Soziale Stadtführung – die andere Urbanität: ein Leben in Dortmund aus der Perspektive von Obdachlosigkeit

Stadtrundgang der etwas anderen Art: aus den Augen der Obdachlosigkeit. Foto: bodo e.V.

Dortmund ist bunt, Dortmund hat viele Gesichter. Einfach hinschauen und auf Entdeckungsreise gehen! Alternativ könnte es auch ein Perspektivwechsel tun: die Stadt mit anderen Augen sehen. Zum Beispiel aus der Sicht derjenigen, die sozial durchgefallen, obdach- oder wohnungslos sind. Gelegenheit dazu bietet die „Soziale Stadtführung“, regelmäßig angeboten von bodo e.V. und geleitet von Menschen, die es wissen müssen. Am Samstag, den 9. November, ist es wieder soweit.

Ein einzelner urbaner Raum – mit vielen Welten aus verschiedenen Perspektiven

Irgendwo in der Stadt: da ist ein mehrstöckiges Wohnhaus, eine abends hell erleuchtete Einkaufsstraße, dort eine Sporthalle, angrenzend ein kleiner Park; es ist vielleicht nasskalt, eilig gehen Menschen vorüber, ein Hund bellt, das Übliche halt. Ausschnitte einer gewöhnlichen städtischen Kulisse eben. – Umgebungsmerkmale im urbanen Raum, die ich – mehr oder weniger bewusst – nach bestimmten Kriterien betrachte.

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Ich könnte lediglich aufzählen, was ich dort anscheinend eher „zufällig“ wahrnehme, weil da beispielsweise kein Ziel ist, das ich habe, während ich mich durch diesen Teil der Stadt bewege. Was ich beobachte, kann schließlich das sein, was mich diesmal besonders interessiert, weswegen ich jetzt überhaupt hier bin und deshalb nur für einen begrenzten Zeitraum. Denn irgendwann habe ich alles erledigt oder werde müde und gehe wieder nach Hause.

Die Lage ändert sich schlagartig, wenn mir dies verwehrt bleibt, weil es für mich gar kein Zuhause gibt: kein Obdach, keinen Schutz, keine Sicherheit, keinen Rückzugsraum. Ich bin nicht aus einem besonderen Grund hierhergekommen, sondern immer da – das ist mein „Zuhause“. Hier muss ich als bedürftiger Mensch finden, wofür andere ein Heim haben: zum Schlafen und zum Essen, zum Ruhen, zum Leben. Bin daher häufig auf der Suche nach bedeutenden Orten, die andere gar nicht beachten, für sie nicht existieren: Willkommen in meiner Welt!

Soziale Stadtführungen: Teilnahme im Horizont von Hilfsbereitschaft und Solidarität

Eine zwiespältige Situation, für Außenstehende, die mit dem festem Wohnsitz, begegneten sie dieser Welt. Sicher, es gäbe viel zu entdecken in dem eigenartigen Dunstkreis von Obdach- oder Wohnungslosigkeit – aber wer wollte sich das schon antun?

Armut in Dortmund
Wohnungsloser, Quartier auf einer Bank in der Katharinenstraße. Foto (2): Klaus Hartmann

Und warum? Kann es denn reizen, damit konfrontiert zu werden, mit welchen Belastungen Betroffene für gewöhnlich zu kämpfen haben, wo normalerweise Selbstverständlichkeit herrscht?

Vor allem aber: Warum sollten sich Menschen von der Straße das selbst zumuten? Sich, ihre kleinen Nischen und Geheimnisse, ihre besondere Welt freiwillig den vielleicht voyeuristischen Blicken eines Publikums aussetzen? – Allein, Fakt ist: es gibt „soziale Führungen“ dorthin. Geleitet von ihnen, jenen, mit einiger Erfahrung vom Leben auf der Straße. Für alle, die mehr darüber wissen wollen, über den Alltag in der Öffentlichkeit oder etwas versteckten Halböffentlichkeiten.

Denn die Ausgangskonstellation bei solchen Begegnungen auf Augenhöhe – als Stadtführungen „von unten“ regelmäßig von bodo e.V. in Dortmund und Bochum organisiert – ist von Anfang an eine andere. Als die von Schaulustigen, die daran interessiert wären, sich am Außergewöhnlichen, vielleicht Rührenden oder Erschreckenden, an einer misslichen Lage oder gar dem Elend anderer zu ergötzen.

Einrichtungen und Orte, die Geschichten über jene erzählen, die nach unten fielen

Allein dadurch, dass die Führungen zwar kostenfrei angeboten werden, aber dafür mit dem Kauf einer aktuellen Ausgabe des Straßenmagazins verbunden sind, deren Erlös zur Hälfte an die VerkäuferInnen geht. Also: Interesse, Neugier, ja, aber durch die bloße Teilnahme zugleich verbunden mit einer Haltung im Horizont von Hilfsbereitschaft und Solidarität. Auch, wenn danach alle wieder ihres Weges gehen werden. Was umso nachdrücklicher sein mag. So, als wäre nicht gewesen.

Die Suppenküche Kana in der Nordstadt besteht seit 25 Jahren. Das Gasthaus an der Mallinckrodtstraße
Beispielhafte Anlaufstelle: Suppenküche Kana in der Nordstadt, bestehend seit über 25 Jahren.

Ein Tag auf der Straße, der Alltag ohne eigene Wohnung, vermittelt in einer gut zweistündigen, manchmal auch länger dauernden Führung durch Dortmund. Wie sieht so ein gewöhnlicher Tag aus, was sind seine Routinen, Unwägsamkeiten? Wenn der Magen knurrt, ohne Geld in der Tasche. Die Müdigkeit kommt, ohne dass die Nacht ein Bett böte. Du Dich irgendwo einfach nur aufhalten willst, aber da ist kein Platz, an dem Du willkommen geheißen würdest.

Wo gibt es Unterstützung? Hilfe- oder Selbsthilfenetze, Möglichkeiten der medizinischen Versorgung, Tageseinrichtungen vielleicht, Beratungsangebote, Suppenküchen, Übernachtungsstellen, Duschen, irgendeine eine Hand, die in Krisensituationen erreichbar wäre. Und: Wie verformt sich eine Stadt, wenn ihre vielschichtige Infrastruktur – im Wortsinne – notgedrungen von dieser Seite her betrachtet werden muss?

Während der Führung durch bodo-VerkäuferInnen besuchen die TeilnehmerInnen entlang eines „typischen“ Tagesablaufs von Menschen auf der Straße Einrichtungen und Orte, die für Betroffene oft von entscheidender Bedeutung sind – und Geschichten über jene erzählen, die hier anzutreffen sind. Was immer sie damit machen werden, gehen sie zurück – in ihr Zuhause.

Weitere Informationen:

  • Dortmund von unten | Soziale Stadtführung, nächster Termin: Samstag, 9. November, 11 Uhr; Treffpunkt ist am bodo-Buchladen, Schwanenwall 36-38, 44135 Dortmund
  • Dauer: etwa zwei Stunden
  • Um Anmeldung vorab wird gebeten, unter: 0231-950978 0. Individuelle Gruppenführungen (Schulklassen, Vereine etc.) können per Mail (vertrieb@bodoev.de) vereinbart werden.

 

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