In ihrem Kibbuz wurden 13 Zivilist:innen getötet und 16 verschleppt

SERIE „Ein Jahr nach dem 7. Oktober“: Shenhav und Bar überlebten das Massaker der Hamas

Shenhav (r.) und Bar (l.) in ihrem Kibbuz Nahal Oz  – vor dem Überfall und den Massakern durch die Hamas. Archivbild von vor dem 7. Oktober 2023: Shenhav Dabool

Shenhav und Bar sind Überlebende des Massakers der terroristischen Hamas am 7. Oktober 2023. Ein Jahr später sind sie zu Gast in Dortmund. Sie gehen in Schulen, sprechen bei der Gedenkveranstaltung am ersten Jahrestag und teilen ihre Geschichte. Im Gespräch mit Nordstadtblogger geben sie Einblicke in ihr schlimmstes Erlebnis, in die 24 Stunden, von denen sie dachten, dass sie sie nicht überleben werden.

Der Kibbuz Nahal Oz liegt nur rund 500 Meter von dem Grenzzaun zu Gaza entfernt

Vor dem 7. Oktober 2023 verbrachten die beiden ihre Zeit unbeschwert mit Freund:innen. Quelle: Shenhav Dabool

„Wir waren am 6. Oktober zu Gast bei Freunden in einem anderen Kibbuz“, erzählt Shenhav. Sie und ihr Verlobter sitzen in einem Wohnzimmer in der Innenstadt von Dortmund. Ihnen gegenüber auf der Couch: Jüdische Jugendliche und junge Erwachsene. Die Stimmung ist locker, familiär.

Im Oktober 2023 lebten Shenhav und Bar getrennt. Shenhav ist angehende Ingenieurin, studiert an einer der renommiertesten Universitäten Israels, schreibt gerade ihre Bachelorarbeit und lebt in Haifa. Bar lebt im Kibbuz Nahal Oz, ganz nah an der Grenze zu Gaza. Er hat eine eigene Wohnung und arbeitet neben seinem Fernstudium in der Kneipe des Kibbuz.

Jedes zweite Wochenende besucht Shenhav ihren Freund. Auch am Wochenende des 7. Oktobers, denn da hat der Kibbuz 70 jähriges Jubiläum. Es wird gefeiert, getanzt, gegrillt. In Nahal Oz leben etwa 400 Menschen, 70 Familien. Die beiden fühlen sich sehr wohl in der Gemeinschaft. Bar hat seitdem er dort lebt noch kein einziges Mal seine Haustür abgeschlossen. Das Paar plant, nach dem Studium gemeinsam dort zu leben.

15 Sekunden, um in Sicherheit zu fliehen: Saferooms sind in Israel gesetzliche Pflicht

„Wir sind mitten in der Nacht zurück nach Hause gefahren. Da haben wir uns noch gewundert, über die vielen Autos auf der Landstraße. Wir wussten gar nichts von dem Nova-Festival“, sagt Shenhav und meint das nah gelegene Techno-Festival, das unweit des Kibbuz stattfindet. Gegen drei Uhr nachts kommen die beiden nach Hause. Sie legen sich ins Bett und schlafen ein.

Um 6.29 Uhr ertönen die Sirenen. „In der Zone direkt am Gaza-Streifen hat man 15 Sekunden Zeit, um ins Shelter zu kommen“, erklärt Bar. Shelter meint einen Luftschutzraum aus massivem Beton mit dicken Wänden und Metallschutz vor den Fenstern, der vor Rakteneinschlägen schützen soll. In Israel ist ein solcher Raum in jeder Wohnung Pflicht. Bei Shenhav und Bar ist das Schlafzimmer das Shelter.  ___STEADY_PAYWALL___

Der Sicherheitsdienst des Kibbuz weist die Bewohner:innen an, sich in ihre Saferooms zurückzuziehen, ihn zu verriegeln und nicht mehr zu verlassen, bis sie neue Anweisungen bekommen. Zu dem Zeitpunkt denkt das Paar noch, es handele sich um einen gewöhnlichen Raketenangriff. „Wir haben beide in der Armee gedient, wir dachten erst ,Okay, sowas kann passieren. Die befolgen nur das Protokoll’“, sagt Bar.

Etwa 2000 Terroristen durchbrachen an 57 Stellen den Grenzzaun zu Israel

Das junge Paar versteckt sich sofort unter dem Bett. Die Sirene ist für sie nichts Neues, dass sie 15 Minuten lang anhält aber schon. Die beiden realisieren, dass es sich nicht um einen normalen Angriff handelt. In den israelischen Medien finden sie noch nichts außergewöhnliches, aber das Kibbuz hat eine eigene WhatsApp-Gruppe.

Shenhav (r.) und Bar (l.) an Neujahr 2022. Quelle: Shenhav Dabool

Gegen 7 Uhr morgens erreichen sie dort die ersten Nachrichten von anderen Bewohner:innen des Kibbuz. Von Schüssen und Terroristen ist die Rede: „Wir haben Informationen nur über diese Gruppe bekommen. Da kamen ständig Hilferufe rein, von anderen Bewohnern. Sie schrieben ,Hilfe! Hier sind Terroristen in unserem Saferoom!’“

Aber Hilfe kommt erst einmal keine. Am 7. Oktober 2023 durchbrechen rund 2000 Terroristen der islamistischen Hamas an 57 Stellen den Zaun zur Grenze nach Israel. Da in der Woche ein Feiertag ist, sind viele israelische Soldaten bei ihren Familien. An der gesamten Grenze sind nur zwei Untereinheiten stationiert, insgesamt etwa 200 Soldaten.

„Das mache ich morgen!“ – Vergessenes Regalbrett verriegelte die Tür zum Saferoom

Die Terroristen greifen angrenzende Orte, wie den Kibbuz Nahal Oz, der nur 500 Meter von der Grenze entfernt liegt, an. Auch das nah gelegene Nova-Festival. Sie massakrieren alle Menschen, die ihnen vor die Augen kommen und verschleppen mehr als 200 Geiseln nach Gaza, wo sie unter Applaus und Jubel empfangen werden. Aber davon wissen Shenhav und Bar noch nichts.

Dank diesem Regalbrett konnten Shenhav und Bar den nicht abschließbaren Schutzraum verriegeln. Quelle: Shenhav Dabool

Sie sitzen immer noch in ihrem Luftschutzraum. Der ist aber nur für Raketeneinschläge konzipiert, die Tür des Shelters kann deshalb nicht verschlossen werden. Im Falle eines Raketeneinschlags müssen Ersthelfende von außen Zugang zum Schutzraum haben. Um die Tür zu verriegeln, muss also die Türklinke nach oben gedrückt werden. Für einige Menschen, auch im Kibbuz Nahal Oz, ist das am 7. Oktober ein Todesurteil.

Bar und Shenhav haben Glück. Kurze Zeit vorher hatten sie ein Regalbrett gekauft. „Shenhav hat mir die ganze Zeit gesagt, ich solle es endlich aufhängen. Ich habe immer nur gesagt: ,Das mache ich morgen!’“, berichtet Bar. Das Regalbrett klemmen die beiden unter die Türklinke und verriegeln so die Tür zum Saferoom. Und so hocken sie da – Stunde um Stunde. Ohne etwas zu trinken oder zu essen.

Shenhav und Bar sagten sich im Schutzraum Lebewohl – und dann packte sie der Wille zu Überleben

„Ich habe mein Leben an mir vorbeiziehen sehen. Für uns war klar, wir werden das nicht überleben. Und wenn doch, dann kommen wir in ein von der Hamas kontrolliertes Land“, verrät Shenhav. Sie habe sich bei ihrem jetzigen Verlobten bedankt, für die schöne gemeinsame Zeit. Sie habe sich bedankt, für ihr Auslandssemester in Kopenhagen, dafür, dass sie Bruno Mars noch einmal live sehen konnte. Und für ihr Leben.

„Wir haben das laut ausgesprochen. Haben uns gesagt, wie sehr wir uns und das Leben lieben. Und das war dann ein Wendepunkt für uns“, erzählt Shenhav weiter. Die beiden schalten in eine Art Überlebens-Modus. Und fangen an, eine Liste zu erstellen. Ein Konzept, um zu prüfen, ob es den Nachbar:innen gut geht. Dazu muss eine Person schnell aus dem Schutzraum raus und an die Wand zum Nachbarhaus klopfen. Klopfen die Nachbar:innen zurück, ist vorerst alles okay und die Namen werden von der Liste gestrichen.

Draußen hören sie immer wieder Schreie. Und Schüsse. Viele Leute in dem Kibbuz sind jung, wohnen alleine, sagt Bar. „Sie haben die ganze Zeit zum Teil ohne Handy oder Elektrizität alleine da gesessen“, stellt er mit ernster Miene fest. „Es war unerträglich, denn wir können die Schüsse unterscheiden“, sagt Shenhav. Aus der Zeit aus dem Militär wissen die beiden, wie ein Schuss aus einem Gewehr der IDF (Israel Defence Forces) oder ein Schuss aus einem Gewehr der Hamas klingt.

„Die Wände haben gewackelt“ – Eine Rakete schlug vor Bars Haus ein

Gegen 15.30 Uhr kommt das Israelische Militär in das Haus von Bar. Er kann eine Hose und Wasser holen. Dann wird er angewiesen, zurück in den saferoom zu gehen, ihn zu verriegeln und auf weitere Anweisungen zu warten. Wie bereits am Morgen.

In ihr Haus im Kibbuz Nahal Oz können die beiden nicht zurück. Quelle: Shenhav Dabool

Am frühen Abend hören Shenhav und Bar einen ohrenbetäubenden Knall. „Die Wände haben gewackelt. Da haben wir verstanden, dass der Iron Dome nicht mehr funktioniert. Ich war mit sicher, dass eine Rakete in meinem Wohnzimmer liegt“, sagt Bar. Vor seinem Haus schlägt eine Rakete der Hamas ein. Sie sitzen weiter in dem saferoom. Sie hören Schüsse, Menschen schreien.

Um Mitternacht wird ein Fenster von Bars Wohnung eingeschlagen. „Wir hatten gehört, dass die Terroristen so in die Häuser reinkommen“, berichten die Beiden. Sie schreiben in die WhatsApp-Gruppe, bitten um Hilfe. Eine Nachbarin von gegenüber sagt, sie werde gerade evakuiert und könne an Bars Haus nichts Auffälliges sehen. Das Militär bringt erst sie zu einem Sammelpunkt und kehrt dann zu Shenhav und Bar zurück.

Die Terroristen töteten 13 Zivilisten und verschleppten 16 Bewohner des Kibbuz

Die Soldaten rufen ihre Namen. Die Beiden öffnen die Tür, greifen alles, was sie tragen können und werden sofort evakuiert. Auf ihrem Weg zu einer Sammelstelle sehen sie, dass die Kuhfarm des Kibbuz lichterloh in Flammen steht. „Und dann haben wir angefangen uns umzusehen. Nicht um zu schauen, wer da ist, sondern um zu sehen, wer fehlt“, erzählen sie.

Die Hamas-Terroristen töten an dem Tag 13 Zivilist:innen und 56 Soldat:innen in Nahal Oz. Sie verschleppen 16 Israelis in den Gaza-Streifen. Zwei Familienväter sind bis heute nicht zurückgekehrt. Am Ende des Tages zählt die IDF rund 300 tote Terroristen in dem Kibbuz, sagen Shenhav und Bar.

Besonders die Tage nach dem brutalen Überfall der Hamas seien für sie hart gewesen, berichtet das Paar. „Jeden Tag wird jemand Neues tot gefunden. Manchmal sind es deine Freunde. Manchmal deine Familie. Manchmal deine Nachbarn“, sagt Shenhav.

Das Paar möchte trotz der angespannten Situation in Israel bleiben

Das Sicherheitsgefühl des jungen Paares ist erschüttert, so wie das vieler Israelis. „Einen Monat vor dem 7. Oktober ist meine Familie zu Besucht gekommen. Sie hatten Angst so nah an die Grenze zu Gaza zu kommen. Ich habe ihnen gesagt ,Ihr braucht keine Angst haben, das hier ist der sicherste Ort, wir haben direkt eine Militärbasis neben dem Kibbuz“, erzählt Shenhav.

Shenhav und Bar mit anderen Bewohnern des Kibbuze Nahal Oz vor dem 7. Oktober 2023. Quelle: Shenhav Dabool

Aber seitdem seien der Krieg und damit auch der 7. Oktober allgegenwärtig. „Man sieht überall die Bilder der Geiseln, hört ständig die Sirenen. Und in Israel hat jeder jemanden in diesem Krieg verloren“, sagt Bar.

In sein Haus in Nahal Oz kann Bar wegen des anhaltenden Krieges nicht zurückkehren. Auf die Frage, ob das frisch verlobte Paar in Israel bleiben will, entgegnen sie: „Es ist hart optimistisch zu sein und es kommt immer ganz auf den Tag an. Manchmal denken wir, wir wollen nicht mehr in Israel leben. Aber dann haben wir wieder Hoffnung und denken, wir müssen helfen, für uns und auch für Israel eine gute Zukunft aufzubauen.“

Weitere Informationen: 

  • Die Geschichte einer verschleppten Geisel aus dem Kibbuz Nahal Oz wird in dieser Dokumentation der ARD ausführlich thematisiert, ebenso wie die Schicksale weiterer Opfer des 7. Oktobers und der aktuellen Situation der Zivilisten in Gaza. TW: Leichen, Ermordungen, Islamismus www.ard.de

Unterstütze uns auf Steady

 Mehr auf dazu auf Nordstadtblogger:

Serie „Ein Jahr nach dem 7. Oktober“: Mehr als 400 Menschen bei Solidaritätskundgebung in der City

Serie „Ein Jahr nach dem 7. Oktober“: Malika Mansouri über antimuslimischen Rassismus

Über jahrhundertealte Ressentiments und die endlose Geschichte des Judenhasses

Sebastian Voigt über den Überfall der Hamas auf Israel und die Landtagswahlen im Osten


Nordstadtblogger – in eigener Sache:


Die Nordstadtblogger-Redaktion liefert auch Nachrichten aus Dortmund via WhatsApp.

Der neue Kanal ist kostenlos zu abonnieren  – dann gibt es regelmäßig die wichtigsten Nachrichten direkt aufs Handy.

Hier geht’s zu unserem WhatsApp-Kanal: whatsapp.com/channel/0029VaWVNcRL7UVUGXdGSy3y