Von Thomas Engel
Die Parteispitze der SPD möchte in Koalitionsverhandlungen über eine Regierungsbildung mit den Unionsparteien eintreten. An der sozialdemokratischen Basis rumort es. Auch bei den Dortmunder GenossInnen gibt es allenthalben Unzufriedenheit über die Ergebnisse der Sondierungsgespräche mit CDU und CSU. Daher gab es Gesprächsbedarf mit der Parteiführung.
Widerstand in der Sozialdemokratie gegen die Ergebnisse der Sondierungsgespräche
Ob die SPD-Spitze in der fast vierstündigen Debatte der etwa 70 SPD-Delegierten aus dem westlichen und östlichen Westfalen am Montag (15. Januar 2018) in Dortmund hinter verschlossen Türen erfolgreich Überzeugungsarbeit leisten konnte, wird sich spätestens Sonntag entscheiden. Dann werden auf dem Sonderparteitag in Berlin 600 Delegierte, von denen immerhin 144 aus NRW stammen, ihr Votum zu den Ergebnissen der Sondierungsgespräche abgeben.
Allein, im Vorfeld wurde deutlich: Es kracht gewaltig im Gebälk der Sozialdemokratischen Partei. Nicht wenige GenossInnen sehen nämlich in der Vereinbarung mit der Union zu wenig von ihren eingangs formulierten Kernforderungen umgesetzt. Und rebellieren, weil damit die SPD weiter an Alleinstellungsmerkmalen verlöre.
Vor allem zentrale Themen wie die Einführung einer allgemeinen Bürgerversicherung in der Krankenversicherung, die sukzessive Abschaffung einer sachgrundlosen Befristung bei Arbeitsverträgen und die Erhöhung des Spitzensteuersatzes blieben unzureichend bis gar nicht berücksichtigt, kritisieren viele Dortmunder Delegierte.
Logik der Staatsraison – oder doch lieber ein wenig sozialdemokratische Identität wahren?
Für die einen geht ein Gespenst um in Deutschland – das Gespenst, die rechten Ränder des politischen Spektrums landes- wie europaweit zu stärken und Instabilität hervorzurufen. Weshalb sie aus Gründen der Staatsraison die Aushandlung einer weiteren Großen Koalition beschwören, obwohl einer solchen im vergangenen Herbst durch das Wählervotum in aller Deutlichkeit die rote Karte gezeigt wurde.
Für die anderen schreckt dieses Gespenst weniger, als dass sie ihre Partei durch Ausverkauf in der Profillosigkeit verschwinden sehen wollen. Und sprechen sich daher in aller Deutlichkeit gegen eine Große Koalition aus. Erst recht, nachdem die Sondierungsgespräche in ihren Augen inhaltlich gescheitert sind, weil in dem 28 Seiten umfassenden Papier die Umsetzung von Kernpunkten sozialdemokratischer Politik nicht ansatzweise zu erkennen sei.
Nadja Lüders, SPD-Chefin in Dortmund und Landtagsabgeordnete, brachte die Konsequenzen dieser Ablehnungshaltung auf die Frage, was denn dann die Alternative sei, auf den Punkt: „Dann wird Frau Merkel sehen müssen, wo sie eine Mehrheit herbekommt, entweder für eine Minderheitsregierung. Und wenn sie sich das nicht zutraut, dann ist die Entscheidung klar: dann muss der Bundestag aufgelöst werden und es gäbe Neuwahlen“, so die entschiedene GroKo-Gegnerin.
Widerstand gegen die Neuauflage einer Koalition, die von den WählerInnen abgestraft wurde
Was die Gegner der Neuauflage einer Großen Koalition einerseits antreibt – ist die Neuauflage. So sieht der Dortmunder SPD-Landtagsabgeordnete Volkan Baran in der dahingeschiedenen GroKo bereits so manche der großen, in der damaligen Koalitionsvereinbarung festgeschriebenen Projekte der SPD als aufgebrochen.
Ähnlich wie viele seiner GenossInnen führt auch der stellvertretende Parteichef der Dortmunder SPD, Jens Peick, gegen eine de facto Fortsetzung der GroKo darüber hinaus das Argument ins Feld, dass diese mit den Wahlen im Herbst abgeschafft worden sei – die Bürger wollten eben eine andere Politik. Und schließlich, so Peick, solle verhindert werden, dass die AfD als stärkste Oppositionskraft mit entsprechenden Privilegien im Bundestag säße.
Auch mit dieser Einschätzung stand er gestern Abend nicht allein. Denn es hat sich im parlamentarischen Alltag des Bundestages die Konvention herausgebildet, dass nach Regierungserklärungen oder in Haushaltsdebatten die Partei in Oppositionsführerschaft als erste antworten darf. Zudem stellt die stärkste Oppositionspartei den Vorsitz im Haushaltsausschuss des Bundestages.
Kritik an den Inhalten des Ergebnispapiers von Dortmunder Sozialdemokraten
Der andere und gleichsam mitentscheidende Punkt für den Widerstand aus den Reihen der Sozialdemokraten gegen die Aufnahme von Koalitionsverhandlungen mit den Unionsparteien sind die konkreten Inhalte des von ihrer Parteispitze ausgehandelten Kompromisspapiers. Diesmal fehlten nämlich schon in den Sondierungsergebnissen die großen Überschriften, kritisiert Voltan Baran weiter, oder, wie ein anderer Delegierter formuliert, die „sozialdemokratischen Leuchtturmprojekte“.
Vor dem Hintergrund der ursprünglichen SPD-Forderung nach einer Bürgerversicherung für alle erscheint so manchem Parteigenossen der nun ausgehandelte Kompromiss als zu dürftig – dass zukünftig Arbeitnehmer und Arbeitgeber wieder paritätisch den gleichen Beitrag in die Gesundheitskasse zahlen sollen. Ein solcher Umbau des Krankenversicherungssystems sei unzureichend, erklärt denn auch Anna Spaenhoff, Dortmunder Delegierte und Mitglied des JUSO-Landesvorstandes. Und ihre Genossen Baran und Peick sekundieren: Damit sei „kein Ende der Zwei-Klassen-Medizin“ zu erkennen.
Schiffbruch auch bei der sozialdemokratischen Forderung nach einer Erhöhung des Spitzensteuersatzes: kein Wort davon in dem Ergebnispapier, so die No-GroKo-Anhänger. Ebenso bleibt entgegen den Wünschen der SPD die Möglichkeit einer sachgrundlosen Befristung von Arbeitsverträgen erhalten. Auch seien die vereinbarten Möglichkeit für Arbeitnehmer einer Rückkehr von Teilzeit auf Vollzeit „zu weich“, kritisiert Jens Peick.
Kritik an faktischen Obergrenzen bei der Aufnahme von Flüchtlingen und beim Familiennachzug
Die in der Verschriftlichung der Verhandlungsergebnisse festgehaltenen Aussagen zur Flüchtlingspolitik stoßen innerhalb der Dortmunder SPD gleichermaßen auf heftige Kritik. Zwar sei in dem Papier nicht von einer Obergrenze die Rede, so Anna Spaenhoff, faktisch hingegen werde eine solche festgelegt. Und auch der Familiennachzug würde gedeckelt. – Der Ärger der GenossInnen ist zwanglos nachvollziehbar.
Denn wörtlich heißt es in der Vereinbarung zwischen den Unionsparteien und der SPD hierzu: „Bezogen auf die durchschnittlichen Zuwanderungszahlen … stellen wir fest, dass die Zuwanderungszahlen … die Spanne von jährlich 180.000 bis 220.000 nicht übersteigen werden.“ (S. 19)
Was die Dortmunder SozialdemokratInnen daher im Prinzip kritisieren, ist: Mit dem simplen Taschenspielertrick einer Beschreibung dessen, was passieren wird, statt im Wortlaut die darin offenkundig enthaltene normative Komponente wiederzugeben, nämlich, dass eine Begrenzung der Zuwanderungszahlen das Ziel ist, wird der schöne Schein gewahrt, das Grundrecht auf Asyl und die Genfer Flüchtlingskonvention blieben unangetastet. Was den Familiennachzug betrifft, wird in dem Papier auch eine Obergrenze, näherhin von 1.000 Personen pro Monat festgelegt – ebenfalls, ohne sie als solche auszuzeichnen.
Minderheitsregierung als Alternative zu den Gefahren einer Großen Koalition?
Ebenso können sich die Sozialdemokraten nicht mit den europapolitischen Aussagen in den Sondierungsergebnissen ungeteilt anfreunden. Volkan Baran stellt knapp fest, es gäbe in Europa eine konservative Mehrheit, auf die man keinen Einfluss habe. Zudem, so der SPD-Landtagsabgeordnete, sei kein Umgang mit „Unrechtsstaaten“ wie Polen oder Ungarn festgelegt.
Für einen Teil der Dortmunder SPD-Delegierten erscheinen im Nachhinein die nun beendeten Vorverhandlungen über die Aufnahme von Koalitionsverhandlungen – wie von der Partei beansprucht – alles andere als ergebnisoffen gewesen zu sein. So bedauert Anna Spaenhoff, dass eine Minderheitsregierung im Rahmen eines Tolerierungsmodells offenbar zu keinem Zeitpunkt als realistische Möglichkeit gedacht worden sei. Damit aber werde der Fraktionszwang verfestigt und mögliche Vorteile wechselnder Mehrheiten ausgeschlossen.
Auch Parteigenossen, die den Ergebnissen im Sondierungspapier etwas freundlicher gegenüberstehen, möchten unter gewissen Umständen eine Minderheitsregierung nicht ausschließen. Ulrich Piechota, Vorsitzender des Dortmunder Unterbezirksvorstandes des Arbeitskreises für Arbeitnehmerfragen (AfA) in der SPD glaubt, „dass es in entscheidenden politischen Fragen auch in einer Minderheitsregierung die Möglichkeit gäbe, gute Wege für Deutschland zu gehen. Aber eben unter etwas mehr Kraftaufwand als in einer Großen Koalition […] Das ist nicht zu Ende diskutiert worden. Ich halte das nach wie vor für eine Möglichkeit.“
Den GenossInnen fehlt der Glaube, in Koalitionsverhandlungen mehr zu erreichen als bisher
Spürbar ist vor allem bei den jüngeren Delegierten die Angst, die Partei könne in einer neuen GroKo völlig untergehen. Vor allem, weil die Überzeugung fehlt, dass über das in den Sondierungsgesprächen Erreichte bei etwaigen Koalitionsverhandlungen signifikant mehr für die Partei herauskommen könne. „Und das reicht nicht“, so Volkan Baran kurz und bündig.
Auch Jens Peick glaubt, „dass die SPD in einer GroKo noch weiter an Profil verlieren würde und dann bei den nächsten Wahlen noch schlechter abschneidet“, so der SPD-Politiker. Daher wolle er beim kommenden Sonderparteitag in Berlin gegen die Aufnahme von Verhandlungen über eine Regierungskoalition zwischen Union und SPD stimmen. Wie die Mehrheit seiner GenossInnen beim Sonderparteitag in Berlin sich verhalten wird, weiß heute wohl niemand.
Im Gespräch mit den Nordstadtbloggern nach der gestrigen Debatte der Delegierten aus West- und Ostwestfalen mit den maßgeblich für die Aushandlung der Sondierungsergebnisse verantwortlichen Mitgliedern der SPD-Führungsriege in Dortmund bestätigt Peick, dass die Diskussionen hinter verschlossenen Türen zwar anstrengend, aber konstruktiv und ernsthaft geführt worden seien. Viele GenossInnen haderten – es sei klar, hier ginge es im Grunde um die Wahl zwischen Pest und Cholera.
Es habe am Abend nicht darum gehen können, jemanden einzunorden oder alle auf eine Linie zu bringen. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt sei es ebenfalls nicht sinnvoll gewesen, eine Probeabstimmung durchzuführen. Genauso wenig wie es konkrete Ergebnisse hätte geben können. Und doch – gegenüber einem möglichen Einwand, dass dann das gestrige Delegiertentreffen doch eigentlich überflüssig gewesen wäre, antizipiert der stellvertretende Dortmunder SPD-Chef sogleich: so funktioniere es einfach nicht in der Politik. Vielmehr müsse man auch hier mal miteinander reden.
Mehr zum Thema auf nordstadtblogger.de: