Von Klaus Winter
Der Verkehr am Burgtor brummt. Täglich biegen Tausende von Kraftfahrzeugen vom Wallring ab, unterqueren die Eisenbahnbrücke und folgen der Leopoldstraße mehr oder weniger weit nach Norden. In umgekehrter Richtung sieht es nicht anders aus. Viel Verkehr herrschte hier aber auch schon vor 150 Jahren, doch stellte der sich vollkommen anders dar. Denn vor dem Bau der Eisenbahnbrücke zu Beginn des 20. Jahrhunderts kreuzten die Eisenbahngleise niveaugleich die Straße. Eine Schrankenanlage trennte bei Bedarf den Straßen- vom Schienenverkehr.
Alles staute sich am Burgtor – Gastronomie profitierte von den geschlossenen Schranken
Die Eisenbahnschranke am Burgtor war berüchtigt. Sie galt als massives Hindernis für den Verkehr zwischen der alten Stadt und dem stetig wachsenden nördlichen Stadtteil. Denn die Schranke war oft und lange geschlossen.
Dann stauten sich Fußgänger, Reiter, Fuhrwerke aller Art, und warten die Durchfahrt der Eisenbahnzüge ab. In den 1870er Jahren wurden seitens der Polizeiverwaltung sogar statistische Erhebungen geführt, um die stadtbekannten Stau-Situationen zu messen.
Der regelmäßig vor den geschlossenen Eisenbahnschranken auftretende Verkehrsstau entpuppte sich als Vorteil für die umliegenden gastronomischen Betriebe: Sie profitierten von denen, die die Wartezeit als Gelegenheit für eine Erfrischung oder Stärkung nutzen wollten.
Karlchen Richter, Redakteur des Dortmunder Generalanzeigers und heute in einem beinahe legendären Ruf stehend, beschrieb in seinem Büchlein „Dortmunder Leben vor 25 Jahren“ (1917), wie man die Wartezeit an der geschlossenen Schranke überbrücken konnte.
Mit Eisbein und Bier konnte die Wartezeit überbrückt werden
„Wenn die Barriere [= Schranke] einmal gefallen war, konnte man bis zur Wiedereröffnung drei Tulpen Bier und eine ganze Portion Eisbein mit Sauerkraut zu sich nehmen. Wenigstens mittags in der schlimmsten Verkehrszeit; am stilleren Abend langte es nur zu zwei Tulpen und einer halben Portion.“
Bei dieser Beschreibung hatte Richter ein bestimmtes Lokal vor Augen. Es befand sich im Haus Münsterstraße 2, lag also direkt an der damaligen Einmündung der Straße Königshof in die Münsterstraße. Das entspricht in etwa der heutigen Einmündung der Leopoldstraße in die Münsterstraße. Der Wirt des Lokals hieß Hermann Vogell – mit zwei „L“.
Vogell übernahm ein vormaliges Tingel-Tangel – Der neue Wirt renovierte und kaufte dann sein Lokal
Der Wirt Vogell war kein Neuling in seinem Fach, als er seine Tätigkeit am Burgtor aufnahm. Er hatte zuvor schon der Wirtschaft im Haus Steinstr. 4 vorgestanden, und vorrübergehend auch die an der Kaiserstr. 6 geführt.
Das Lokal, hinter dessen Tresen er sich jetzt stellte, verfügte schon über eine gewisse Tradition. In den 1870er Jahren war es eines der berüchtigten Tingel-Tangel gewesen, die den schlechten Ruf der Gastronomie um den Steinplatz begründet hatte. Besitzer war viele Jahre der Wirt und (Klein-)Brauereibesitzer Fickel gewesen.
1882 übernahm Hermann Vogell seine neue Wirkungsstätte von Fickel. Fünf Jahre später renovierte er seine Wirtschaft gründlich von außen und von innen. Das Lokal „hat nicht nur ein prächtiges neues Kleid, sondern auch Fenster aus buntem Glase – mit Kaiser-, Ritter- etc. Figuren – erhalten, ebenso ist das Mobilar durchweg erneuert.“ 1896 war Hermann Vogell auch Eigentümer des Hauses Münsterstr. 2 geworden. Mit dem Kauf hatte er sich am Burgtor endgültig festgesetzt.
Am Tisch der Eisenbahner saß ein Polizeibeamter – Vogells Lokal wurde zum Casino des Nordens
Vogell konnte im Laufe der Zeit eine Reihe Stammtische und Stammkunden an sich binden, darunter viele Personen, die im nördlichen Stadtteil Rang und Namen, Bildung und Besitz hatten. Der bereits erwähnte Redakteur Karlchen Richter hat sie in seinem 1917 erschienenen Büchlein verewigt.
In Vogells Schankraum links hinten saßen die Eisenbahner, die bis in die Nacht hinein Schafskopf spielten. In der Mitte trafen sich die maßgeblichen Bauunternehmer des Nordens, mitunter in lautstarke Diskussionen verwickelt. Die endeten aber nie im Streit. Dafür sorgte der Polizeikommissar Fischer, der ebenfalls an diesem Tisch saß.
Gleich links vom Eingang saßen im Vogellschen Lokal die Honoratioren des Nordens an ihrem Stammtisch: Bäckermeister Göbel, Metzger Eppelsheim, Eisenwarenhändler Dorndoff, Uhrmacher Geck, Getreidehändler Pieper und andere. Weil die nördliche Prominenz der Stadt sich regelmäßig bei Vogell traf, hatte das zur Folge, dass man sein Lokal auch als „nördliches Casino“ bezeichnete. – Eine Anspielung auf die „feine“ Casino-Gesellschaft, die sich in der Altstadt traf.
Am Honoratioren-Tisch ging es zuweilen denkwürdig zu: 12 Personen verzehrten eines Abends ein Spanferkel von 38 Pfund Gewicht mit Stumpf und Stiel. „Ja, ein Festgenosse, der Brauereireisende Anton Br., suchte hinterher noch die Knochen ab, wobei er bedauerte, daß, so schön auch alles gewesen sei, es doch wieder nicht gelangt habe.“
Bankier hatte unglaubliche Siegesserie beim Skat
Zu den Originalen, die laut Karlchen Richter bei Vogell einkehrten, gehörte ein großgewachsener Bankier, der von seinem benachbart liegenden Heim abends sein Stammlokal „in bequemer Hausjoppe und weichen Trittlingen, die lange Pfeife im Mund“ aufsuchte.
Er spielte gerne Skat und seine ewig lange Siegesserie endete erst, als bemerkt wurde, dass er in einem Wandspiegel sehen konnte, welche Karten seine Mitspieler hatten. – Nach dieser Entdeckung wurde der Spiegel während des Spiels verhängt.
Die Gendarmerie wachte über die Ruhe in der Stadt
Gendarmerie-Oberwachtmeister Borgmann wäre heute auch längst vergessen, hätte Karlchen Richter ihn nicht dokumentiert oder besser karikiert. Borgmann kehrte abends von seinen Patrouillenritten zurück und bei Vogell ein. Eingefangen hatte er im Dienst gewöhnlich nichts anderes als einen großen Durst, den er nun ruhig und ernst bekämpfte.
Erst wenn der letzte Gast gegangen war, „dann erhob sich auch der Herr Oberwachtmeister, zog seinen Rock über den stattlichen Bauch glatt, schnallte die Koppel um und schüttelte dem Wirt Vogell, der unbeweglich an seinem glänzenden Zapfhahn stand wie ein Steuermann in sturmbewegter See vor seinem Steuer, feierlich die Hand, als ob er sagen wollte: Die Stadt ist ruhig! Dafür sorge ich!“
Auf Vogell folgte Klockenbusch, dann wieder Vogell
So ging es also einst bei Hermann Vogell zu, der auch Major der Kavallerie des Nördlichen Dortmunder Schützenbundes war – was seinem Bekanntheitsgrad sicherlich förderlich war.
Bis 1909 führte Vogell seine Wirtschaft und zog sich dann in das Privatleben zurück. Das war zu der Zeit, als die Schrankenanlage am Burgtor durch die noch heute vorhandene Eisenbahnbrücke ersetzt wurde. Trotz dieser einschneidenden Änderung lag Vogells Wirtshaus weiterhin im Blickpunkt des Verkehrs.
Vogells Nachfolger wurde der Wirt Kaspar Klockenbusch. Der konnte sich aber nicht lange halten. Hermann Vogell übernahm – zumindest nominal – noch einmal das Ruder und zeitgleich trat sein gleichnamiger Sohn sein Amt als Geschäftsführer an.
Erst nach dem Zweiten Weltkrieg endete die Ära Vogell
Hermann Vogell jun. wurde vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges Inhaber der „Fa. Herm. Vogell, Restaurant und Bierhalle“ und blieb es bis in den Zweiten Weltkrieg hinein. Er überlebte den Krieg. Noch 1952 war er Eigentümer des vom Vater übernommenen Hauses. Allerdings hatte er dort nicht mehr seine Wohnung und mit dem Gastwirt Menzen einen Nachfolger hinter der Theke.
Bald darauf wurde der geschichtsträchtige wie an Geschichten reiche Ort abgerissen.