Sigmar Gabriel besucht die Nordstadt und Dorstfeld – Neue Schullandschaften wecken das Interesse eines Ex-Paukers

Der ehemalige Bundesaußenminister Sigmar Gabriel zu Gast in der Nordstadt. Fotos: Thomas Engel
Der ehemalige Bundesaußenminister Sigmar Gabriel zu Gast in der Nordstadt. Fotos: Thomas Engel

Christof Birkendorf ist seit 20 Jahren Lehrer und unterrichtet im Dortmunder Norden an der Gertrud-Bäumer-Realschule. Da hat sich einiges an Erfahrungen angesammelt – und sich vor allem der Blick für neue Herausforderungen besonders an Schulen mit hohem Migrationsanteil unter den SchülerInnen geschärft. Der Mathe- und Erdkundelehrer beteiligt sich an einer ZDF-Doku zu dem Thema, erhält schließlich eine Einladung  zur Talkrunde von Markus Lanz. Während er im September letzten Jahres dort über veränderte Schullandschaften spricht, muss zwischen ihm und einem weiteren Studiogast irgendwann etwas „gefunkt“ haben: dem Bundestagsabgeordneten Sigmar Gabriel. Der ehemalige Bundesaußenminister war jetzt zu Gast in der Nordstadt und in Dorstfeld.

Sigmar Gabriel war vor seiner Zeit als Berufspolitiker selbst Lehrer

Christof Birkendorf ist seit 20 Jahren Lehrer und unterrichtet im Dortmunder Norden an der Gertrud-Bäumer-Realschule.
Christof Birkendorf, seit 20 Jahren Lehrer, unterrichtet an der Gertrud-Bäumer-Realschule.

Denn aus Sympathie im Studio ergab sich ein netter Kontakt; schließlich habe der ehemalige Außenminister vorgeschlagen, die Nordstadt zu besuchen, erzählt Christof Birkendorf. Über dessen Motivation braucht es sowieso kein langes Rätseln: schließlich war Gabriel, bevor er Berufspolitiker wurde, auch einmal Lehrer.

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Dann war es endlich soweit: der SPD-Abgeordnete erreicht Dortmund mit der Deutschen Bahn und schlägt – wenig erstaunlich – mit einiger Verspätung in der Nordstadt auf. In jenem fast schon sagenumwobenen Stadtteil, vor dem es so manchen ZeitgenossInnen graut; insbesondere unter denen, die noch nie dort waren. Da hilft nur: sich selbst ein Bild machen.

Versammelt haben sich in einem großen Klassenraum der Gertrud-Bäumer-Realschule SchülerInnen der 6. und 7. Jahrgangsstufe; die Atmosphäre in der Gesprächsrunde wirkt ziemlich entspannt. Sigmar Gabriel stellt sich vor, zeigt auf einer Karte, wo er herkommt: Goslar, ein kleines Städtchen nordwestlich am Fuße des Harz; kaum größer als der Stadtteil, den er jetzt besucht.

Es gibt wenig zu meckern an der Gertrud-Bäumer-Realschule

Und dann sei er Minister gewesen: für Umwelt, Wirtschaft, zuletzt das Außenministerium, und jetzt nur noch einfacher Bundestagsabgeordneter; dabei natürlich viel durch die Welt gereist, hat viel gesehen. In Australien, da war er noch nicht, erfahren die durchschnittlich zwischen 12 bis 14 Jahre alten Kinder und Jugendlichen in der Runde.

Was ihnen an der Schule gut, was nicht so gut gefiele, will Gabriel wissen. Die Antworten der Pennäler sind unauffällig, ohne gekünstelt zu wirken. Schnell wird Positives aufgezählt, statt auf Defizite geschaut. Wie die neuen Computer und, dass es jetzt W-LAN in der Schule gäbe, insbesondere für Kinder, die zu Hause kein Internet hätten.

Dann sei da der Ausfall von Unterricht, beklagen einige, etwa in Biologie. SchülerInnen, die sich über fehlende Lehrzeiten beklagen? – Gabriel scheint leicht irritiert, erinnert sich an die eigene Schulzeit: „Ich fand das immer super, wenn Stunden ausgefallen sind“, wirft er ungläubig ein.

Mobbing und andere Diskriminierungserfahrungen: SchülerInnen zeigen Sensibilität

 „Leise“, „gewaltfrei“, „rücksichtsvoll“ und „höflich“ werden auf einem großen Bild im Eingangsbereich des Schulgebäudes als Schulmotto genannt.
„Leise“, „gewaltfrei“, „rücksichtsvoll“ und „höflich“, u.a.: Bedingungen der Möglichkeit für gute Lehr- und Lernräume. Quelle: GBR

Spürbar möchte der SPD-Politiker mehr über die Schattenseiten des Schulalltags erfahren, fragt nach Mobbing-Erfahrungen. Was er zu hören bekommt, bleibt moderat, ist wenig besorgniserregend; was sich unterhalb dessen tagtäglich abspielt, ist in diesem Moment nur schwer abzuschätzen. Zumal die SchülerInnen vor der Pubertät stehen oder mitten drin sind.

Fakt ist: Die Schulleitung ist sichtlich darum bemüht, Verhaltenskodices unter die Kinder und Jugendlichen zu bringen, die alle Formen von Übergriffigkeiten ausschließen. „Leise“, „gewaltfrei“, „rücksichtsvoll“ und „höflich“ werden auf einem großen Bild im Eingangsbereich des Schulgebäudes als Schulmotto ausgezeichnet.

Zudem wird klar: hier spricht niemand zum ersten Mal über Mobbing und andere Formen von Diskriminierung. Neben einer – für einen solchen Anlass – fast unvermeidlichen Antworttendenz zu sozialer Erwünschtheit, zeigen die jungen Leute für ihr Alter eine ausgeprägte Sensibilität rund ums das Thema.

In den Stadtteilen, in denen es die größten Schwierigkeiten gäbe, sagt Gabriel im Interview mit dem WDR später, da bräuchte es auch die besten Schulen; sie „müssen so etwas wie Leuchttürme sein. Kinder und Eltern müssen sehen: Bildung ist was wert in unserem Land“, so der Ex-Minister.

Als ehemaliger Rathaus-Besetzer Lust an der Politik bekommen

Wie er denn zur Politik gekommen sei, will ein Schüler wissen. Sigmar Gabriel outet sich (vermutlich nicht zum ersten Mal) als ehemaliger Rathausbesetzer. Die jungen Leute in seiner Heimatstadt Goslar hätten sich nämlich damals – wegen des schlechten Wetters im Harz – sehnlichst ein Jugendzentrum als gemeinsamen Treffpunkt gewünscht, erzählt er. 

Als sich die Stadtspitze in der Angelegenheit querstellte, besetzten sie kurzerhand das Rathaus – und hatten damit Erfolg. Das zweite Ereignis von Bedeutung, um später diese seine – und keine anders gerichtete – Politikerkarriere einzuschlagen, erklärt Gabriel so: Als spanische Studierende 1975 in der Bundesrepublik Geld für eine Druckmaschine zum Herstellen von Flugblättern und ähnlichem zum Widerstand gegen die Franko-Diktatur sammelten – da hätte dies eben die SPD organisiert.

Was er von der Nordstadt hielte, wird er gefragt. – Der Mann ist Politiker und weiß seine Worte zu wählen. Schickt einschränkend voran, dass er sich dort nicht auskenne; könnte daher nur sagen, was er hört oder liest. Danach gäbe es hier eine ganze Reihe von Problemen. „Stimmt die Beschreibung?“, will er wissen.

Die Kinder sind anscheinend nicht wirklich d’accord, fühlen sich in der Nordstadt offenbar weitaus wohler, als angenommen werden könnte, würde der einschlägigen Berichterstattung über sogenannte „No-go-Areas“ Glauben geschenkt. 

Die Welt der Nordstadtkinder ist bunt ….

Sprachen sind ihm wichtig. Welche sie hier denn lernten? Die Üblichen halt. – Wer von ihnen Deutsch als Muttersprache spräche? Kaum jemand versteht die Frage zunächst – Muttersprache? Wer Deutsch sei, erklären einige. Die Anzahl der Meldungen bleibt sehr übersichtlich. 

Martina Raddatz-Nowack, Leiterin des Fachbereichs Schule, und Bezirksbürgermeister Dr. Ludwig Jörder, verfolgten das Gespräch.
Martina Raddatz-Nowack, Leiterin des Fachbereichs Schule, und Bezirksbürgermeister Dr. Ludwig Jörder, verfolgen das Gespräch.

„Was sprecht ihr zu Hause?“, ändert Gabriel die Frage ab. Und, als wollte er sich vergewissern: „In welcher Sprache träumt ihr?“. – Herauskommt ein buntes Allerlei, das die politisch motivierte Trennung von „deutsch“ vs. „nicht-deutsch“ der Lächerlichkeit preisgibt. Weil es sie – abgesehen bei den Staatsbürgerschaften – in der Schule faktisch nicht mehr gibt.

Die Kinder zählen ihre Sprachen auf: Deutsch, Kurdisch, Polnisch, Türkisch, Albanisch, Romanes können sie – und viele mehr. Berichten, wo und mit wem sie welche sprechen: in der Familie oder nur mit dem Bruder, der Mutter, dem Onkel, mit einigen Freunden dies, dort das. Unterschiedliche Bezugspersonen und -gruppen – unterschiedliche Sprachen. Alle sind hier mindestens bi-, die meisten trilingual oder mehr#; und alle kombinieren sehr individuell.

Und was ist mit dem Träumen? Denn es hieße, „die Sprache, in der man träumt, in der lebt man“, so Gabriel. Und auch hier, ein ähnliches Bild: manche träumen in einer, viele in mehreren Sprachen; Humus bis Potpourri, je nachdem, wo sie sind, was sie erlebt haben.

Integration? In der Nordstadt wachsen junge WeltbürgerInnen heran

Die Welt dieser Kinder ist bunt, vom Anfang bis zum Ende, und wird es bleiben. Sie lässt sich nicht mehr in die Zwangsjacke jenes herbeiphantasierten deutschen Brauchtums pressen, an das sich Verängstigte aus Unwissen und Erfahrungslosigkeit hilflos klammern. In der Nordstadt wachsen junge WeltbürgerInnen heran; sie ist eine klandestine Werkstatt des Kosmopolitischen.

Die jungen Leute werden später in die Institutionen diffundieren, vielleicht in Führungspositionen sitzen; auch welche aus dieser Runde. Sigmar Gabriel macht ihnen gerne Mut: auf seine eigene Schullaufbahn anspielend, sagt er zu einem Jugendlichen, er könne ja noch Außenminister werden. Denn auch er sei früher zunächst auf einer Realschule gewesen.

Sein zentrales Anliegen aber ist: dass hier die deutsche Sprache vernünftig gelernt wird. Denn das sei die wichtigste „Voraussetzung dafür, später einen richtigen Beruf zu haben“, macht Gabriel den SchülerInnen eindringlich klar.

Ein Missverständnis kann Bezirksbürgermeister Dr. Ludwig Jörder ausräumen, als es um den hohen MigrantInnenanteil in der Nordstadt geht: die häufig als Flüchtlinge bezeichnete Gruppe bestehe vor allem aus Armutszuwanderung aus Europa.

Die Funke-Grundschule in Dortmund-Dorstfeld: die zweite Station des Besuchs

An der Funke-Grundschule wurde Sigmar Gabriel auch von Bezirksbürgermeister Ralf Stoltze begrüßt.
An der Funke-Grundschule: der Gast wurde auch von Bezirksbürgermeister Ralf Stoltze (l.) begrüßt.

Zweite Station seines Kurzbesuches: die Funke-Grundschule in Dortmund-Dorstfeld. Gabriel inmitten einer KlassensprecherInnensitzung, die hier regelmäßig stattfindet.

Die Pimpfe tragen Wünsche vor, sprechen Probleme an. Ein Konfliktfeld: zu wenig Platz für zu viele SchülerInnen. Da wird es beim Fußballspielen in der Pause auf dem Schulhof schon ein wenig eng.

Auch der frühe Schulbeginn stößt nicht bei allen auf Gegenliebe. Hinzukommt: einige Kinder haben einen ziemlich weiten Schulweg. Frau Tewes, Sonderpädagogin an der Schule: aufnahmefähig seien sie sowieso erst ab 9.30 Uhr. 

Und dann wären da noch die leidigen Klassenarbeiten: die würde sie am liebsten auch nicht mehr schreiben, sagt ein kleines Mädchen. Das sei schon „ein Druckpunkt“ für viele in den Abschlussklassen, macht die Sonderpädagogin klar – jetzt, wo es um die Empfehlungen für die weiterführenden Schulen ginge.

Sigmar Gabriel nimmt sich Zeit. Die Diskussion mit Schulleiterin Nina Rabiega auf dem Rückweg zu seinem Wagen über Möglichkeiten und Grenzen, an der Schule Deutsch als Zweitsprache zu unterrichten, hätte er nicht mehr führen dürfen, wollte er seinen Zug nicht verpassen. Doch da ist noch Leidenschaft, auch bei einem Berufspolitiker.

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