Die Sammlung des Museums am Ostwall im Dortmunder U kann sich über Zuwachs freuen. Im Rahmen der Ausstellung „Fast wie im echten Leben“ wird das neue Kunstwerk seinen Platz in der Abteilung „Freund oder Feind?“ einnehmen. Wobei das „fast“ des Titels hier tatsächlich untertrieben ist. Denn die Skulptur des niederländischen Künstlers Roy Villevoye mit dem Titel „The Searcher“ besticht durch ihre verblüffende Lebensechtheit. Durch das Kunstwerk sollen Brücken aus der Vergangenheit in die Gegenwart geschlagen werden, um ein unfassbares Ereignis wie den Ersten Weltkrieg von 1914 bis 1918 besser zu verstehen.
Es geht um die Befreiung des historischen Verständnisses von Pathos und Mythos
Das unvorstellbare Grauen und Leiden der Soldaten soll durch nüchterne, sachliche Betrachtung fassbarer gemacht werden, um daraus Schlussfolgerungen für ein faktischeres, von Pathos und Mythos befreites Verständnis der Vergangenheit zu ziehen.
„Wir freuen uns sehr, hier eine wirklich ausgefallene, sehr eigene Form der Erinnerungskultur in unsere Sammlung aufnehmen zu können. Kunst soll sich hier mit lebensnahen Themen beschäftigen. „The Searcher“ repräsentiert einen Menschen, wie er auch wirklich alltäglich auf die Suche geht und ist das Bindeglied zwischen der Vergangenheit des Krieges und der Erinnerung von heute“, erklärt die Kuratorin der Sammlung im Dortmunder U, Dr. Nicole Grothe.
Die Skulptur von Roy Villevoye zeigt einen real existierenden Menschen. Es handelt sich um Jean Paul, der im Grenzgebiet zwischen Frankreich und Belgien lebt. Schon als Jugendlicher stieß er im Umfeld des elterlichen Hauses auf Relikte der riesigen Materialschlachten des Ersten Weltkrieges. Er war fasziniert und schockiert zugleich. Er wollte mehr darüber erfahren, wie es den Soldaten damals in den Schützengräben erging, wie sie kämpften, lebten, hofften und starben.
Selbstzweifel und ein eremitisches Leben sind der Preis, den Jean Paul für seine Arbeit zahlt
Seine Sammelleidenschaft nahm ihn immer mehr in Beschlag, faszinierte ihn und hielt ihn gefangen, bis er letztendlich beschloss, dieser Aufgabe sein Lebenswerk zu widmen. Seither streift er durch die Landschaft um sein Heim, sucht, sammelt und archiviert. Allein hier findet er genug Hinterlassenschaften von damals.
„The Searcher“ alias Jean Paul trägt diese im Museum am Ostwall plakativ zur Schau. Zu seiner Ausstattung zählen Soldatenhelme, Stacheldraht oder Wellbleche, die als Grundgerüste für Unterstände dienten, die dann mit Geäst von den Soldaten getarnt wurden. Es kamen Zeiten, in denen er selbst zweifelte.
Ist das, was ich tue, den Gefallenen und ihren Angehörigen gegenüber rechtens oder störe ich die Totenruhe? Er ist sich bei seiner Arbeit jederzeit bewusst, dass nicht nur Kleidung, Waffen oder Kochtöpfe in den Wäldern verborgen liegen, sondern auch tausende vermisste Soldaten hier begraben sind.
Jean Paul: „Ich will den Menschen zeigen, wie schrecklich Krieg ist!“
Künstler wie Protagonist fühlen sich verantwortlich. Sie möchten den Umgang mit der Erinnerung in den Fokus rücken und den Menschen klarmachen, dass auch unser heutiges Leben beeinflusst ist durch historische Ereignisse wie die beiden großen Weltkriege.
Bis heute findet Jean Paul in der näheren Umgebung seines Hauses Hinterlassenschaften der Soldaten, die er akribisch sammelt und archiviert. Sein Leben lang ist er ein Suchender. Er hat sich aus der schnelllebigen Gesellschaft unserer Zeit zurückgezogen und führt ein altruistisches, der Aufklärung und Erinnerung gewidmetes Leben.
Roy Villevoye interessiert sich schon lange für die Geschichte des Ersten Weltkrieges. Bei Wanderungen durch die Provinz bei Verdun, die auch heute noch von Trümmerfeldern durchsetzt ist, hörte er von einem Holländer, der in der Nähe ein Museum betreiben solle.
Interessante Kooperation mit Rotterdamer Künstler Remie Bakker
So lernte Villevoye Jean Paul kennen. Aus Sympathie wurde Zusammenarbeit und schon bald realisierte Villevoye mit dem befreundeten Regisseur Jan Dietvorst den Film „After the Battle“ mit Jean Paul als einem der Hauptprotagonisten.
„Das war eine tolle Kooperation. Jean-Paul war für uns quasi der Reiseführer in die Vergangenheit. Es scheint eine irgendwie geartete, magische Beziehung zwischen ihm und den Überlebenden von damals zu geben“, betont Roy Villevoye.
Auch der Film befasste sich mit dem Thema der Erinnerungskultur, analysierte sie und kam zu dem Schluss, dass vieles mit dem Hang zur maßlosen Übertreibung überliefert wurde und eine Kombination persönlicher Traumata und poetisch verklärender Elemente vorherrsche, die das historische Verständnis verfälsche.
Die Skulptur „The Searcher“ entstand in nur fünf Monaten intensiver Arbeit
Die Abbildhaftigkeit von „The Searcher“ ist unvergleichlich. Bei der akribischen Detailgenauigkeit ist es kaum zu glauben, dass sie innerhalb von fünf Monaten entstanden ist. Für die Umsetzung seiner Vision arbeitete Roy Villevoye nicht zum ersten Mal mit dem Rotterdamer Künstler Remie Bakker zusammen, der vor allem für seine „Manimal Works“ bekannt ist, in denen er ausgestorbene Lebewesen längst vergangener Epochen wie zum Beispiel Mammuts oder Säbelzahntiger skulptural wiederbelebt.
Sowohl Villevoye als auch Bakker sind detailverliebte Perfektionisten, die aber nicht nur durch die reine Ästhetik ihrer Werke beeindrucken möchten. Stattdessen verfolgt ihre Kunst einen tieferen Sinn. Im Falle von „The Searcher“ soll veranschaulicht werden, welche heute noch spürbaren Auswirkungen ein fatales historisches Ereignis wie der Erste Weltkrieg haben kann und wie Entwicklungen in Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft dadurch beeinflusst werden.
„Holland war im Ersten Weltkrieg ja neutral. Trotzdem hat die Verschiebung der Machtgefüge in ganz Europa natürlich auch Auswirkungen in den Niederlanden gehabt“, so Villevoye. Die Zusammenarbeit mit Remie Bakker ist für ihn die erneute Erfüllung eines Traumes.
Passende, stimmige und dezente Präsentation im Museum am Ostwall
Die Skulptur besteht aus einem Stahlgerüst mit beweglichen Metallgelenken. Darüber liegt ein Acrylbody mit verschiedenen Schichten Polyester. Die finale Schicht, die detailreiche Haut, besteht aus Silikon. Jedes einzelne Haar wurde separat in die Silikonmasse eingearbeitet.
Auch für den Bart wurde zunächst menschliches Haar verarbeitet und anschließend auf die richtige Bartlänge zurückgeschnitten. Eine aufwendige Prozedur, aber nur auf diesem Wege erreichen die Künstler eine derartige Abbildhaftigkeit.
Um das Erlebnis der Begegnung mit Jean Paul so eindrücklich und realistisch wie möglich zu gestalten, verzichtet das Museum am Ostwall bewusst auf eine in Szene gesetzte Präsentation im Spotlight. Stattdessen nähern sich die BesucherInnen Jean Paul von hinten, nehmen ihn als Teil des alltäglichen Museumsbetriebes wahr, bevor sie dann erkennen werden, dass hier ein Kunstwerk vor ihnen steht.
Laut Ron Villevoye ist Jean Paul selber begeistert vom Ergebnis, welches die Künstler ihm bisher nur auf Fotos präsentieren konnten. Sein Reaktion per Messenger: „Wauw!“ Ron Villevoye will mit „The Searcher“ weniger als Künstler auf sich aufmerksam machen als viel mehr eine Identifikation der BesucherInnen mit Jean Paul erreichen. „Wenn alles klappt, bin ich zuversichtlich, dass Jean Paul im Laufe des Jahres selber in Dortmund vorbeikommt und sich „The Searcher“ im Museum am Ostwall anschaut. Das hängt allerdings auch schwer von seiner eigenen Arbeit in seinem eigenen Museum ab“, freut sich der Niederländer.
Die Ausstellung „Fast wie im echten Leben“ ist noch bis zum 31. März 2019 im Museum am Ostwall zu sehen. Auch darüber hinaus wird „The Searcher“ dem Museum natürlich nur in einem anderen Kontext erhalten bleiben. Öffnungszeiten und Eintrittspreise finden die interessierten LeserInnen über den Link zur Homepage des Museums am Ostwall im Anhang des Artikels.
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Peter de Bourgraaf
Zwei Kameraden der protestantischen Grundschule im katholischen Brabant, den Niederlanden. Stundenlang spielten wir an einer stillgelegten Bahnlinie nach Belgien, auch Brabant. Es war mitten im Kalten Krieg . . .
Für Jean-Paul bedurfte es einer Migration nach Nordfrankreich, um sein grenzübergreifendes Lebenswerk aufzubauen. Sein alter Kumpel wurde Historiker, zug nach Ostdeutschland um und veröffentlichte sein Lebenswerk in deutscher Sprache: „Hundert Jahre Urkatastrophe. Der Kolonialvertrag von 1919“, cuvillier.de und cuvillier.nl Unser beider Profile sind zutiefst transeuropäisch. Aus deutscher Sicht könnte keiner aus dem Westen neutralere Ansichten bzw. Thesen vertreten wie diese Jungs aus den damals neutralen Niederlanden. Wir bieten auch in Deutschland Schulen ein interessantes Programm an.