Dortmund verfügte über eine eindrucksvolle und stadtbildprägende Synagoge. Oberbürgermeister Wilhelm Schmieding sprach bei der Einweihung im Jahr 1900 stolz von einer „Zierde für die Stadt“ und wünschte sie sich „für Jahrhunderte erbaut“. Doch die Nationalsozialisten verfügten 1938 den Abriss des markanten jüdischen Gotteshauses. Die Orgel – keine Selbstverständlichkeit in Synagogen – fand in der Nordstadt in der katholischen Kirche St. Gertrudis eine neue Heimat auf Zeit. In der Serie „Nordstadt-Geschichte(n)“ skizziert Heimatforscher Klaus Winter die Ereignisse nach.
Am 8. Juni 1900 wurde am Hiltropwall die neue Synagoge der jüdischen Gemeinde Dortmund eingeweiht. Natürlich beschäftigte sich die Tagespresse ausführlich mit diesem Ereignis. Bei der Beschreibung des Sakralbaus und seiner Ausstattung wurde auch die prächtige Orgel der Synagoge erwähnt, die auf der Sängerempore oberhalb des Allerheiligsten ihren Platz gefunden hatte.
Die imposante Walker-Orgel spielte bei der Eröffnung eine große Rolle
Die Orgel stammte aus der Werkstatt der Firma Walcker, Ludwigsburg, besaß 41 Register und war mit einem elektrischen Gebläseantrieb ausgestattet. Bei der Einweihungsfeierlichkeit hatte sie ihren ersten großen Auftritt: Nach der feierlichen Schlüsselübergabe und der Öffnung der Pforte schritten die Geistlichen und die Träger der Thora-Rollen in das Gotteshaus, in dem sich die Gemeinde bereits versammelt hatte, und wurden „umrauscht von den herrlichen Klängen eines Orgelpräludiums“.
Im Gegensatz zu christlichen Kirchen, in denen man die Orgel als Teil der Grundausstattung betrachtet, ist dieses Instrument in Synagogen keineswegs selbstverständlich. In den Gotteshäusern orthodoxer Gemeinden sucht man sie in der Regel vergebens. Demnach kann schon allein aus dem Vorhandensein einer Orgel in der Dortmunder Synagoge geschlossen werden, dass hier eine liberale jüdische Gemeinde ihr Zentrum hatte.
Die Konzertreihe war eng verbunden mit dem Namen Carl Holtschneider
Die jüdische Gemeinde nutzte ihre prachtvolle Synagoge nicht allein für Gottesdienste, sondern öffnete sie auch der Allgemeinheit. Viele Jahre lang war sie einer von zwei Veranstaltungsorten einer anspruchsvollen Konzertreihe, dessen Programm in der Tagespresse häufig ausführlich besprochen wurde.
Die Orgelkonzerte fanden abwechselnd in der Stadtkirche St. Reinoldi und in der Synagoge statt. Mit der Konzertreihe eng verbunden war der Name Carl Holtschneider. Holtschneider war einer der bekanntesten Musiker im damaligen Dortmund. Er leitete als Königlicher Musikdirektor eine Musikschule an der Balkenstraße, zu der eine Filiale in Hörde gehörte, und hatte darüber hinaus die Position des 1. Organisten der Reinoldi-Gemeinde inne. Über Jahrzehnte organisierte Carl Holtschneider die Orgelkonzerte.
Holtschneiders erstes Orgelkonzert in der Synagoge fand am 22. November 1903 statt. Bei dem 23. Konzert, das als letztes der Saison 1907/08 im März 1908 geboten wurde, kam erstmals das neue Fernwerk zum Einsatz. Hierbei handelte es sich um eine zweite Orgel, die in einem anderen Raum aufgestellt war als das Hauptinstrument und ihre Töne über einen Schallkanal in den Zuhörerraum leitete. Im November 1916 fand das 60. Orgelkonzert statt und vier Jahre später im selben Monat das 75. Wann die Orgelkonzerte endeten, konnte bislang nicht festgestellt werden.
Am 19. September 1938 wurde der Verkauf der Synagoge von den Nationalsozialisten erzwungen. Mit einer schriftlichen Erklärung traten die Mitglieder des Vorstandes der jüdischen Gemeinde am 20. September das Verfügungsrecht über die Synagoge und ihre Gebäude an der Taubenstraße an die Stadt ab.
Orgel wurde durch die Kirchengemeinde am Hackländerplatz „geborgen“
Diese veranstaltete daraufhin am 21. September eine Feierstunde vor der Synagoge. NSDAP-Kreisleiter Hesseldieck hielt die Ansprache, in der bereits der Abbruch der Synagoge als historisches Ereignis angekündigt wurde.
Als die Feierstunde einmal unterbrochen wurde, stürmten Mitglieder des Jungvolks und der Hitler-Jugend die Synagoge und richteten in ihrem Innern Schäden an. Diese wurden bei einer Besichtigung der Synagoge am folgenden Tag dokumentiert. Zur Orgel hieß es dabei, dass auf der Empore keinerlei Schäden feststellbar waren.
Im „Kaufvertrag“ zwischen jüdischer Gemeinde und Stadtverwaltung war u. a. festgelegt worden, dass das gesamte Inventar einschließlich Orgel, Gestühl, Beleuchtung, der Schrank der Gesetzesrollen, Heizkessel und die beiden am Eingang befindlichen Heldengedenktafeln der Jüdischen Religionsgemeinde verbleiben sollten.
Ein Vorstandsmitglied der jüdischen Gemeinde, Silberberg, wurde beauftragt, binnen einer Woche alle wertvollen Gegenstände aus der Synagoge sicherzustellen. Doch schon am ersten Tag seiner Tätigkeit, dem 28. September wurden er und seine Helfer bei diesen Arbeiten behindert, so dass diese schließlich ganz eingestellt werden mussten.
Die Synagogenorgel kam nach St. Gertrudis in der Nordstadt
Silberberg erinnerte sich 1947, dass „die Orgel oder ein Teil hiervon durch Arbeiter für die kath. Kirchengemeinde am Hackländerplatz geborgen“ wurde. Der Kirchengemeinde „war die Orgel vom Vorstand zugesprochen worden.“
Die Wurzel der römisch-katholischen Gertrudis-Gemeinde war eine 1916, also mitten im Ersten Weltkrieg geweihte kleine Kapelle an der Rückertstraße. 1921 wurde dann die Pfarrei St. Gertrudis durch Abpfarrung von St. Josef, Münsterstraße, ins Leben gerufen, und sechs Jahre später ein Kirchenneubau am Hackländerplatz begonnen.
Die neue Kirche wurde am 22. April 1928 konsekriert. Zu dem Zeitpunkt war die Kirche aber noch nicht vollständig eingerichtet. Der Gesang der Gemeinde wurde lediglich von einer Notorgel unterstützt. Man sparte noch für eine große Orgel.
In Dortmund existiert heute anscheinend keine zeitgenössische schriftliche Überlieferung zum Verkauf der Orgel der Synagoge an die Gertrudis-Gemeinde mehr. Einige wenige Belege finden sich aber noch in Archiven in Münster und Paderborn.
Reiht man die Fragmente aneinander, so ergibt sich folgendes Bild: Die jüdische Gemeinde bot der Gertrudis-Gemeinde die Orgel der Synagoge zum Preise von 8.000 Reichsmark zum Kauf an. Pfarrer Schrewe von St. Gertrudis wollte die Orgel vorbehaltlich der Genehmigung der Behörden und des Kirchenvorstandes übernehmen. Deshalb fragte er am 24. September bei der Stadtverwaltung Dortmund an, ob von Seiten der Stadt gegen das Vorhaben Einsprüche erhoben würden.
Wegen des drohenden Abbruchs der Synagoge drängte die Gemeinde zur Eile
Da die Zeit drängte – der Abbruch der Synagoge sollte am 6. Oktober beginnen – bat er um rasche Rückantwort. „Wenn ich bis Donnerstag, 29. September keinen anders lautenden Bescheid erhalten habe, nehme ich an, dass die Stadtverwaltung einverstanden ist und ordnungsmässige und ungestörte Abmontierung und den Abtransport der Orgel gewährleistet.“
Der Oberbürgermeister antwortete tatsächlich erst am 1. Oktober, dass er keine Einwände gegen den Kauf der Orgel durch die Gertrudis-Gemeinde hätte, doch könne die Stadt Dortmund keinerlei Haftung bei einer eventuellen Beschädigung der Orgel übernehmen, schon gar nicht nach Beginn der Abbrucharbeiten an der Synagoge.
Pfarrer Schrewe hatte ebenfalls am 24. September das Erzbischöfliche Generalvikariat in Paderborn über den beabsichtigten Orgelkauf informiert. Wegen der Dringlichkeit der Angelegenheit hatte er keinen Kirchenvorstandsbeschluss zum Ankauf des Instruments mehr herbeiführen können, versicherte aber, dass die finanziellen Mittel ohne Belastung des Kirchenetats zur Verfügung gestellt werden würden.
Aus Paderborn kam postwendend die Antwort, dass man gegen den Kauf der Orgel der Synagoge nichts einzuwenden hätte, „vorausgesetzt, daß die Orgel dem Wert entspricht, worüber ein Orgelsachverständiger gehört werden muß.“ Dass dieses Gutachten eingeholt wurde, darf angesichts der Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit bezweifelt werden.
Die Synagogenorgel hatte in der Gertrudis-Kirche keine große Zukunft
Den Abbau und Abtransport der Orgel führten Mitgliedern der Gertrudis-Gemeinde unter Leitung eines Dortmunder Orgelbauers durch. Die Frage, wann ihr Wiederaufbau in der Kirche am Hackländerplatz abgeschlossen war, so dass sie dort erstmals gespielt werden konnte, muss unbeantwortet bleiben.
Fest steht, dass die Orgel in der Gertrudis-Kirche keine große Zukunft hatte: Als die Kirche wenige Jahre später dem Bombenhagel des Zweiten Weltkriegs zum Opfer fiel, wurde sie ebenfalls zerstört.
Nach dem Krieg standen der Spieltisch und ein großer Teil der Orgelpfeifen, von denen einige gestohlen wurden, unbrauchbar auf der Orgelbühne von St. Gertrudis, während darunter eine Notkapelle eingerichtet war. Als Instrument für die musikalische Untermalung der Gottesdienste musste auf ein Harmonium zurückgegriffen werden.
Im Zusammenhang mit dem Neubau der Orgel für die wiedererrichtete Kirche St. Gertrudis wurden der Gemeinde von einer Lübecker Orgelbaufirma 3.000 DM gutgeschrieben als „Erstattung für Orgelschrott aus der früheren durch Kriegseinwirkung zerstörten Orgel.“
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