In unserer Serie »Stadt-Bauten-Ruhr« beschäftigen wir uns mit prägnanter Nachkriegsarchitektur im öffentlichen Raum des Ruhrgebiets, schwerpunktmäßig in Dortmund. Es geht um Kirchen, Rathäuser, Museen, Theater, Universitäten u.a., die einer ansonsten von Schwerindustrie geprägten Region urbane, ja fast mondäne Gesichter verleihen sollten. Mit einem überraschenden Resultat: Geformt im 20. und 21. Jahrhundert, ist heute der Landstrich zwischen Rhein und Ruhr der mit den meisten Kulturbauten in der Bundesrepublik wie in Europa, wahrscheinlich sogar weltweit. So zumindest die Herausgeber*innen eines fast 400 Seiten starken Konvoluts, 2020 erschienen im Dortmunder Verlag Kettler, welches die Grundlage unserer mehrteiligen Beitragsreihe bildet.
Bewahren, Erforschen, Ausstellen. Das Baukunstarchiv NRW
Ein Buchbeitrag von Regina Wittmann
»Archivierung verfolgt eine Zielsetzung, die, wenn man so will, den natürlichen Gang der Dinge aufzuhalten bestrebt ist. Sie will Vergänglichkeit durch eine Kunst des Bewahrens gleichsam überwinden, dem Vergehen Einhalt gebieten. Sie ist in diesem Sinne eine Kulturtechnik, welche die Geschichte selbst – den Wandel alles Zeitlichen – in Bezug auf die Zeugnisse, also in genau definierten, engen Grenzen, außer Kraft setzen will. Denn das Verhältnis zwischen Historie und Geschichte ist durchkreuzt vom Skandal des Verlusts der Spuren, und genau dagegen setzt der Mensch seine Archive.«(1) Dietmar Schenk
In einem Architekturdiskurs, der auf die dinghafte Welt und ihre visuelle sowie kognitive Anschauung ausgerichtet ist, richtet sich der Blick nicht nur auf das Gebaute, sondern auch auf jene Dokumente, die für ihre Entstehung, ihr Verständnis und ihre Vermittlung unabdingbar sind. Dieses Material entsteht bei zahlreichen Akteuren – bei Auftraggebern und in der Verwaltung, bei Planerinnen und Planern aus den verschiedenen beteiligten Disziplinen, Bauausführenden etc. – und wird aus vielfältigen Gründen über den unmittelbaren Anwendungszweck und gesetzliche Aufbewahrungsfristen hinaus aufbewahrt.
Es fügt sich ein in ein als »Stadt und Raum« bezeichnetes Überlieferungsfeld (2) und wird als Teil des baukulturellen Erbes zum Sammlungsgegenstand in Archiven. Damit wird die einzigartige Möglichkeit geschaffen, materielle Werke jenseits der Bauten auf eine Weise zu überliefern, die es nachfolgenden Generationen ermöglicht, dies anhand von Originalquellen strukturiert nachzuvollziehen und neue Blicke auf das Gebaute zu eröffnen.
Hier bilden Archive, die die nichtamtliche Überlieferung von Planerinnen und Planern sowie der Bauindustrie und des Baugewerbes verwahren, wichtige Schaffenszusammenhänge ab, denn vielfach entstehen dort die originären Planungen. Diesem Anliegen widmet sich das Baukunstarchiv NRW, das 2018 in Dortmund eröffnet wurde und seitdem als Haus der Baukultur mit einem breiten Ausstellungs- und Veranstaltungsprogramm öffentlich wahrgenommen wird.
Als zentrale Aufgabe beherbergt es eine Sammlung, die das Ziel verfolgt, das Werk bedeutender und prägender Bauschaffender, deren Wirken einen Bezug zum Bundesland Nordrhein-Westfalen hat, möglichst umfassend zu dokumentieren. Insbesondere durch die Überlieferung von Vor- und Nachlässen sollen diese Materialien gesichert, erschlossen und der Forschung, Lehre und interessierten Öffentlichkeit anhand vielfältiger Nutzungsmöglichkeiten zur Verfügung gestellt werden.
Vom Preußischen Oberbergamt übers Städtische Kunst- und Gewerbemuseum zum Haus der Baukultur
Ein Haus der Baukultur. Mit der Eröffnung des Baukunstarchivs NRW kam ein Gründungsprozess zum Abschluss, der viele Partner und Unterstützer mit einem gemeinsamen Ziel einte. Die Initiative der Architektenkammer NRW und der Ingenieurkammer-Bau NordrheinWestfalen sowie Anstrengungen von regionalen Kräften wie dem Architekturforum Rheinland, sich für ein Architektur- oder Baukunstarchiv für Nordrhein-Westfalen einzusetzen, trafen mit dem Bestreben der TU Dortmund zusammen, das dort bereits etablierte Archiv für Architektur und Ingenieurbaukunst NRW (A:AI) breiter aufzustellen.
Der seit 2007 stetig geführte Dialog der Partner über die inhaltliche Ausrichtung eines Baukunstarchivs wurde begleitet von der Suche nach einem geeigneten Standort und konkretisierte sich 2011 mit der Idee für die Nutzung des zu diesem Zeitpunkt leerstehenden ehemaligen Museums am Ostwall in Dortmund (#Miniatur Baukunstarchiv). Damit begann das Engagement für ein geschichtsträchtiges Haus, das 1875 ursprünglich als Preußisches Oberbergamt nach Plänen des Berliner Architekten Gustav Knoblauch als viergeschossiger repräsentativer Verwaltungsbau am neugeschaffenen Promenadenring der aufsteigenden Großstadt Dortmund errichtet worden war.(3) 1911 folgte ein Umbau zum Städtischen Kunst- und Gewerbemuseum durch Stadtbaumeister Friedrich Kullrich, unter anderem mit Einbau des noch heute prägenden zweigeschossigen, zentralen Lichthofs.
Nach starken Kriegsschäden war das Gebäude 1945 Ausgangspunkt für eine Neukonzeption als Kunstmuseum mit Rückbau auf zwei Geschosse und Realisierung von Oberlichtsälen im Obergeschoss. 1990 folgte eine zeitgemäße Ertüchtigung durch den Architekten Jürg Steiner. Nach dem Umzug des Museums am Ostwall in das Dortmunder U in den Jahren 2010/11 drohte zunächst der Verkauf und Abriss, doch dank zahlreicher Initiativen entschied sich der Rat der Stadt Dortmund 2014 für den Erhalt und die Nutzung durch das Baukunstarchiv NRW. 2017/18 hat die Stadt Dortmund eine Revitalisierung des Hauses durchgeführt. Die Planung lag beim Büro Spital-Frenking + Schwarz Architekten und Stadtplaner.
2016 gründeten die Architektenkammer NRW, die IngenieurkammerBau Nordrhein-Westfalen, der 2012 gegründete Förderverein für das Baukunstarchiv NRW und die Stiftung Deutscher Architekten die Baukunstarchiv NRW gGmbH und schufen damit ein bundesweit einzigartiges Betreibermodell. Die TU Dortmund ist Kooperationspartner und brachte die umfangreichen Bestände ihres Archivs als Grundstock der zukünftigen Sammlung ein. Die weiterhin gute universitäre Anbindung des Archivs wird unter anderem durch die Kontinuität der wissenschaftlichen Leitung fortgeschrieben. Das älteste profane Gebäude der Innenstadt ist bauliches Erbe und zugleich Identifikationsobjekt. Als Baukunstarchiv NRW schreibt es eine neue Geschichte.
Bewahren von bedeutenden Zeugnissen zur Architekturgeschichte
Bewahren. Das Baukunstarchiv NRW fügt sich ein in eine vielfältige Archivlandschaft, die sich dem Sammeln architektur- und ingenieurbaukunstbezogener Bestände in Form von Vor- und Nachlässen widmet. In Deutschland stehen überregionale Einrichtungen, wie zum Beispiel die Akademie der Künste in Berlin oder das Deutsche Architekturmuseum in Frankfurt am Main neben gewachsenen Sammlungen, die auf einem Altbestand aufbauen, wie beispielsweise die Architekturmuseen an den Technischen Universitäten Berlin und München. Vielfach sind Sammlungen dem Bauschaffen eines bestimmten Bundeslandes gewidmet, so die ebenfalls Universitäten angegliederten Archive in Baden-Württemberg (Karlsruhe), Thüringen (Weimar) und Niedersachsen (Braunschweig), oder werden in Trägerschaft von Architektenkammern geführt, wie beispielsweise in Schleswig-Holstein (Kiel) und Hamburg.
Auch ein Blick in die Niederlande und nach Belgien lohnt sich, wo mit Gründung des 2013 im Het Nieuwe Instituut aufgegangenen Nederlands Architectuur Instituut (NAI) in Rotterdam eine einzigartige Verbindung von Architekturarchiv und -museum mit internationaler Leuchtkraft geschaffen wurde. In Antwerpen zeigt das Architectuurarchief Vlaanderen als Teil des Vlaams Architectuurinstituut eine zukunftsweisende Strategie für eine übergreifende baukulturelle Überlieferung und strategische regionale sowie internationale Vernetzung auf.
In Nordrhein-Westfalen fand sich bis Mitte der 1990er-Jahre kein Ansatz für die Einrichtung eines Spartenarchivs für das Sammeln von Zeugnissen zur Architekturgeschichte. Durchaus archivierte eine Vielfalt an Institutionen die Werke von Planerinnen und Planern als Teil unserer Erinnerungskultur – so zum Beispiel in kommunalen, kirchlichen und Unternehmensarchiven.(4) Größere Sammlungen von Architektennachlässen, die im Historischen Archiv des Erzbistums Köln und im Historischen Archiv der Stadt Köln liegen, sind hier besonders hervorzuheben. Zudem finden sich individuelle werkbezogene Lösungen, so das von einer Stiftung getragene Ungers Archiv für Architekturwissenschaften in Köln.
1995 wurde das Archiv für Architektur und Ingenieurbaukunst NRW (A:AI) an der Technischen Universität Dortmund als regionales Archiv für die Archivierung von Architektur- und Ingenieursnachlässen mit Bezug zu Nordrhein-Westfalen gegründet. Initiiert von Uta Hassler und Norbert Nußbaum ging es aus einer Kooperation der damaligen Lehrstühle Denkmalpflege und Bauforschung sowie Baugeschichte hervor und war der Fakultät Architektur und Bauingenieurwesen (bis 2009 Fakultät Bauwesen) angegliedert. 2007 übernahm Wolfgang
83Sonne mit dem Lehrstuhl für Geschichte und Theorie der Architektur auch die Zuständigkeit für das Archiv und hat die Sammlung mit der Einbringung in das Baukunstarchiv NRW neu positioniert.
Gesammelte Bestände des Baukunstarchivs NRW reichen bis in die 1890er-Jahre zurück:
Sammeln. Mit dem Ansatz einer übergreifend ausgerichteten Archivierung schreibt das Baukunstarchiv die Sammlungsstrategie des A:AI fort. Die Arbeit wird fachlich durch einen Fachbeirat unterstützt, der die wissenschaftliche Leitung und die Gesellschafterversammlung zur Sammlungskonzeption, zu Ausstellungs- und Veranstaltungsplanungen sowie zur Übernahme von Beständen berät. Ein 2016 verabschiedetes Sammlungskonzept schreibt Kriterien für die Sammlungstätigkeit fest. (5)
Das Baukunstarchiv NRW sammelt ausgewählte Vor- und Nachlässe aus den Fachrichtungen Architektur, Bauingenieurwesen, Stadtplanung, Landschafts- und Innenarchitektur sowie ausgewählte Bestände der Bauindustrie und des Baugewerbes mit Bezug zu Nordrhein-Westfalen. Unterlagen von Institutionen aus den genannten Bereichen, wie zum Beispiel baukulturell bedeutsame Bestände von Berufsverbänden oder aus Lehre und Forschung sowie ausgewählte Bibliotheken, ergänzen die Sammlung. Diese ist typologisch breit und unter Berücksichtigung aller Fachrichtungen angelegt. Dabei kommt der regionalen und überregionalen, in Einzelfällen auch lokalen baukulturellen Qualität sowie zeitgeschichtlichen Bedeutung ein besonderes Gewicht zu.
Die akteursbezogene Überlieferungsbildung zeigt Netzwerke und Schaffenszusammenhänge auf. Ein medial umfassender Sammlungsansatz berücksichtigt neben der papiernen Überlieferung mit Skizzen und Zeichnungen, Korrespondenz sowie weiterem Schriftgut wie statische Berechnungen, Bücher und Zeitschriften auch Modelle, Fotografien, Film- und Tondokumente, einzelne Bauelemente und Materialproben sowie digitale Datensätze. Damit liegt das im Architekturbetrieb gängige Spektrum der Quellengattungen umfassend vor.
Die Bestände des Baukunstarchivs NRW reichen bis in die 1890er-Jahre zurück. Das durch große Überlieferungslücken nur fragmentarisch dokumentierte Bauschaffen der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wird unter anderem durch die Nachlässe der Architekten Josef Franke (Gelsenkirchen), Hans Junghanns (Düsseldorf), Carl Lieberwirth (Dortmund), Wilhelm Elmpt (Düsseldorf), Walter Böhm (Wesseling) und Felix Heussen (Düsseldorf) belegt.
Auch in Nordrhein-Westfalen prägen die Wiederaufbauleistung nach dem Zweiten Weltkrieg und die umfangreichen Bestände der Wachstumsphase der 1960er- und 1970er-Jahre weiterhin maßgeblich die gebaute Umgebung. Die Büroüberlieferung vieler Bauschaffender, die in und über die Region hinaus wirkten, sind noch vorhanden, durch Büroaufgabe oder Tod der beteiligten Planerinnen und Planer droht diese jedoch ohne Kenntnisnahme der Öffentlichkeit und bauhistorischen Forschung verloren zu gehen. Seit Gründung des Archivs hat sich immer wieder der immense Handlungsbedarf gezeigt, der für eine strukturierte Überlieferung des Planungs- und Baugeschehens dieser nach wie vor erklärungsbedürftigen Epoche besteht. Der Fokus der Sammlungstätigkeit lag daher von Beginn an auf der Zeit nach 1945 und eröffnet damit einen einzigartigen Zugang zur Vielschichtigkeit der jüngeren Architektur in Nordrhein-Westfalen und darüber hinaus.
Bestände aus dieser Zeit bilden überregional tätige große Büros ab, so zum Beispiel der Architekten Bruno Lambart (Ratingen), Walter von Lom (Köln) oder Eckhard Gerber (Dortmund; #Miniatur Dortmunder U) und geben das qualitätsvolle Werk von Architekten mit regionaler Ausstrahlung wieder, wie zum Beispiel Friedrich Mebes (Essen; #Miniatur Bürgerhaus Oststadt), Wilhelm Seidensticker (Essen), Toni Hermanns (Kleve), Heinz Kalenborn (Düsseldorf) oder Herwarth Schulte (Dortmund). Sie belegen Theoriedebatten, wie dies beispielsweise die visionären Entwürfe des Architekten Eckhard Schulze-Fielitz (Essen) illustrieren, und bilden ein ausgeprägtes Wettbewerbswesen ab. Die Architektin Mechtild Gastreich-Moritz (Dortmund, #Miniatur Naturmuseum), die Landschaftsarchitektin Helga Rose-Herzmann (Essen) und die Innenarchitektin Ellen Birkelbach (Wuppertal) zeugen von der Tätigkeit von Frauen in planenden Berufen. Mit dem Nachlass Bernhard Küppers (Bottrop; #Miniatur Quadrat) wird das Wirken eines Architekten im öffentlichen Dienst abgebildet, während sein Werk zudem, wie auch das des Architekten Wolfgang Meisenheimer (Düren), eine wichtige Schnittstelle zum plastischen künstlerischen Arbeiten repräsentiert. Zahlreiche Bestandsbildner haben auch als Lehrende in der Architekten- und Ingenieursausbildung gewirkt: Mit den Beständen der Architekten Harald Deilmann (Münster; #Miniatur Aalto-Theater) und Josef Paul Kleihues (Dülmen/Berlin) sowie des Bauingenieurs Stefan Polónyi (Köln) verwahrt das Archiv nicht nur das Werk dreier herausragender Planer, sondern auch der Gründerväter des »Dortmunder Modells Bauwesen«, das sie maßgeblich mitgestaltet haben.
Bestände mit konstruktionsgeschichtlicher Bedeutung ergänzen die Sammlung. Die umfangreiche Überlieferung aus dem Büro Stefan Polónyi dokumentiert wegweisende Tragwerkslösungen und zeugt zugleich von seiner Zusammenarbeit mit namhaften Architekten wie Josef Lehmbrock, Fritz Schaller, Oswald Mathias Ungers und Rem Kool haas. Ein Planbestand der Gutehoffnungshütte (GHH), Abteilung Brückenbau (Oberhausen) bildet die Planungs- und Bautätigkeit dieser Sparte eines der wichtigsten deutschen Stahlbauunternehmen von 1890 bis 1960 ab.
Bis in das frühe 20. Jahrhundert reicht die Überlieferung des Bauunternehmens Wiemer und Trachte sowie der Firma Johannes Dörnen, Stahlbauwerk zurück, während das Stahlbauunternehmen E. Rüter GmbH (alle Dortmund) mit der Umsetzung jüngerer Stahlkonstruktionen vorwiegend in den 1990er-Jahren hervortrat. Kleine Konvolute, die auf kleineren Beständen gründen oder vor dem Übergang bereits stark reduziert wurden, stehen neben umfangreichen Werkarchiven, die das Schaffen großer Büros dokumentieren, hochrangige Architektur und Ingenieurbaukunst neben soliden Alltagsbauten, Gebautes neben Ungebautem. Dabei sind die Bestände sehr unterschiedlich zusammengesetzt. Auch der Stand der Ordnung und Erschließung, der Rückschlüsse auf die Entstehungszusammenhänge ermöglicht, differiert sehr. Oft ist er abhängig von längst getroffenen Entscheidungen über Bewahren oder Vernichten, die sich dem Einfluss der Archivierenden weitgehend entziehen, oder auch von Zufällen. Im Idealfall ergänzt sich die Arbeit verschiedener Fachdiszplinen und lässt in ihrer Gesamtheit Rückschlüsse auf zahlreiche Aspekte des Bauwesens zu.
Erforschen
Erforschen, Lehren und Ausstellen. Die universitäre Anbindung des Baukunstarchivs bietet Nutzungspotentiale sowohl für Lehrangebote im Bereich der Architektur und des Ingenieurwesens als auch für laufende Archivarbeiten. Der Zugang zur historischen Forschung, der doch zu einem großen Teil auf der Sichtung, Auswertung und Interpretation von Quellen basiert, wie sie in Archiven vorliegen, lässt sich so im eigenen Haus vermitteln. Dies bietet eine einzigartige Möglichkeit der Wissensvermittlung angesichts aktueller Debatten, die Bewertungsmaßstäbe für den Umgang mit Nachkriegsarchitektur fordern, und zunehmend komplexer Praxisanforderungen, die sich mit Erhalt, Modernisierung und Umbau an zukünftige Planerinnen und Planer stellen. Damit kann dazu beigetragen werden, einer neuen Generation von Planerinnen und Planern nicht nur das Bewusstsein für historische Aspekte des Bauschaffens und der dazu notwendigen archivischen Überlieferungsarbeit zu vermitteln, sondern auch eine nachhaltige Qualitätsdiskussion zu fördern.
Von Beginn an war das A:AI an der TU Dortmund im Sinne des dort praktizierten Ansatzes forschungsgeleiteter Lehre in die universitäre Lehre und Forschung eingebunden, die dem Streben nach einer nachhaltigen Verbesserung der Baukultur verpflichtet ist (#Essay Lehre). Dies spiegelt sich wieder in öffentlichkeitswirksamen Ausstellungen, Publikationen und Kooperationen. Im Baukunstarchiv NRW wird diese Arbeit nun verstetigt. Aus dem Archiv entwickelte Masterarbeiten, Dissertationen sowie Forschungsprojekte, die architekturhistorische und ingenieurwissenschaftliche Fragestellungen verfolgen, zeigen das Potential der Sammlung.
Die sinnliche Erfahrung der Materialität der Überlieferung in ihrer physischen Präsenz und ästhetischen Wirkung bildet einen Gegenpol zur heutigen Architekturproduktion, die stark von virtuellen Bildern geprägt ist und damit den Alltag der Studierenden bestimmt. Archive sind den wenigsten Studierenden bekannt, und so ermöglicht es die Archivarbeit, ein Gespür für die Fragilität, Einzigartigkeit und Einmaligkeit von Originalen zu vermitteln. Dies führt zur Wertschätzung der Arbeit in Archiven, sensibilisiert Studierende als zukünftige Bestandsbildner jedoch auch für Anforderungen an die Projektdokumentation. Im Rahmen von Lehrveranstaltungen werden Betreuungsleistungen erbracht, die neben der Einführung in das Archivwesen und Verzeichnungsarbeiten im Besonderen jedoch Recherchezwecken dienen.
Studierende bearbeiten fallbezogene Lösungen, die eine Sichtung von Originaldokumenten voraussetzt und in eine Diskussion um Bewertungsansätze der gängigen Überlieferungspraxis eingebunden werden kann. Ein weiteres Lernziel ist der kritische Blick für das Erkennen und die Interpretation von Überlieferungszusammenhängen und auch -lücken. Daneben gilt es, die Archivale nicht nur als illustrative historische Abbildung und Zeitdokument, sondern weiterhin als Werkzeug im Planungs- und Entwurfsprozess zu sehen, das reaktiviert werden kann und im Hinblick auf seine Verlässlichkeit im weiteren Planungsprozess zu überprüfen ist.
Das Archiv, wie auch die Lehre und Forschung profitieren von Ausstellungsprojekten als wichtiger Form von Öffentlichkeitsarbeit (#Essay Die Ausstellung). Hier ergibt sich eine der raren Möglichkeiten,
Originale in besonderen Themenzusammenhängen zu präsentieren. Lehr- und Ausstellungsprojekte waren 2007 »Die Medien der Architektur«, 2010 »Auf den zweiten Blick. Architektur der Nachkriegszeit in NRW« im Dortmunder U, das im Rahmen des Kulturhauptstadtjahres RUHR.2010 realisiert wurde, 2012 »Stefan Polónyi. Tragende Linien – Tragende Flächen«, das in Kooperation mit dem M:AI entstand,(5) 2015 »Die Bedeutung der Dinge. Wissenspotenziale eines Baukunstarchivs«, das im Rahmen des Projekts »Planvoll« in Kooperation mit dem Seminar für Kunst und Kunstwissenschaft der Technischen Universität Dortmund umgesetzt wurde, sowie 2018 die Eröffnungsausstellung »Eins Zwei Drei Baukunstarchiv. 80 Objekte aus der Sammlung des Baukunstarchivs NRW«.(7) Hochschullehrende und Studierende wurden gemeinsam zu Forschern an Projekten, deren Ergebnis zugleich öffentlichkeitswirksam präsentiert wurde
Mit dem Projekt »Planvoll«, das 2013–2016 im Rahmen der Initiative SammLehr von der Stiftung Mercator gefördert wurde, konnten über mehrere Semester Seminare mit archivbezogenen Themenschwerpunkten in den Masterstudiengängen Architektur und Städtebau sowie Kulturanalyse und Kulturvermittlung entwickelt und angeboten werden. Dabei wurden unterschiedliche Ansätze für die Einbindung des Archivs in die Lehre erprobt und bereits etablierte Lehrkonzepte und Infrastrukturen zu einem curricularen Baustein weiterentwickelt, der sich als fester Bestandteil in die Lehre integrieren lässt.(8) In dem vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) seit 2018 geförderten Forschungsprojekt »Stadt Bauten Ruhr. Die Bedeutung architektonischer Objekte (Medien) für die Bewertung moderner Architektur«, wird dieser Ansatz in einer Kooperation des Baukunstarchivs NRW, des Museums Folkwang in Essen und der Technischen Universität Dortmund nun weiterentwickelt (#Einleitung).
Mit diesen Projekten wird zudem die wissenschaftsgeschichtliche Stellung von Architektursammlungen aufgegriffen, neu interpretiert und positioniert. Denn hier ist nicht mehr die klassische Vorbildsammlung gefragt, die im ausgehenden 19. Jahrhundert fester Bestandteil der Architektenausbildung an polytechnischen Hochschulen war und die Grundlage vieler universitärer Architektursammlungen bildete. Hier wird unmittelbar bei den Archivbeständen angesetzt, die sich in ihrer ganzen Vielfalt als Lehrsammlung eignen und als solche zum wichtigen Baustein im heutigen Architekturstudium werden können. Dabei ergänzen sich zahlreiche neue Lernfelder: von der klassischen historischen Forschung über den sinnlichen Kontakt mit der Geschichte, die Erfahrungserweiterung in Darstellungstechniken und Entwurfslösungen bis hin zur produktiven Herausforderung durch neue Eindrücke.
Anmerkungen:
(Die jeweiligen Texte des mit zahlreichen Bildern aus Archivbeständen des Baukunstarchivs NRW illustrierten Bands übernehmen wir – leicht gekürzt […] und zum Zwecke besserer Lesbarkeit teils mit eingefügten Zwischenüberschriften versehen – ansonsten wörtlich.)
(1) Dietmar Schenk, Kleine Theorie des Archivs, Stuttgart 2008, S. 52.
(2) Vgl. Peter K. Weber, Das Überlieferungsfeld Stadt und Raum. Dokumentationsziele, Registraturbildner und Quellen, in: Marcus Stumpf/ Katharina Tiemann (Hg.), Häuser, Straßen, Plätze: Der städtische Raum in der archivischen Überlieferungsbildung, Münster 2014, S. 8–24.
(3) Zur Geschichte des Hauses siehe: Sonja Hnilica, Das alte Museum am Ostwall. Das Haus und seine Geschichte, Essen 2014.
(4) Für einen Überblick über Architektur in Archiven in Nordrhein-Westfalen siehe: M:AI –
Museum für Architektur und Ingenieurkunst NRW/AFR – Architektur Forum Rheinland (Hg.), Baukunst in Archiven. Gedächtnis der Generationen aus Papier und Bytes, Gelsenkirchen 2012; Bettina Schmidt-Czaia, Architektur und Archive in Nordrhein-Westfalen. Beiträge eines Workshops im Historischen Archiv der Stadt Köln, Köln 2019.
(5) Vgl. https://baukunstarchiv.nrw/sammlungskonzept/ (14.7.2020).
(6) Sonja Hnilica/Wolfgang Sonne/Regina Wittmann (Hg.), Die Medien der Architektur. Eine Ausstellung des A:AI Archiv für Architektur und Ingenieurbaukunst NRW, Dortmund 2007; Sonja Hnilica/Markus Jager/Wolfgang Sonne (Hg.), Auf den zweiten Blick. Architektur der Nachkriegszeit in Nordrhein-Westfalen, Bielefeld 2010; Ursula Kleefisch-Jobst et al. (Hg.), Stefan Polónyi. Tragende Linien – Tragende Flächen. Bearing Lines – Bearing Surfaces, Stuttgart 2012.
(7) Wolfgang Sonne/Regina Wittmann (Hg.), Eins Zwei Drei Baukunstarchiv. 80 Objekte aus der Sammlung des Baukunstarchivs NRW, Dortmund 2018.
(8) Vgl. Wolfgang Sonne/Barbara Welzel (Hg.), St. Reinoldi in Dortmund. Forschen – Lehren – Partizipieren. Mit einem Findbuch zu den Wiederaufbauplänen von Herwarth Schulte im Archiv für Architektur und Ingenieurbaukunst NRW (A:AI) der Technischen Universität Dortmund, Oberhausen 2016.
Weitere Informationen:
Link zur Veröffentlichung beim Verlag Kettler in Dortmund; hier:
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