machen. Den Umgang mit Menschen in Ausnahmesituation hätten hingegen meist Polizist:innen im Streifendienst, die meist recht unvorbereitet in die Situation kämen.
Lösungsansätze gibt es viele
Sebastian Fiedler versteht sich seit vielen Jahren als Kritiker des NRW-Ausbildungsprogramms der Polizei. Er selbst plädiert schon lange dafür, dass Beamt:innen der Bereiche Streifendienst, Verkehr und Kriminalpolizei mehr Zeit innerhalb des dreijährigen Studiums für die jeweiligen Bereiche zur Verfügung gestellt bekommen. Ein wichtiger Teilaspekt sei der professionelle Umgang mit psychisch auffälligen Menschen, die Polizist:innen im Berufsalltag begegneten.
„Die Polizei hat weder Grund noch Anlass, sich vor der Wissenschaft zu verstecken, sondern sollte sich offen machen“, findet der ehemalige Vorsitzende des Bundes deutscher Kriminalbeamter. Er halte Studien auch heute noch für produktiv – denn nur so könnte man zu kritischen Schlüssen kommen und Antworten darauf finden.
Die Tatsache, dass Polizeibeamt:innen in bestimmten Stadtteilen nur einen selektiven Ausschnitt erhielten, der Vorurteile verstärke, nannte Fiedler ein „erkanntes Problem“. Er schlug daher vor, dass Polizeibeamt:innen die Stadtteile in ihrer Berufsausbildung wechseln sollten.
Eine unabhängige Ermittlungsorganisation hält Fiedler für einen zu großen Aufwand, es bedürfe dafür mehrerer hundert geschulter Kriminalbeamte. Als sinnvoll erachtet er dagegen eine unabhängige innere Ermittlung, wie bereits in Hamburg vorhanden.
Besonders wichtig findet Sebastian Fiedler, dass Beamt:innen, die rassistische Vorfälle melden, ausreichend geschützt werden. Nach der aktuellen Rechtslage seien nämlich nur Personen geschützt, die Ordnungswidrigkeiten meldeten, rassistische Bemerkungen fielen nicht darunter. Dies müsse der neue Gesetzesentwurf zu „Whistleblower:innen“, der nicht nur für Bankangestellte gelte, sondern auch für Polizist:innen, schnellstmöglich ändern.
Rassismus bei der Polizei im gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang
Durch seine Arbeit und Erfahrungen im Bundestag habe Fiedler dazugelernt: „Ich sehe, was die AfD im Bundestag tut und wie sie das tut. Und ich sehe welche rechte Propaganda, welche Mythen durch alle Netzwerke im Lande unterwegs sind, welche Keile versucht werden in die Gesellschaft zu treiben.“ Um das Bild zu vervollständigen müsse man sehen, dass alle, auch Polizeibeamt:innen diesen Dingen ausgesetzt seien.
Struktureller Rassismus verstärke daher Racial profiling – also das Einstufen einer Person als verdächtig, aufgrund von äußerlichen Merkmalen durch Sicherheitsbehörden – welches zu einer schlechten Polizeiarbeit führe, denn es führe nicht zur Ergreifung von Straftätern. so Fiedler.
Eine Strategie der Rechten sei unzweifelhaft, ein besonderes Publikum bei denen zu sehen, die das Gewaltmonopol des Staates verkörperten – also Polizist:innen, Soldat:innen und Richter:innen. „Die Gefahr des Rechtsextremismus bildet sich nicht so stark in Zahlen aus Statistiken ab, sondern dadurch, dass sie versuchen, den Staat von innen heraus zu bekämpfen“, erklärte Fiedler. So versuchten Rechte Funktionsträger in den Sicherheitsbehörden zu adressieren, säßen nun im Herzen der Demokratie – dem Deutschen Bundestag und versuchten Spaltung zu betreiben.
Aladin El-Mafaalani verzeichnet einen erfreulich starken Anstieg von Kooperationsanfragen seitens der bundesweiten Polizeibehörden zum Thema Rassismus und „racial profiling“. Er findet: „Das Thema muss also diskutiert werden, (…) damit es nicht andere stärker vereinnahmen können.“
Reader Comments
Ulrich Sander
Dies sind alles sehr alarmierende Informationen, die auch an die folgenden denken lassen:
Mitte Juli mussten acht Polizisten aus Münster vorläufig »freigestellt« werden, weil sie einer rechtsextremen Chatgruppe angehören. Sie hatten – wie schon vorher in Essen und Mülheim enttarnte Gruppen von Polizisten – sich gegenseitig rassistisch aufgehetzt. Gruppen wie sie bereiten sich auf den »Tag X« vor, um Deutschland den Deutschen zu sichern. Es ist nun zu fragen: Gehörten auch die in der Dortmunder Nordstadt eingesetzten Polizisten solchen Gruppen an? Gehörten sie zu den auf dem neonazistisch geführten Schießplatz in Güstrow ausgebildeten Dortmunder Polizeieinheiten? Im Falle der 72 Essener und Mülheimer Chatmitglieder sind laut einem Bericht des Innenministeriums die Verfahren abgeschlossen und zwar mit keinen oder nur schwachen Sanktionen. Sechs Kommissar-Anwärter und zwei weitere Personen wurden entlassen. Alle anderen dürfen weitermachen.
Doch nicht nur geheime Chatgruppen, sondern auch ganz offen geduldete Handlungen des racial profilings sind alarmierend. Und auch solche Erklärungen, wie die des Landesinnenministers sind skandalös. Es betonte die Zulässigkeit aller in Dortmund angewandten Waffen, auch MPs sollten in keinem Polizeiauto fehlen. Das sind immerhin Kriegswaffen.
Volle musikalische Power für das Solidaritätsfest für Mouhamed Lamine Dramé (PM)
„Freundeskreis Mouhamed“ lädt zum Solidaritätsfest für Mouhamed Lamine Dramé – am Samstag, den 24.September von 16 – 22 Uhr auf dem Kurt Piehl Platz Dortmund – Nordstadt
Volle musikalische Power für das Solidaritätsfest – wir freuen uns am Samstag, den 24.9.2022 auf dem Kurt-Piehl Platz folgende Musiker begrüßen zu dürfen:
Gehörwäsche, Köln
Allassa Mfouapon
Diallo, Dortmund
Ancient Fyah, Bielefeld
Kurdische Musiker und Tanzgruppe
Felix Ende, Bielefeld
Jah Sala, Dortmund
„Wir sind überwältigt von der positiven Resonanz und freuen uns auf ein tolles Fest“, so Franz Stockert vom Freundeskreis Mouhamed.
Der Druck der Öffentlichkeit und durch die Demonstrationen zeigt immer mehr Wirkung. Mittlerweile wurde bekannt, dass bei allen Polizisten, gegen die wegen dem tod von Mouhamed ermittelt wird, im September Hausdurchsuchungen stattgefunden haben und private Mobiltelefone beschlagnahmt wurden. Es besteht wohl der Verdacht auf Absprachen durch die Polizisten, obwohl die Ermittlungen schon eingeleitet waren. Außerdem hat ein Zeuge ausgesagt, dass auch der Einsatzleiter geschossen habe, was auch geprüft werde (siehe Ruhrnachrichten von heute).
Viele Einzelheiten, die alle ohne die Demonstrationen, die Petition für eine unabhängige Untersuchung mit bisher über 37500 Unterstützern und die dadurch entstandene breite Öffentlichkeit nicht zu Tage gekommen wären. Umso wichtiger wird auch das morgige Solidaritätsfest für Mouhamed Lamine Dramé zu dem wir alle herzlich willkommen heißen!
Eine Unterstützerin hat ein Mobi-Video erstellt, das über diesen Link angeschaut werden kann. Zu sehen ist auch ein Künstler der Band Ancient Fyah aus Bielefeld:
https://m.facebook.com/story.php?story_fbid=pfbid034rnhh8AxUUCudJaBEuqQsbF7BFque3S9Mdxb136AdSgqV1QpCJj2kBRjribGGStBl&id=100024280904184&sfnsn=scwspwa
Wer noch etwas beitragen möchte meldet sich bitte unter solifestmouhamed@gmx.de